08.11.2024.
#22
Der vorige Sommer und der Sommer davor
Peter Kurzeck ist ein Schriftsteller, der die kleinen Dinge des Alltags zum Leuchten bringt. Wenn der Ich-Erzähler unterwegs ist, dann will er alles aufzeichnen. Die Intensität seiner Wahrnehmung lassen auch grau-triste Frankfurter Ausfallstrassen interessant erscheinen, oder den Schulweg der Tochter. «Der vorige Sommer und der Sommer davor» beschreibt den Frankfurter Alltag und den Urlaub in Südfrankreich, den der angehende, erfolglose Schriftsteller mit seiner kleinen Familie verbringt, die später auseinanderbricht. Umso intensiver sind die Erinnerungen an diese Sommer. Das Buch ist Teil des grossen autobiographischen Romanzyklus’ «Das alte Jahrhundert», der in der in der neuen Lesegruppe Peter Kurzeck : Lesart blog Band für Band diskutiert wird. ********* «Zitat & Kommentar» #14 zeigt an einem Beispiel, wie Peter Kurzeck einen unscheinbaren Moment in seiner Prosa bannt.
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25.10.2024.
#21
Long Island
Eine Frau, verheiratet, zwei Kinder im Jugendalter, ein geregeltes Leben in einer amerikanischen Kleinstadt nahe New York, gerät unversehens in einen emotionalen Tsunami, der ihr Leben auf den Kopf stellt, sie in ihre irische Heimat zurückführt und unerledigte Dinge aus ihrer Vergangenheit an die Oberfläche spült. Der neueste Roman „Long Island“ von Colm Tóibín ist ein grandioser Streifzug durch die Untiefen und Verstrickungen der menschlichen Psyche.
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12.10.2024.
#20
Aare
Der Fährmann bringt seine Fahrgäste über den Fluss. Man sitzt für einige Augenblicke im selben Boot. Gelegenheit für ein kurzes Gespräch, oder einfach innezuhalten. Die Aare fliesst unaufhörlich unter der Fähre, in stetig wechselndem Grün oder auch mal «milchkaffeefarbig». Daniel Glauser stellt in seinem Logbuch psychologische, naturkundliche oder statistische Betrachtungen an, und lockt den Leser immer weiter hinein in den reichhaltigen Fährima-Kosmos. Lesen Sie mehr dazu im aktuellen «Buch im Fokus».
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29.09.2024.
#19
Wellness
Stilistische Brillanz, aktuelle Themen mit Tiefgang, mitreissend geschrieben: was will man mehr von einem Roman? Der Autor Nathan Hill schildert in «Wellness» den Weg des Paares Elizabeth und Jack von den Glücksmomenten des Kennenlernens zu einer umfassenden midlife crisis Jahrzehnte später. Lesen Sie in «Buch im Fokus» mehr zu diesem vielschichtigen Roman, einem Kandidaten für «The Next Great American Novel».
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15.09.2024.
#18
Zauber der Stille
«Mönch am Meer», «Kreidefelsen auf Rügen» oder «Das Eismeer» sind Gemälde, die tief im kollektiven Bildgedächtnis verankert sind. Heute kaum mehr vorstellbar, dass Caspar David Friedrich und seine Kunst um 1900 so gut wie vergessen waren. Florian Illies’ «Zauber der Stille» erzählt von der Wiederentdeckung des grossen Romantikers, er folgt dem Weg einzelner Gemälde durch die Zeit, und berichtet von der zunehmenden Resonanz im 20. Jahrhundert. Das wächst sich aus zu einer kleinen Rezeptionsgeschichte, die mit leichter Hand erzählt wird, hübsch mit Anekdoten und Prominenten-Zitaten angereichert. Aber Illies schildert auch das Leben Friedrichs, wie er sich seinen Weg als Künstler bahnt und relativ spät eine Familie gründet. Sachte deutet er die Gemälde auch im biographischen Kontext, ohne damit jedoch den Zauber erklären zu wollen, der von ihnen ausgeht. ***************************************************************************************************************************************************************************** Fichten spielen in einigen Gemälden von Caspar David Friedrich eine wichtige Rolle; um Fichten geht es auch in Zitat & Kommentar #13, allerdings springt Peter Sloterdijk wenig ehrerbietig mit ihnen um. Ein Aufenthalt in Sils Maria im Jahr 2008 gab dem Philosophen auch Anlass zu allerlei anderen Notizen in seinem unterhaltsamen Tagebuch «Zeilen und Tage»: Adorno, die lederverarbeitende Industrie und der FC Basel haben dort ebenfalls ihre Auftritte. *********************************************************** Übrigens: wir...
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01.09.2024.
