Zitat & Kommentar

#7 27.04.2024
Leo N. Tolstoi - Tagebücher 1847 – 1910 | Kommentarautor Moritz T.

Tagebücher 1847 – 1910 > Tagebücher_Zitat p. 901

Ich bin selten einem Menschen begegnet, der mehr mit allen Lastern behaftet war als ich: mit Wollust, Eigennutz, Bosheit, Eitelkeit und vor allem Eigenliebe. Ich danke Gott dafür, dass ich dies weiss, dass ich all diese Niederträchtigkeiten in mir erkannt habe und immerhin gegen sie ankämpfe.

Kommentar

Der späte Tolstoi ist ein Musterbeispiel von Altersradikalität. Er wendet sich gegen den Staat, gegen die Kirche, gegen die Wissenschaft (der er – im Jahr 1910 notabene – unterstellt, im Propaganda-Dienst der Regierung zu stehen). Er hegt Sympathien für Anarchismus und Pazifismus. Er möchte sein Werk für alle frei zugänglich machen, und gerät darüber in einen langwierigen Streit mit seiner Ehefrau, der kurz vor seinem Tod eskaliert – nachzuverfolgen in den «Tagebüchern 1847 – 1910».

Er nimmt als 70- oder 80-jähriger am politischen Tagesgeschehen teil, empfängt eine endlose Reihe von Bittstellern und Verehrern (und reflektiert die Begegnungen selbstkritisch), er interveniert mit seinen Schriften, verfolgt seine Prosaprojekte, seine Lektüre-Palette reicht von Konfuzius bis zu Tschechow, er erhält und schreibt zahllose Briefe – und ermutigt beispielsweise Mahatma Gandhi in seinem gewaltfreien Widerstand gegen die britischen Kolonialisten.

In seinen späten Tagebüchern dominiert aber vor allem eine unnachgiebige Selbstbefragung, die manchmal in eine Selbstanklage mündet, wie in unserem Zitat. Tolstoi versucht den Geboten eines eigenwilligen christlichen Altruismus und Asketismus zu folgen; paradoxerweise steht ihm aber gerade sein starker Wille, seine Vitalität, sein Temperament im Weg. Und wenn er hier seine Untugenden über alle Massen hervorhebt: ist das nicht auch wieder eine versteckte Form der Eitelkeit?

Tolstois Tagebücher geben Zeugnis von einer hartnäckigen, bis ins hohe Alter um Erkenntnis ringenden intellektuellen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt.

 

 

 

 

 

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