Das Lied der Zelle
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Besprechung
Moritz T.
«(…) erleben wir einen Übergang vom Jahrhundert des Gens zu einem (…) Jahrhundert der Zelle.»
Muss es immer gleich ein „Jahrhundert des“ sein?
«In einem eng gefassten Sinn ist (die Zelle) eine selbständig lebende Einheit, die als Decodierungsapparat für ein Gen tätig wird.»
Selbständig, aber programmiert.
Teil I: Entdeckung
Geschichte der Entdeckung der Zellen: flüssig erzählt, vielleicht etwas lang? Es ist auch eine Erzählung der Heroen der Wissenschaft, die in einem zähen Prozess über Jahrhunderte die Zelle als elementaren Bauteil des Lebens identifizierten, angefangen im 17. Jahrhundert bei Leeuvenhoek, dann: Raspail, Pasteur, Robert Koch, der verkannte Semmelweis, der die Wichtigkeit der Hygiene in einer Geburtsklinik erkannte etc. Über allen scheint bei Mukherjee aber Rudolf Virchow zu stehen, mit seinen bahnbrechenden Lehrsätzen:
- Alle Zellen entstehen aus anderen Zellen.
- Die normale Physiologie ist die Funktion der zellulären Physiologie.
- Krankheit, die Störung der Physiologie, ist die Folge einer gestörten Physiologie der Zelle. (p. 94)
«An einem eisigen Novembertag sass ich spätabends in Boston an meinem Schreibtisch.»
Der Autor bemüht sich um Kolorit. Die Mutter des rätselhaften Patienten sass mit roten Augen schweigend am Bett; der Vater stapfte durch den Schnee, um dem Sohn die Lieblingsmahlzeit zu besorgen etc. – Das Nachdenken des Autors und die Orientierung an den Leitgedanken Virchows (der vor 120 Jahren starb) führen zum richtigen Ansatz: die Krankheit zeigt sich in den Zellen (andere Symptome sind vielleicht nur Reaktionen auf diese Krankheit).
«(…) das bahnbrechende Buch «Winzige Gefährten» des Wissenschaftsautors Ed Yong.»
2016 im Original erschienen (mit dem passenden Titel „I contain multitudes“), immer noch ein Referenzwerk zum Mikrobiom.
«Eine bestimmte RNA, die gerade vom Zellkern produziert wurde, trägt vielleicht die Anweisung zum Aufbau von Insulin. (…) Die Ribosomen halten RNA-Moleküle fest, entschlüsseln die darin enthaltenen Anweisungen und synthetisieren Proteine.»
Die Zelle als Werkstatt. Codierung / Decodierung von Information. Das Produzieren und Verarbeiten von Informationen steht am Ursprung des Lebensprozesses. Lesen als ursprünglicher Vorgang. Verführungskraft der Metaphern.
«(Der Postdienst) beginnt mit dem sprachlichen Code der Gene (der RNA), der übersetzt und als Brief (Protein) niedergeschrieben wird. Verfasst (synthetisiert) wird der Brief durch den Briefschreiber der Zelle (das Ribosom), der ihn anschliessend in den Briefkasten steckt (die Pore, durch die das Protein ins ER gelangt). Die Pore dirigiert es zu der zentralen Poststelle (dem endoplasmatischen Retikulum), diese schickt den Brief weiter an die Sortieranlage (den Golgi-Apparat) und schliesslich zum Auslieferungsfahrzeug (dem sekretorischen Bläschen). Es gibt sogar an die Proteine angeheftete Codes (Briefmarken), die eine Zelle in die Lage versetzen, den letzten Bestimmungsort festzulegen.»
Das Leben innerhalb der Zelle. Noch nicht richtig versteht man, was im Zellkern, wo die DNA liegt, vor sich geht. Nach dem groben Überblick zur Geschichte der Entdeckung der Zelle jetzt der mikroskopische Blick in die einzelne Zelle, die komplexe Strukturen offenbart. – Wie aber spielen die Zellen zusammen? Wie formt sich ein Organismus?
«Warum haben wir überhaupt die Welt der einzelnen Zelle verlassen?»
Nach einem langen Exkurs in die Welt der In-Vitro-Fertilisation und des Gene Editing stellt der Autor die Frage, die den Leser schon länger umtreibt….
«In einem Experiment wurden einzellige Algen erst nach 750 Generationen zu einem vielzelligen Aggregat. Nach den Massstäben der Evolution ist das nicht mehr als ein Augenblick, aber es ist das 750-Fache der Lebenszeit einer Algenzelle.»
