Ein gerade mal 23-jähriger zieht 1964 im Song «It’s alright, Ma (I am only bleeding)» eine moralische Lebens-Bilanz. Sein Protagonist ist in jugendlicher Arroganz nicht übermässig beeindruckt von dem, was er vorfindet an Vorschriften und Weisheiten, er findet nichts, an dem er sich orientieren könnte: «I got nothing, Ma, to live up!»
In einem Sprech-Gesang, man könnte auch sagen: in vorweggenommenem Rap-Stil fegt Bob Dylan über sieben Minuten lang durch ein für damalige Popverhältnisse geradezu unfassbar dicht gewobenes, nicht immer leicht entschlüsselbares Textfeld, in dem er sich auch in den Live-Auftritten nicht verheddert, sondern mit eigenwilliger Phrasierung und bestechendem Timing glänzt. Zur Erinnerung: Die Beatles brachten im selben Jahr 1964 etwa das mitreissende «A Hard Day’s Night» heraus, das sich noch eng an die damals gültigen Songtext-Konventionen hält (s. Youtube links unten).
Mit einigen der Songzeilen bereichert Dylan dauerhaft den amerikanisch-englischen Zitatenschatz, etwa mit «he not busy being born is busy dying», «But even the president of the United States / Sometimes must have to stand naked», oder «money doesn’t talk, it swears». Er hatte sich bereits in noch jüngeren Jahren mit protest songs den Status einer Ikone der Folk-Szene erspielt. Zwar gibt es auch in «It’s alright, Ma» gesellschaftskritische Momente, die sich mit dem (Vietnam-)Krieg oder der Werbe-Industrie auseinandersetzen. Aber der Fokus ist zunehmend auf das innere Erleben gerichtet, auf den Umgang mit nicht aufzulösenden Widersprüchen, mit Desillusionierung und fehlenden Antworten. Der Optimismus von «The Times They Are A-Changin’» ist abhandengekommen, ebenso das klare Feindbild von «Masters of War».
Auch wenn die Bilanz wenig erfreulich ausfällt, versichert der Refrain immer wieder, dass «es» schon «in Ordnung sei», gefolgt von einer reflektierenden Einschränkung («I am only sighing») oder Bestärkung («I can make it») als Überleitung in die nächste Strophe.
In der letzten Strophe spitzt der Protagonist die Widersprüchlichkeiten zu, mit denen er und wir alle uns herumschlagen müssen:
«And if my thought-dreams could be seen / They’d probably put my head in a guillotine / But it’s alright, Ma, it’s life, and life only»
«Wenn mein Gedankenträume sichtbar wären / würden sie wahrscheinlich meinen Kopf in eine Guillotine stecken/ Aber das ist in Ordnung, Ma / es ist das Leben und nur das Leben»
Der Song schliesst mit einer an sich banalen, redundanten Zeile, die Dylan aber über die zurückgelegten Strophen mit so viel Bedeutung aufgeladen hat, dass dieses «It’s life, and life only» uns mit einer unerhörten, allen Widrigkeiten zum Trotz lebensbejahenden Dynamik aus dem Song entlässt – ins «Leben».
Demonstriert uns der 23 Jahre junge Mann hier, was der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl (1904-1980) einst in seinen «Notizen» (1944) «unvoreilige Versöhnung» genannt hatte?
Kommentar
Ein gerade mal 23-jähriger zieht 1964 im Song «It’s alright, Ma (I am only bleeding)» eine moralische Lebens-Bilanz. Sein Protagonist ist in jugendlicher Arroganz nicht übermässig beeindruckt von dem, was er vorfindet an Vorschriften und Weisheiten, er findet nichts, an dem er sich orientieren könnte: «I got nothing, Ma, to live up!»
In einem Sprech-Gesang, man könnte auch sagen: in vorweggenommenem Rap-Stil fegt Bob Dylan über sieben Minuten lang durch ein für damalige Popverhältnisse geradezu unfassbar dicht gewobenes, nicht immer leicht entschlüsselbares Textfeld, in dem er sich auch in den Live-Auftritten nicht verheddert, sondern mit eigenwilliger Phrasierung und bestechendem Timing glänzt. Zur Erinnerung: Die Beatles brachten im selben Jahr 1964 etwa das mitreissende «A Hard Day’s Night» heraus, das sich noch eng an die damals gültigen Songtext-Konventionen hält (s. Youtube links unten).
Mit einigen der Songzeilen bereichert Dylan dauerhaft den amerikanisch-englischen Zitatenschatz, etwa mit «he not busy being born is busy dying», «But even the president of the United States / Sometimes must have to stand naked», oder «money doesn’t talk, it swears». Er hatte sich bereits in noch jüngeren Jahren mit protest songs den Status einer Ikone der Folk-Szene erspielt. Zwar gibt es auch in «It’s alright, Ma» gesellschaftskritische Momente, die sich mit dem (Vietnam-)Krieg oder der Werbe-Industrie auseinandersetzen. Aber der Fokus ist zunehmend auf das innere Erleben gerichtet, auf den Umgang mit nicht aufzulösenden Widersprüchen, mit Desillusionierung und fehlenden Antworten. Der Optimismus von «The Times They Are A-Changin’» ist abhandengekommen, ebenso das klare Feindbild von «Masters of War».
Auch wenn die Bilanz wenig erfreulich ausfällt, versichert der Refrain immer wieder, dass «es» schon «in Ordnung sei», gefolgt von einer reflektierenden Einschränkung («I am only sighing») oder Bestärkung («I can make it») als Überleitung in die nächste Strophe.
In der letzten Strophe spitzt der Protagonist die Widersprüchlichkeiten zu, mit denen er und wir alle uns herumschlagen müssen:
«And if my thought-dreams could be seen / They’d probably put my head in a guillotine / But it’s alright, Ma, it’s life, and life only»
«Wenn mein Gedankenträume sichtbar wären / würden sie wahrscheinlich meinen Kopf in eine Guillotine stecken/ Aber das ist in Ordnung, Ma / es ist das Leben und nur das Leben»
Der Song schliesst mit einer an sich banalen, redundanten Zeile, die Dylan aber über die zurückgelegten Strophen mit so viel Bedeutung aufgeladen hat, dass dieses «It’s life, and life only» uns mit einer unerhörten, allen Widrigkeiten zum Trotz lebensbejahenden Dynamik aus dem Song entlässt – ins «Leben».
Demonstriert uns der 23 Jahre junge Mann hier, was der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl (1904-1980) einst in seinen «Notizen» (1944) «unvoreilige Versöhnung» genannt hatte?
Bob Dylan: It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding) (live, mit Songtext)
https://www.youtube.com/watch?v=JBNWkCsmqAY
Sophie Hungers engagierte Coverversion
https://www.youtube.com/watch?v=JyEhLRaK3B4
Beatles: A Hard Day’s Night (live, mit Songtext)
https://www.youtube.com/watch?v=Yjyj8qnqkYI