19.08.2024.
#16
Toteninsel
Dies ist eine Einladung, Gerhard Meier zu lesen. Ein Schweizer Dorf am Jura-Südfuss steht im Zentrum der Tetralogie «Baur und Bindschädler». Anders als etwa Gottfried Keller oder Friedrich Dürrenmatt nimmt Meier das Schweizer Provinzleben nicht aus ironischer oder zynischer Perspektive aufs Korn. Meier beschreibt das Leben und Sterben in Amrain (alias Niederbipp) mit intensiver Zugewandtheit. Das Dorf ist für ihn der Kosmos, aus dem der Blick in ferne Länder oder Zeiten geht, und in dem Literatur und Kunst präsent sind und mit den lokalen Ereignissen verwoben werden. Ist Gerhard Meier ein Heimatschriftsteller? Ja, aber einer, der genau hinsieht, die Beschaulichkeit im Dorf ebenso schildert wie Tod oder Wahnsinn und also in der Heimeligkeit auch das Heimliche und Unheimliche aufspürt. – Wir starten die Lektüre mit dem ersten Band der Tetralogie, mit «Toteninsel», nach und nach werden in der neu eingerichteten Lese-Gruppe Gerhard Meier : Lesart blog auch die anderen Bände diskutiert. ********** Für Gerhard Meier war Robert Walser einer der wichtigsten Schriftsteller; eine Zeile aus einem frühen Gedicht Walsers, das sich schon um die vorletzte Jahrhundertwende mit dem Los des Büroangestellten beschäftigte, ist Ausgangspunkt von «Zitat & Kommentar» #12.
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02.08.2024.
#15
Die Ladenhüterin
Sayaka Muarata gibt aus einer Aussenseiter-Position sehr interessante Einblicke in die japanische Gesellschaft. Von Januar bis Juli 2024 war die Schriftstellerin writer in residence in Zürich. Sie hat in der NZZ einen bemerkenswerten Bericht über diese Zeit publiziert, s. hier: Sakaya Murata in Zürich – hier gelingt ihr, was sie in Tokio kaum schafft (nzz.ch). Wir stellen heute Muratas Roman «Die Ladenhüterin» vor, mit dem ihr der internationale Durchbruch gelang. Wir bleiben mit Zitat & Kommentar #11 in Japan, wechseln aber die Perspektive und machen uns Gedanken zu einem Satz des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, mit dem er seine Bewunderung für den Inselstaat zum Ausdruck bringt.
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21.07.2024.
#14
Prophet Song
Über viele Jahrzehnte erschien Westeuropa unter mancherlei Aspekten wie eine Insel der Seligen. Friede, Wohlstand, demokratische Teilnahme, funktionierender Rechtsstaat, freie Presse; Glaube an Kontinuität und Fortschritt. Disruptionen gab es anderswo. Die Gewissheiten sind in den vergangenen Jahren teilweise ins Wanken geraten. In Paul Lynchs «Prophet Song» sind sie eingestürzt, und es fällt schwer, den faschistischen irischen Staat des Romans als fernes Zukunftsszenario abzutun. Wir erkennen in Eilish, der wichtigsten Figur der Erzählung, eine Zeitgenossin, deren Familie angesichts der politischen Verwerfungen in lebensbedrohliche Bedrängnis gerät und die sich am Ende zu einem radikalen Schritt durchringt. – Lynchs «Prophet Song» ist 2023 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet worden. Bei Klett-Cotta ist soeben die deutsche Übersetzung erschienen.
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07.07.2024.
#13
Alte Meister
Hinweis in eigener Sache: Ganz unten auf der Startseite von lesart.blog findet sich neu eine Anleitung Lesart.blog_Manual_Juli-2024.pdf, wie registrierte Nutzer:innen lesart.blog aktiv nutzen können. Wir freuen uns über jede Besprechung und jeden Kommentar! Wunsch, ein Buch auf lesart.blog zu besprechen oder eine eigene Lesart-Gruppe zu starten? Bitte Email an info@lesart.blog.********** Jetzt aber zum neuen Buch im Fokus: Seine Tiraden und Beschimpfungen haben den österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard über viele Jahre zu einem Favoriten des Feuilletons gemacht. Allmählich ist es aber etwas ruhiger geworden um den grossen Grantler, der Pulverdampf hat sich verzogen. Wir besichtigen heute Bernhards spätes Prosawerk «Alte Meister», eine immer noch lohnenswerte Lektüre, wie sich zeigt.********** Und auch in Zitat & Kommentar #10 geht es um Thomas Bernhard, und um die «Frage des Augenblicks».
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15.06.2024.