In der Evolution hat sich der Sprung vom Einzeller zum Vielzeller viele Male ereignet. Inzwischen können Forscher in Labors diese Entwicklung nachvollziehen – auch wenn sie manchmal etwas länger geht.
Die heilende Zelle
Über Blutplättchen, und wie sie helfen, Blutungen zu stoppen. Für uns moderne Menschen mit wenig Bewegung und fetthaltiger Nahrung wird das zu einer Gefahr: hoher Cholesterinwert LDL führt zu Ablagerungen in den Arterien. Das führt zu Verengungen (Angina pectoris), und wenn sich die Ablagerungen losreissen, zu Verletzungen, die die Blutplättchen herbeirufen, die dann beim Versuch der Wundenschliessung die Arterie verstopfen: daher die Häufung der Herzinfarkte seit Beginn des 20. Jahrhunderts. – Mukherjee konzentriert sich stark auf die medizinische Seite. Im Themenkontext wäre es aber interessant, noch mehr über das «Zellfragment» der Blutplättchen zu erfahren: wie unterscheiden sie sich von ganzen Zellen? Wie können sie als «Fragmente» existieren? Sind sie nicht eine eigenständige Erscheinungsform?
«’Die Zelle vergrössert sich, beginnt in hohem Masse neue DNA herzustellen und verwandelt sich in eine Sprengladung. Dann beginnt sie sich zu teilen, und es entsteht eine Kolonie identischer Zelle, alle mit demselben Rezeptor versehen, auf dieselbe Frage gedrillt.’»
Wie kann es sein, dass ein Organismus mit Antikörper für ganz verschiedene Giftstoffe gerüstet ist? Nicht jede Zelle kann auf jeden Giftstoff reagieren, wie die Wissenschaft erst vermutete. Aber es gibt viele verschiedene Zellen, die je auf einen Giftstoff spezialisiert sind. Die entsprechende Zelle wird bei Bedarf angesprochen und aktiviert und vermehrt sich rasch (nach darwinistischem Prinzip).
«’Es war schon paradox: Wir konnten die Unsterblichkeit einer [mit einer Plasmazelle verschmolzenen] Krebszelle nutzen, um einen Antikörper herzustellen. Wir konnten Feuer mit Feuer bekämpfen.’»
Paradox, und faszinierender Durchbruch in der Onkologie – schon 1975. Die Kraft, der Motor der Krebszelle wird genutzt, um den Krebs zu bekämpfen.
«Eine CD8-T-Zelle erkennt eine Zelle aus demselben Organismus, tötet sie aber, wenn sie infiziert sind.»
Differenziertes Vorgehen der «Killerzelle» aus dem Thymus – eines Organs, das man erst nach 1960 erforscht und in seiner für die Immunität des heranwachsenden Organismus’ zentralen Bedeutung erkannt hat. Lange hat man nicht verstanden, woran die T-Zelle eine (von einem Virus) infizierte Zelle erkennt. Der Virus verbirgt sich hinter der Zellmembran. Aber ein bestimmtes Protein agiert als Träger oder Transporter von Peptiden des Virus, die damit an die Zelloberfläche gelangen, wo sie für die T-Zellen erkennbar sind, und das Signal geben für den Angriff auf die befallene Zelle.
«Erkennbar»: Natürlich sind es dann auch bestimmte Moleküle der T-Zelle, die auf die Peptide und Proteine der befallenen Zelle als «Rezeptor» reagieren. Das wird zwar anschaulich geschildert (p. 338 ff), und man erhält eine vage Vorstellung von der Komplexität des Zellenlebens und der Interaktion der Zellen untereinander, aber an dieser Stelle hätte man sich eine Grafik/Illustration gewünscht.
Kapitel 14: Die tolerante Zelle.
