
Das Philosophenschiff
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Besprechung
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„Komm endlich zu Willen (…)“
Mit dieser eigenartigen, deutschen Formel versucht die Mutter von Anouk ihrem tendenziell depressiven Mann Beine zu machen.
„Willst Du das Grauen um Dich herum ertragen und nicht verrückt werden, sei müde! Die Müdigkeit ist eine der grossartigsten Erfindungen der Natur.“
Origineller Gedanke der alten Dame. Sie selbst war lange in ihrem Leben nicht müde, hat das als Option spät entdeckt. Müdigkeit als Trauma-Abwehr, oder mindestens als Verteidigung gegen die Zumutungen des Lebens.
Drittes Kapitel
Wir erfahren, warum Anouks Familie zur Ausreise gezwungen wurde: Der Vater hatte Kontakt zu Boris Sawinski, der vor und nach der Revolution von 1917 ein prominenter Terrorist, Politiker und Schriftsteller war. Der Sozialrevolutionär kehrte nach der Februarrevolution 1917 aus dem Pariser Exil zurück, und wurde Mitglied der Kerenski-Regierung. Er manövrierte sich dort allerdings ins Abseits. Später kämpfte er gegen die Bolschewiki, die ihn (er war wieder ins Exil gegangen) unter einem Vorwand 1924 zurück in die Sowjetunion lockten und ihn ermordeten, oder in den Selbstmord trieben. – Anouks Vaters Beziehung zu Sawinski war wohl unpolitisch: sie spielten zusammen Schach.
Siebtes Kapitel
Verquickung von Fiktion und Historie: Eine der Passagiere auf dem Schiff, Fonja, ist befreundet mit dem ins Exil geflüchteten Komponisten Rachmaninow. Vielleicht ist Fonja deswegen auf dem Schiff? Oder ist er ein Spitzel des Sowjetregimes? Das vermutet die Schriftstellerin Nina Berberowa, die sich Jahre später mit der (fiktiven) Haupt-Protagonistin Anouk befreundet. Etwas dünn, diese Plausibilisierung der Fiktion durch historische Figuren.
Dreizehntes Kapitel
Ein Freund des Ich-Erzählers, Carlo, war vor Jahrzehnten im „Kommunistischen Bund Westdeutschlands“. In diesem Kapitel wird erzählt, wie Carlo aus dem KBW austrat, und daraufhin von Genossen „abgeholt“ wurde und nach einer Irrfahrt nachts im Wald ausgesetzt wurde. Eigentlich hätte er „liquidiert“ werden sollen. – Die Funktion dieses etwas abenteuerlichen Kapitels im Erzählganzen bleibt zunächst im Dunklen.
Vierzehntes Kapitel
Der Auftritt Lenins auf diesem Schiff ist ein gewagter Spielzug des Autors. Der Dialog zwischen der 14-jährigen Anouk und dem offenbar abgehalfterten Führer des Sowjetregimes ist aber dicht gebaut, und spielt schön mit der Dialektik, diesem für Lenin zentralem Theorie-Instrument.
„Er war nicht homosexuell, auch nicht bisexuell, er war einfach nur verzweifelt. Und meine Mutter war auch verzweifelt und Leonid und Nikolai auch. In der Zeit des Entsetzens ist Sex nicht nur Lust und Freude, sondern Trost. Fast wie Religion.“
Anouk hat sich Gedanken gemacht zum „Kuddelmuddel“, in dem ihre Eltern und deren Freunde in Sankt Petersburg lebten, die alle miteinander schliefen (ausser die Eltern miteinander).