#17
Das sowjetische Jahrhundert
Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine mit Krieg überzogen hat, ist sehr viel geschrieben worden über die russische Kultur und Mentalität, und wie sich die russischen von den westlichen Werten unterscheiden. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, inwieweit die Jahrzehnte der Sowjet-Herrschaft auch das heutige Russland mit-bestimmen. Karl Schlögel hat mit «Das sowjetische Jahrhundert» eine Studie publiziert, die viele Bereiche des Gesellschaftslebens mit einem erfrischend innovativen Ansatz zugänglich macht. Er zeigt sehr anschaulich, wie sich das Leben im Kommunismus gestaltet hat, und wie umfassend der Sowjet-Staat die Menschen geprägt hat. Der Leser versteht nach der Lektüre besser, warum die sowjetische Erfahrung auch im Russland des 21. Jahrhunderts so präsent ist. Vor allem aber wird vor seinen Augen ein äusserst vielschichtiges Panorama einer Epoche entfaltet. «Das sowjetische Jahrhundert» ist ein herausragendes historisches Werk.
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19.08.2024.
#16
Toteninsel
Dies ist eine Einladung, Gerhard Meier zu lesen. Ein Schweizer Dorf am Jura-Südfuss steht im Zentrum der Tetralogie «Baur und Bindschädler». Anders als etwa Gottfried Keller oder Friedrich Dürrenmatt nimmt Meier das Schweizer Provinzleben nicht aus ironischer oder zynischer Perspektive aufs Korn. Meier beschreibt das Leben und Sterben in Amrain (alias Niederbipp) mit intensiver Zugewandtheit. Das Dorf ist für ihn der Kosmos, aus dem der Blick in ferne Länder oder Zeiten geht, und in dem Literatur und Kunst präsent sind und mit den lokalen Ereignissen verwoben werden. Ist Gerhard Meier ein Heimatschriftsteller? Ja, aber einer, der genau hinsieht, die Beschaulichkeit im Dorf ebenso schildert wie Tod oder Wahnsinn und also in der Heimeligkeit auch das Heimliche und Unheimliche aufspürt. – Wir starten die Lektüre mit dem ersten Band der Tetralogie, mit «Toteninsel», nach und nach werden in der neu eingerichteten Lese-Gruppe Gerhard Meier : Lesart blog auch die anderen Bände diskutiert. ********** Für Gerhard Meier war Robert Walser einer der wichtigsten Schriftsteller; eine Zeile aus einem frühen Gedicht Walsers, das sich schon um die vorletzte Jahrhundertwende mit dem Los des Büroangestellten beschäftigte, ist Ausgangspunkt von «Zitat & Kommentar» #12.
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02.08.2024.
#15
Die Ladenhüterin
Sayaka Muarata gibt aus einer Aussenseiter-Position sehr interessante Einblicke in die japanische Gesellschaft. Von Januar bis Juli 2024 war die Schriftstellerin writer in residence in Zürich. Sie hat in der NZZ einen bemerkenswerten Bericht über diese Zeit publiziert, s. hier: Sakaya Murata in Zürich – hier gelingt ihr, was sie in Tokio kaum schafft (nzz.ch). Wir stellen heute Muratas Roman «Die Ladenhüterin» vor, mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang. Wir bleiben mit Zitat & Kommentar #11 in Japan, wechseln aber die Perspektive und machen uns Gedanken zu einem Satz des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, mit dem er seine Bewunderung für den Inselstaat zum Ausdruck bringt.
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21.07.2024.
#14
Prophet Song
Über viele Jahrzehnte erschien Westeuropa unter mancherlei Aspekten wie eine Insel der Seligen. Friede, Wohlstand, demokratische Teilnahme, funktionierender Rechtsstaat, freie Presse; Glaube an Kontinuität und Fortschritt. Disruptionen gab es anderswo. Die Gewissheiten sind in den vergangenen Jahren teilweise ins Wanken geraten. In Paul Lynchs «Prophet Song» sind sie eingestürzt, und es fällt schwer, den faschistischen irischen Staat des Romans als fernes Zukunftsszenario abzutun. Wir erkennen in Eilish, der wichtigsten Figur der Erzählung, eine Zeitgenossin, deren Familie angesichts der politischen Verwerfungen in lebensbedrohliche Bedrängnis gerät und die sich am Ende zu einem radikalen Schritt durchringt. – Lynchs «Prophet Song» ist 2023 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet worden. Bei Klett-Cotta ist soeben die deutsche Übersetzung erschienen.
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07.07.2024.
#13
Alte Meister
Hinweis in eigener Sache: Ganz unten auf der Startseite von lesart.blog findet sich neu eine Anleitung Lesart.blog_Manual_Juli-2024.pdf, wie registrierte Nutzer:innen lesart.blog aktiv nutzen können. Wir freuen uns über jede Besprechung und jeden Kommentar! Wunsch, ein Buch auf lesart.blog zu besprechen oder eine eigene Lesart-Gruppe zu starten? Bitte Email an info@lesart.blog.********** Jetzt aber zum neuen Buch im Fokus: Seine Tiraden und Beschimpfungen haben den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard über viele Jahre zu einem Favoriten des Feuilletons gemacht. Allmählich ist es aber etwas ruhiger geworden um den grossen Grantler, der Pulverdampf hat sich verzogen. Wir besichtigen heute Bernhards spätes Prosawerk «Alte Meister», eine immer noch lohnenswerte Lektüre, wie sich zeigt.********** Und auch in Zitat & Kommentar #10 geht es um Thomas Bernhard, und um die «Frage des Augenblicks».
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