Das Selbst, Horror autotoxicus und Immuntherapie
In der Evolution hat sich aus der einzelnen Zelle eine Ansammlung von Zellen, ein komplexer Organismus mit spezialisierten Zellen entwickelt. Gern hätte man noch etwas mehr über diese Spezialisierung erfahren, und über das Zusammenspiel der verschiedenen Zelltypen. Aber gut, dies ist kein zytologisches Lehrbuch. – Zellen haben sich zusammengetan, und das heisst auch, sie grenzen sich von ihrer Umwelt ab. In diesem faszinierenden Kapitel widmet sich Mukherjee dieser Abgrenzung, mit einem Seitenblick auf die vedische Philosophie, die diese Grenzen zu überwinden sucht, und das Aufgehen des einzelnen in einem kosmischen Selbst anstrebt. Dann springt er etwas unvermittelt zurück in die Welt der biologischen Forschung auf der Ebene der Zellen. Natürlich kann es nicht auch noch Aufgabe dieses Buches sein, den Fragen nach dem Selbst auf den diversen (auch psychologischen) Ebenen nachzugehen – aber das Buch eröffnet interessante Perspektiven auf diese Fragen.
«Warum erkennt das Selbst sich selbst? Weil jede Zelle unseres Körpers eine Reihe vom Histokompatibilitätsproteinen (H2) produziert, die sich von den Proteinen eines anderen unterscheiden.»
Das Erkennen der fremden Proteine ermöglicht dann die Immunreaktion gegen fremdes Gewebe.
Offenbar sind es nur wenige Haupthistokompatibilitätsgene, die die H2-Proteine kodieren. Aber diese Gene existieren in «mehr als 1000 Varianten»; wir erben jeweils eines von der Mutter und eines vom Vater. Das ergibt dann «eine schwindelerregende Zahl von Kombinationsmöglichkeiten» (p. 364). Aber heisst das auch, dass es theoretisch möglich wäre, dass es andere Menschen gibt, die identische oder stark verwandte H2-Proteine produzieren, deren Gewebe in meinen Zellen keine Immunabwehr auslösen? Die über dasselbe, oder ein eng verwandtes Selbst verfügen? Etwa so, wie es durch die Gen-Lotterie gelegentlich sich (fast) aufs Haar gleichende «Doppelgänger» gibt?
Was impliziert das spezifische Profil dieser Gene für das Selbst? Wie unterscheidet sich ein Selbst vom anderen Selbst, aus der Perspektive der Selbste? Gibt es Implikationen bis hin zu einem Selbst-Gefühl? Oder ist das physiologische Selbst strikt zu trennen vom psychischen Selbst? Wohl kaum.
«Aber solche Therapieformen haben ihre Grenzen: Entfernt man den Sicherungsschalter, können sich die aktivierten, angriffslustigen T-Zellen auch auf normale Zellen stürzen.»
Die Forscher haben entdeckt, warum T-Zellen nicht die Zellen des Selbst angreifen, und damit auch nicht Krebszellen, die eine verzerrte Form des Selbsts sind, aber eben von den T-Zellen als zugehörig zum Selbst erkannt werden. Die Forscher haben auch entdeckt, wie man diesen Sicherungsmechanismus bei den T-Zellen ausschalten kann – sie attackieren dann die Krebszellen, aber in einem Auotimmun-Angriff auch gesunde Zellen des Selbst.
«Wie oder warum verursacht das Virus solche ‘immunologischen Fehlschlüsse’? Das wissen wir nicht.»
SARS-CoV2 vermochte das Immunsystem bei manchen Menschen zu täuschen, bei anderen nicht. Es folgen eine ganze Reihe von Fragen im Kontext der Corona-Pandemie, zum Beispiel zu «Long Covid», mit der stereotypen Antwort: «Wir wissen es nicht.» – Eindrücklich – trotz massiver Forschungsanstrengungen verstehen wir die Wirkungsweise des Virus bestenfalls in Ansätzen (auch wenn es gelang, in kurzer Zeit Impfstoffe zu entwickeln). «Was wir über die wahre Komplexität des Immunsystems zu wissen glaubten, wurde zum Teil wieder in die Black Box zurückgeschoben.» (p. 402)
«Der Mann beim Zoll verlangte ein kleines Schmiergeld, und ich hätte ihn am liebsten umarmt: Ich war zu Hause.»
Der Autor kehrt – als junger Student – aus Kalifornien nach Delhi zurück. Heimkehr, Zugehörigkeit – Einleitung für die Beschreibung der Herzzellen.
«Szent-Györgyi ging von Virchows Gedanken aus: Wenn ein Organ in der Lage ist, sich zusammenzuziehen und zu entspannen, müssen seine Zellen in der Lage sein, sich zusammenzuziehen und zu entspannen.»
