Das Mysterium im Roggen
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Besprechung
ALLE BESPRECHUNGEN„In der jetzt beginnenden Sekundärinfektionsphase verschleppen die Fluginsekten die Sporen auf weitere unbefruchtete Grasblüten. Verteilte der Wind in der ersten Infektionswelle die Sporen zufällig, so infizieren die kontaminierten Insekten die Blüten jetzt zielgerichtet.“
Raffinierte zweistufige Strategie des parasitären Pilzes, um sich in einem Gräser-, einem Roggenfeld auszubreiten.
„Es sieht vielmehr danach aus, als ob sie den Eindringling tolerieren würde, um eine friedliche Koexistenz zu beiderseitigem Nutzen zu erreichen: Auf der einen Seite schützt der Pilz mit seinem hochaktiven Wirkstoffcocktail die Wirtspflanze vor Schädlingen – im Gegenzug helfen angelockte Fluginsekten nach ihrem Blütenbesuch, den Roten Keulenkopf zu verbreiten.“
Graspflanze und Parasit in einem gar nicht mal so prekären Gleichgewicht? Der Pilz greift nicht die Pflanze als ganzes an, sondern nur einzelne Blüten / Körner. Der Verlust dieser Körner gehört auch in die Bilanz des Tauschgeschäfts.
Pflanze, Pilz und Insekten haben sich soweit also ganz gut eingerichtet. Pointe nun: die menage à trois hat einen leidtragenden Vierten, nämlich den Menschen.
„Die Anfälle, die sich über Wochen oder Monate erstrecken können, werden von extremer Schweissbildung, Kältegefühl, Erbrechen, Psychosen, Tobsucht- und Erstickungsanfällen, Bewusstlosigkeit, Sprach- oder Hörverlust begleitet.“
Heftige Symptome beim Menschen, neben den Spasmen der Beugemuskulatur, kommt es zu einer Intoxikation mit dem Mutterkorn (Ergotismus convulsivus). Immerhin verläuft die Form nicht so oft tödlich, anders als beim Ergotismus gangraenus.
Kein Wunder, waren die Krankheiten bei unseren Vorfahren sehr gefürchtet.
„Offensichtlich sah Julien allein schon in der wehenfördernden Wirkung des Niu xi tang einen untrüglichen Beweis für das Vorhandensein des Seigle ergoté mit seiner unverwechselbaren pharmakologischen Aktivität, auch wenn der chinesische Text das Mutterkorn nicht erwähnt.“
Nebenbei deckt Petersen auf, wie ein bedeutender Sinologe des 19. Jahrhunderts mit einer voreiligen Interpretation die Medizingeschichte beeinflusst hat: in den chinesischen Quellen aus der Zeit von 1100 v.Chr. scheint es, anders als Julien insiniuerte, keinen Beleg für das Wissen um die therapeutische Wirkung des Mutterkorns gegeben zu haben.
„Die Menschen waren dem heiligen Feuer hilflos ausgeliefert. Sie wussten sich weder vor ihm zu schützen noch wie sie seine fürchterlichen Symptome lindern konnten.“
Über Jahrhunderte trat die Seuche in Europa periodisch immer wieder auf, ohne dass die Menschen einen Anhaltspunkt für die Ursache gefunden hätten. Naheliegend im christlichen Mittelalter, darin eine Strafe Gottes zu sehen.
Kapitel „Wirkungsmächtige Altäre – der Isenheimer Altar“
Der Antoniter-Orden hatte sich auf die Pflege der am Antoniusfeuer erkrankten Patienten spezialisiert, mit einer speziellen Diät, u.a. aus Weissbrot, für das kein Roggenmehl verwendet wurde. Der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald war eine Auftragsarbeit des Antoniterklosters; Grünewald nimmt im Gemälde mehrfach Bezug auf das Antoniusfeuer.
