Zitat & Kommentar

#22 07.06.2025
Jörg Baberowski - Die letzte Fahrt des Zaren | Kommentarautor Moritz T.

Die letzte Fahrt des Zaren > Die letzte Fahrt des Zaren_p. 256

Nabokov, der im Auftrag der Provisorischen Regierung die Verzichtserklärung des Grossfürsten formuliert, sieht klarer als andere, was die zweifache Abdankung bedeutet. Sie löst eine fundamentale Staatskrise aus.

Kommentar

Für einen Moment befand sich Vladimir Dmitrievich Nabokov Anfang März 1917 im Zentrum des Hurrikans, der den russischen Zaren-Staat erschütterte und schliesslich zerstörte.
Nabokov, Sohn eines Justizministers (unter Zar Alexander II.), war selbst Jurist und Mitglied der Konstitutionell-Demokratischen Partei Russlands, Parlamentarier der ersten Duma (ab 1906), und Herausgeber einer liberalen Tageszeitung.
Er begrüsste die Februar-Revolution von 1917, und war in verschiedenen Funktionen für die «Provisorische Regierung» tätig, die den Übergang von der zaristischen Autokratie in eine neue Regierungsform zu moderieren versuchte.
Zar Nikolai II. hatte unter dem Druck des Arbeiter- und Soldatenrates, der eine Art Nebenregierung zur Provisorischen Regierung bildete, abgedankt. An wen sollte nun die Macht übergeben werden?
Die vertrackte Lage präsentierte sich juristisch wie folgt:
 Zar Nikolai II. hätte zum einen gar nicht abdanken dürfen, weil das Zarenthronfolgegesetz diese Möglichkeit nicht vorsieht
 Und schon gar nicht hätte zum anderen der Zar seinen Bruder Grossfürst Michail zu seinem Nachfolger bestimmen können, wie der Zar das aus einer emotionalen Regung heraus gemacht hatte, damit er sich nicht von seinem Sohn, dem eigentlich designierten Thronfolger, trennen musste.
 Und jetzt verzichtet zum Dritten auch der Bruder des Zaren unter dem Druck des Arbeiter- und Soldatenrats auf den Thron

Weder für den Zaren noch seinen Bruder standen in dieser Situation rechtliche Überlegungen im Vordergrund. Nabokov, der nun zu Hilfe gerufen wird, realisiert aber sofort, dass aus juristischer Perspektive mit der doppelten Abdankung ein Macht-Vakuum mit unabsehbaren Folgen droht. Er versucht der Deklaration des Grossfürsten, mit deren Redaktion er beauftragt ist, einen Legitimationsanstrich für die Provisorische Regierung der Februar-Revolution zu geben. Denn «die Monarchie ist die einzige Legitimationsquelle der politischen Ordnung und die einzige Klammer, die das Vielvölkerreich zusammenhält», wie es bei Baberowski heisst. Nabokov fügt die Wendung in die Urkunde ein, dass der Grossfürst die gesamte «Fülle der Macht» an die Provisorische Regierung übertrage, und die Bevölkerung zum Gehorsam gegenüber dieser Regierung aufruft. Der aus der Not geborene Zaubertrick wird allerdings vollends zur Farce, als Michail sich weigert, in der Urkunde den Pluralis Majestatis zu verwenden, und am Ende schlicht als Bürger mit seinem Namen unterzeichnet: Hier verzichtet jemand auf die Macht, auf die er ohnehin keinen Anspruch hat und auch nicht erhebt, und leitet dennoch aus diesem Verzicht das Recht ab, die Macht weiterzugeben.
Die Provisorische Regierung hat also keine Rechtsgrundlage. Aber ist angesichts der Realität in den Strassen Petrograds, wo Soldaten Geschäfte plündern und Offiziere demütigen oder einfach ermorden, Nabokovs Legitimations-Versuch nicht ohnehin eine müssige, eher akademische Übung? In der konfusen Lage nach der Februar-Revolution gehört die Macht demjenigen, der sie sich nimmt: Die Bolschewiki kümmerten sich wenig um eine Legitimierung ihres Machtanspruchs, als sie dann im Oktober 1917 ihren Staatsstreich durchführten. Sie beriefen sich auf den unvermeidlichen Gang der Weltgeschichte und deklarierten sich zu ihrem Agenten. Ironie der Geschichte: Diese Art der absoluten Legitimierung entspricht in ihrer Argumentation derjenigen des Zarentums, das seine Herrschaft ursprünglich als gottgegeben deklarierte.
Aber: die Bolschewiki lösten mit ihrer Machtübernahme einen blutigen Bürgerkrieg aus, ein Szenario, das die Mitglieder der Provisorischen Regierung zu vermeiden suchten, genauso wie Nabokov, als er seinen juristischen Kniff anwendete, um der neuen Regierung ein stabileres Fundament und bessere Akzeptanz zu verleihen.

Kleines literaturgeschichtliches P.S.: Eine grosse Affinität zu Zaubertricks, intrikaten Plots und auch Schachrätseln zeichnete später den Sohn Nabokovs aus, den grossen Schriftsteller Vladimir Vladimirovich Nabokov.

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