Die Geschichte der Erforschung des Herzen – hier ist Mukhejee in den 1940er Jahren angelangt. Weiter: «In den 1950er Jahren entdeckte man durch mikroskopische Untersuchungen, dass Herzzellen untereinander durch winzige Molekülkanäle verbunden sind, sogenannte Gap Junctions. Jede Zelle ist also von vorneherein darauf angelegt, mit ihren Nachbarn zu kommunizieren.» (p. 422). Jede Herzzelle kann sich zusammenziehen und entspannen, aber das macht das Herz noch nicht zu einer Einheit, einem «Kontinuum aus Zelle», einem Organ.
«(Cajal) zeichnete, bezog daraus Erkenntnisse und schuf die Grundlagen der Neurowissenschaft.»
Ramon y Cajal, Pionier der Hirnforschung, glänzte nicht mit Experimenten. Er beobachtete und reflektierte, und das Zeichnen war sein Medium dafür.
«(…) Stevens beobachtete aber auch, wie (Mikrogliazellen) sich um Synapsen wickelten, die für die Beseitigung vorgesehen waren. Die Mikrogliazellen knabbern an den Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen und schneiden sie weg. Sie sind die ‘ständigen Gärtner’ des Gehirns (…)»
Es gibt einen Unzahl an Synapsenverbindungen im Gehirn, die dann teilweise wieder rückgängig gemacht werden. Etwas mysteriöser Vorgang; aber es geht offensichtlich um die «Beseitigung von Überflüssigem». Wie entscheidet sich aber, welche Synapsen überflüssig sind? Solche, die wenig genutzt werden? Schizophrenie scheint zu entstehen, wenn Synapsen nicht «ordnungsgemäss zurückgestutzt werden», p. 449/450
«Im Frühjahr 2017 überrollte mich die schwerste Welle von Depressionen, die ich jemals erlebt hatte (…)»
Personal touch. Längere Abhandlung zur schwierigen Behandlung von Depressionen. Führt etwas weit weg vom Kernthema des Buches, aber auch hier geht es Mukherjee um den zentralen Punkt: was immer sich ereignet im Körper, es ereignet sich in den Zellen.
«Aber (…) die Nachrichten zwischen den Organen müssen koordiniert werden.»
Didaktisch clever aufgebaut – von der einzelnen Zelle zum Zellverbund, von da zu den spezialisierten Zellen und zum Organ, und jetzt also zum Funktionieren eines ganzen Organismus. Die Welt der Hormone.
«Eine einzige Stammzelle kann Milliarden ausgereifter roter und weisser Blutzellen hervorbringen – und auch ein ganzes Organsystem eines Tieres.»
Unglaublich.
«Man kann eine eigene Zelle nehmen (…) und dafür sorgen, dass sie sich in der Zeit rückwärts bewegt und in eine iPS-Zelle verwandelt. Aus dieser Zelle kann man dann herstellen, was man möchte – Knorpel, Neuronen, T-Zellen, Betazellen aus dem Pankreas – , und es sind doch immer noch die eigenen Zellen.»
Die «induzierten pluripotenten Stammzellen» oder iPS-Zellen regen die Phantasie an – Jungbrunnen, Regeneration; Mukherjee denkt an das Schiff des Theseus: alle Bestandteile, Planken etc werden über die Zeit ersetzt – ist das dann immer noch das selbe Schiff? «Solche Überlegungen muten uns heute metaphysisch an. Aber schon bald können sie physisch werden.» (p. 526).
«Die Verletzung hatte am Gelenk die Fähigkeit des Knorpels beeinträchtigt, sein inneres Gleichgewicht zwischen dem Wachstum neuen Knorpels (über die Stammzellen) und dem Zerfall alten Knorpels (durch Alter und Verletzung) aufrechtzuerhalten.»
Eine Forschungsgruppe um Mukherjee entdeckte, wie Osteoarthritis entsteht. Ganz allgemein kann man sich Verletzung oder Alterung als «wütenden Kampf zwischen Verfall und Reparatur» vorstellen, p. 544.
«Wir haben Namen für Zellen und auch für Zellsysteme, aber die Lieder der Zellbiologie haben wir noch nicht gelernt.»
Wie hängen die Zellen zusammen? Wie wirken sie gemeinsam? Wie ermöglichen sie das Leben? Wie entstehen die Krankheiten? Wir können die komplexe Zellen-Welt immer weiter analysieren. Aber um das Wesen der Zelle zu begreifen, reicht es nicht, nur die Funktionsweise einer Zelle oder auch eines Organs zu verstehen. Die Zelle ist eingebettet, hat ihre Geschichte, agiert, reagiert, kommuniziert.