#12
Im Menschen muss alles herrlich sein
«Im Menschen muss alles herrlich sein» ist ein Roman über Mütter und Töchter und gibt tiefe Einblicke in die (post-)sowjetische sowie in die bundesdeutsche Gesellschaft. Sasha Marianna Salzmann porträtiert mit grossem Einfühlungs- und Sprachvermögen vier Frauen, die den Zeitläufen ausgeliefert sind und um Orientierung und Selbstbestimmung ringen. Über weite Strecken spielt das Geschehen in der heutigen Ostukraine, verschiebt sich dann – nach der Emigration der Protagonistinnen – nach Jena und Berlin. Die gewaltvolle Beziehung des Kremls gegenüber der Ukraine wird immer wieder mal thematisiert, und vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges liest man die entsprechenden Passagen sehr hellhörig. Doch die Vielschichtigkeit der Erzählung eröffnet viele weitere Gedankenräume. *************** In Zitat & Kommentar #9 geht es um „Nebensachen“ und einen sehr kurzen Satz von Elias Canetti.
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24.05.2024.
#11
Erinnerungen an ferne Berge
Der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat früh in seiner Karriere einen wichtigen, schmerzlichen Entscheid getroffen: er hat zugunsten des Schreibens auf die Malerei verzichtet. Aber ganz unterdrücken liess sich der Impuls zu malen nie, vielleicht kommt er auch im obsessiven Fotografieren Pamuks zum Ausdruck. Im Skizzen-Tagebuch «Erinnerungen an ferne Berge» kombiniert er nun Bild und Wort aufs schönste. ******** – Auch Zitat & Kommentar #8 beschäftigt sich mit einem Nobelpreisträger: Wir stellen an seinem 83. Geburtstag die Frage, was Bob Dylans Song-Helden zu immer neuen Aufbrüchen treibt.
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27.04.2024.
#10
Grenzfahrt
In «Grenzfahrt» evoziert Andrzej Stasiuk in dichter Prosa eine ostpolnische Flusslandschaft, die vom Grauen des (2. Welt-) Krieges beherrscht wird. Aufgerieben zwischen der deutschen und russischen Front die Polen, die sich unter der Besatzung zu organisieren versuchen. Stasiuk erzählt kleine, berührende, oft aber auch brutale Episoden. Im Hintergrund werden existenzielle Fragen verhandelt: Was macht der Krieg mit den Menschen? Wo findet man Orientierung, wenn die althergebrachte Ordnung zusammenbricht? Zitat & Kommentar #7 zeigt, wie der grosse Romanschriftsteller Leo Tolstoi im Alter mit der Welt und mit sich ins Gericht geht, und darüber aber nie seinen Wissensdurst und seine Neugierde verliert.
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08.04.2024.
#9
Lektionen
Immer wieder reflektiert der britische Autor Ian McEwan in seinen Romanen Themen, die die Gesellschaft gerade beschäftigen. Ausgangspunkt der 2022 erschienenen «Lektionen» ist ein sexueller Missbrauch, den Roland Baines als Schüler in den frühen 1960er Jahren erleidet. Inwieweit prägt die Erfahrung das krisenanfällige (Liebes-) Leben des Helden? Zentrale Frage im Hintergrund dieses vielschichtigen Romans, der entlang der Biographie Baines’ auch einige markante zeithistorische Ereignisse verhandelt. – Zitat & Kommentar #6 gibt einen kleinen Einblick in den umfangreichen Briefwechsel Sigmund Freuds mit seiner Braut Martha Bernays.
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24.03.2024.
#8
Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen
Die Kabbala, das «Überlieferte», ist eine ursprünglich zutiefst esoterische Spielart der jüdischen Mystik; heute gibt es interaktive Webinare wie Tikkune Healing Workshop: Being Present (kabbalah.com), in dem jedermann mehr erfahren kann über den Heilungsprozess des Tikkun, um seine «Negativität zu überwinden» und «seine Seelenidentität zu erkennen». Veranstalter des Kurses ist das Kabbalah Center https://www.kabbalah.com/de/ , das in Popstar Madonna eine prominente Anhängerin hat. Was hätte wohl Gershom Scholem zu solchen Angeboten gesagt? Er hat die Geschichte der jüdischen Mystik als erster einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen und sie als wichtiges, integrales Element des jüdischen Glaubens etabliert. Wir stellen heute, an Purim (Purim – Wikipedia), einem jüdischen Festtag der Freude, «Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen» vor, worin Scholem wissenschaftlichen Anspruch mit didaktischem Geschick verbindet; auch für den Laien ist die Lektüre ein Gewinn.
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09.03.2024.
#7
Das ist Alise
2023 erhielt der Norweger Jon Fosse den Literatur-Nobelpreis. In seiner Nobel Prize Lecture https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2023/fosse/lecture/ skizziert er, was Schreiben für ihn bedeutet: zu hören. Und der Stille Ausdruck zu geben. “And what do you hear then, if you listen closely enough? You hear the silence.” Sein eigenwilliger, auf den einfachen Ausdruck bedachter Prosastil ist unspektakulär, aber von grosser Dringlichkeit und existenziellem Ernst. Aus dem umfangreichen Werk Fosses stellen wir heute die Novelle «Das ist Alise» vor. In Zitat & Kommentar #4 geht es ums Zaubern bei Ludwig Hohl.
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