Die Schmetterlingsjagd und verschiedene Sportarten nahmen die sonnigen Stunden in Anspruch, aber alle körperlichen Anstrengungen konnten die Unruhe nicht verhindern, die mich Abend für Abend auf vage Entdeckungsreisen gehen liess. Wenn ich den grössten Teil des Nachmittags im Pferdesattel verbracht hatte, war es ein seltsam beschwingtes, fast körperloses Gefühl, in der farbigen Abenddämmerung mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Ich hatte die Lenkstange meines Enfield-Rades umgedreht und so verstellt, dass sie tiefer als der Sattel lag, und es entsprach nunmehr meiner Vorstellung von einem Rennmodell. So gondelte ich über die Parkwege den gemusterten Spuren nach, die die Dunlop-Reifen am Vortag eingedrückt hatten; kunstgerecht vermied ich die Grate der Baumwurzeln; ein loser Zweig wurde angepeilt, und zersprang knackend unter meinem sensiblen Vorderrad; ich schlängelte mich zwischen zwei flachen Blättern und zwischen einem kleinen Stein und dem Loch hindurch, aus dem er am Vorabend herausgerissen worden war; ich genoss die kurze Ebenheit einer Brücke über einen Bach; ich fuhr am Drahtzaun entlang um den Tennisplatz herum; stiess mit der Radschnauze das kleine weissgetünchte Tor am Ende des Parkes auf; und radelte im melancholischen Genuss meiner Freiheit über die ausgetrockneten, angenehm zusammengebackenen Seitenstreifen langer Feldwege.
Kommentar
Sobald sich ein Radfahrer abseits asphaltierter Strassen bewegt, nimmt ihn die Beschaffenheit des Weges in Anspruch. Der junge Vladimir Nabokov sucht auf wechselnder Unterlage den Pfad des geringsten Widerstands, zum einen, zum anderen aber nimmt er Blätter oder Äste zum Anlass für kleine Radspiele. Er bewegt sich entlang der Reifen-Spuren des Vorabends; in gewissem Sinn dreht er sich im Kreis. Die hellen Tagesstunden, die der sportliche Teenager in gewohnter Weise nutzt, sind den Abendstunden gewichen, in denen er einer dunklen Ahnung nachfährt, dass das Leben noch etwas ganz anderes bereithält, unerhört anziehend. Die Unruhe wird ihn in Kürze dazu führen, eine neue Tür zu öffnen und gewohntes Terrain zu verlassen, so wie er jetzt mit dem Vorderrad das Tor am Ende des Parks aufstösst.
Der Park gehört zum Landgut Wyra, südlich von St. Petersburg gelegen, wohin die Familie Nabokov mit Dienstboten und Privat-Lehrern jeden Sommer zieht. Hier hat Vladimir einen Teil seiner glücklichen Kindheit verlebt, deren dramatisches Ende sich am Horizont abzuzeichnen beginnt – der 1. Weltkrieg und die russische Revolution werden dem feudalen Leben der Nabokovs ein dramatisches Ende bereiten.
Noch aber geniesst Vladimir die Privilegien eines jungen Adligen. Er hat ein Auge geworfen auf Polenka, die Tochter eines Kutschers der Nabokovs. Er nähert sich ihr mit dem Fahrrad und registriert die Veränderung ihrer Mine genauso aufmerksam, wie die Struktur des Weges zuvor. Zwar spricht er kein Wort mit ihr, aber der Flirt ergreift ihn heftig: jetzt hat seine Unruhe ein Ziel. Es ist das Vorspiel zum späteren Kapitel der Autobiographie, das Nabokov seiner Jugendliebe «Tamara» widmet.
Bereits in jener Zeit interessiert sich Vladimir für die Dichtkunst. Früh stand ein wichtiges Prinzip seiner Poetologie fest: „Doch wenigstens entdeckte ich, dass ein Mensch, der Dichter werden will, die Fähigkeit besitzen muss, gleichzeitig an verschiedene Dinge zu denken.“ (p. 294). Und dann auch die Fähigkeit, diese Vielschichtigkeit dem Leser zu vermitteln, möchte man ergänzen. Darin wurde der Schriftsteller Nabokov ein Virtuose. Er führt uns dieses Prinzip in der Fahrrad-Szene exemplarisch vor: wie anschaulich die Details der Tour beschrieben sind, und wie sie sich aber zugleich als Zeichen des bevorstehenden Aufbruchs lesen lassen; der junge Held hat sich mit dem «Rennmodell» dafür gerüstet.