„Er berichtete darin, sein Vater sei davon überzeugt gewesen, dass das Mutterkorn die Brandseuche von 1630 in der Sologne ausgelöst habe. Um seine Hypothese zu erhärten, hatte Dr. Thullier d. Ä. die verdächtigen Körner an Hühner verfüttert, die bald darauf starben.“
Im Frankreich des 17. Jahrhunderts befinden sich die Wissenschaftler der Académie Royale des Sciences endlich auf der richtigen Spur. Sie korrespondierten mit Ärzten, die von ihren Erfahrungen mit dem „Antoniusfeuer“ berichteten. – Tierversuche gab es schon weit vor dem 20. Jahrhundert.
„Louis-Renés Veröffentlichung des vollständigen Lebenszyklus des Pilzes, zu der Charles die mikroskopischen Zeichnungen en détail anfertigte, gehört zu den schönsten Pionierarbeiten und wissenschaftlichen Glanzlichtern der frühen Mykologie.“
1853 gelang es einem wohlhabenden Juristen, Louis-René Tulasne, der seinen Brotberuf aufgegeben hatte, das „Mysterium im Roggen“ zu entschlüsseln. Bis dahin kursierten unter den Botanikern immer noch diverse Theorien, um was es sich beim Mutterkorn eigentlich handle (zB um eine Missbildung des Roggenkorns). – Die in der Tat prächtigen Zeichnungen des Bruders Charles sind ausschnittsweise im Buch wiedergegeben, s. hier auch die Abbildung aus Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Mutterkorn#/media/Datei:Tulesne_1853b.jpg
„Das Wissenschaftlerteam von Henry Wellcome ahnte noch nichts davon und feierte ausgelassen weiter.“
Kleiner Cliffhanger am Ende dieses Kapitels, das von der Gewinnung einer Substanz 1906 berichtet, die endlich die erhoffte Wirkung auslöste, nämlich die Kontraktion der Uterusmuskulatur. – Das nächste Problem in der langwierigen Geschichte der pharmakologischen Verwertung des Roten Keulenkopfs aber lässt nicht lange auf sich warten.
„Die Moleküle aus dem Keulenkopfsklerotien wiesen nachfolgenden Physiologen die Richtung zu Regulationsprozessen des menschlichen Körpers und zum Verständnis der chemischen Signalübertragung von den Motoneuronen auf die Muskelzellen.“
Die ursprüngliche Intention der Forscher rund um Dale war es, Wirkstoffe aus dem roten Keulenkopf zu isolieren und sie für pharmakologische Zwecke zu nutzen. Aber sie stiessen die (nobelpreis-würdige) Entdeckung grundlegender Prinzipien physiologischer Prozesse an.
„Wooleys 1955 erschienener Artikel stellte die Psychiatrie auf den Kopf. Der gezeigte Antagonismus von LSD und 5-HT bedeutete im Umkehrschluss, dass die Neurotransmitter an mentalen Vorgängen beteiligt sein musste, und eine Störung des Neurotransmittergleichgewichts im Gehirn ein Grund für psychotische Erkrankungen sein könnte.“
Mit Serotin (5-HT) liess sich der Effekt von LSD im Tierversuch aufheben. Durchbruch in der Erforschung psychiatrischer Erkrankungen wie Schizophrenie.
Kapitel 9: „Dringend gesucht: Neue Wege zu einer stabilen Ergotalkaloidproduktion“
Jahrhundertelange war der Rote Keulenkopf oder das Mutterkorn ein Plagegeist für die Menschheit: die hohe Toxizität der Alkaloide richtete via Roggenbrot verheerende Seuchen an. Als endlich klar wurde, was die Erkrankungen auslöste, zielten die Bauern darauf ab, die Mutterkorn aus den Ähren zu eliminieren. Es ist darum nicht verwunderlich, dass die Emmentaler Bauern zunächst mit Skepsis reagierten, als die Basler Pharmafirma Sandoz den Anbau von Roggen auf ihrem Land mit möglichst viel Mutterkorn (durch „Impfung“ der nicht befallenen Gräser) zu forcieren suchte. – Die Mutterkorn Wirkstoffe machten eine vielfältige Karriere als Medikamente, so dass der Rohstoff (insbesondere im zweiten Weltkrieg) knapp wurde.