Bei einem Waldspaziergang (immer noch mit Knieproblemen) kommt der respektlose Gedanke, die Nadelbäume, die Fichten vor allem, seien eigentlich strohdumme Gewächse, ja seien in Wahrheit übergeschnappte Gräser, die sich zu hybriden Wiesen zusammenrotten. Diese werden von leichtgläubigen Wanderern für Wälder gehalten.
Kommentar
Peter Sloterdijk in Sils Maria
Nicht alle, die in Silser Höhenluft durch die Lärchenwälder streifen, werden von weltbewegend-erhabenen Gedanken heimgesucht. Dem kaum verkappten Nietzscheaner Peter Sloterdijk würde man das zwar zutrauen, doch es plagen ihn Knie- und andere Probleme. Die Fahrt nach Sils hat sehr lange gedauert; der Rezeptionist ist aber eher stolz auf die Abgelegenheit des Hotels Waldhaus, als dass er Mitgefühl mit dem gebeutelten Reisenden hat, der dann zu allem Überfluss auch noch ungefragt an einen Gemeinschaftstisch platziert wird, an dem die Redebeiträge offenbar nicht das gewohnte Niveau des besonderen Gastes erreichen: Sloterdijk fühlt sich wie an einem «Jahresempfang der lederverarbeitenden Industrie». Zwar bessert sich die Laune zunächst nach dem Rückzug in ein sehr schönes Turmzimmer; aber das 5-Sterne-Hotel hinkt dem «Komfort nach zeitgemässen Massstäben» hinten nach. Sloterdijk vermutet, dass die handzahmen Gäste nicht ganz unschuldig sind am nicht neuen Missstand, allen voran Stammgast Adorno, der seine ansonsten sehr ausgeprägte Kritikfähigkeit offenbar in der «Frankfurter Senke» zurückgelassen hat, wenn er Jahr für Jahr in die Oberengadiner Höhe pilgerte.
Unglückliche Koinzidenz, dass der FC Basel seine Spieler zur selben Zeit im Waldhaus unterbringt — das Hotel ist vollkommen ausgebucht. Der Philosoph kann den «semi-depressiven Proleten» wenig abgewinnen. Sloterdijk, ja seinerseits prominent, scheint jedenfalls weit davon entfernt zu sein, mit den Fussballern Autogramm-Karten tauschen zu wollen. Er versteigt sich gar zu einer wenig freundlichen, und wie hier festgehalten werden muss, unmassgeblichen Meinung über die Qualität des «Basler Fussballs».
Wenig wundert es also, dass er, einmal dem Waldhaus entronnen, sich auch in der schönen Umgebung eher leicht paranoiden Gedanken hingibt. Es spricht sehr für die Spannkraft der Sloterdijkschen Phantasie , in deren Genuss der Tagebuch-Leser immer wieder kommt, dass er in den Lärchenbäumen verkappte, strohdumme und übergeschnappte Gräser erkennt, die sich als Fichten verkleidet haben.