Das Sanatorium zur Sanduhr
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Besprechung
Julia_kersebaum
Moritz T.
«Diese wandernden Krüppel lenkten den Blick auf ferne und traurige, von Prosa und Alltag verhärtete Städte unter einem papierweissen Himmel. Es waren in der Tiefe der Zeit vergessene Städte, wo die Menschen an ihr kleines Schicksal gebunden waren, von dem sie sich keinen Moment losrissen.»
Das vermag das Buch, oder vermutlich hier eher: eine Illustrierte Zeitung – den Blick „in die Tiefe der Zeit“ zu lenken, in der die Menschen gefangen sind. Und damit auch auf uns selbst.
«Manchmal schrieben sie einen Brief aus einem Briefsteller ab, klebten sorgfältig eine Marke darauf und vertrauten ihn zögernd und argwöhnisch einem Briefkasten an, auf den sie mit der Faust einschlugen, wie um ihn aufzuwecken. Dann flogen weisse Tauben mit Briefen im Schnabel durch ihre Träume und entschwanden in den Wolken.»
Grossartige Stelle, mit der Faust, die aufweckt, gefolgt von den auffliegenden Tauben im Traum. Das Magische des Lesens und Schreibens, auch wenn es aus vorgefertigten Stücken besteht, Briefsteller – Wikipedia
«Auf diesen letzten Seiten, die deutlich sichtbar in phantastisches Gefasel, in offenbaren Unsinn ausarteten, offerierte ein Gentleman seine unfehlbare Methode, wie man Entscheidungen energisch und mit Bestimmtheit treffen konnte, und er sprach viel von Prinzipien und Charakter. Doch brauchte man nur umzublättern, um in Sachen Bestimmtheit und Prinzipien vollständig die Orientierung zu verlieren.»
Vielleicht gezielter redaktioneller Kontrollverlust der merkwürdigen Illustrierten, die hier gelesen wird, vielleicht lässt gegen Ende einfach die Qualität nach – der ermüdete Leser wird ins Gefasel und phantastische Welten entführt, in denen paradoxerweise «ein Gentleman» seine unfehlbare Methode der Bestimmtheit verkauft. Papier ist geduldig; aber auch: eine Seite lässt sich umblättern, und die Welt ist eine andere (ausser wenn die Käfigvögel einem „Lockrufe nachschicken“, p. 20). Denn ganz zuletzt werden von einer mit den Augen blitzenden Dame Methoden feilgeboten, die die Prinzipien der Männer durchbrechen. Da kann einen schwindlig werden.
„Hat die geniale Epoche nun also stattgefunden oder nicht? Schwer zu sagen. Ja und nein.“
Finden sich in der „genialen Epoche“, die sich zeigt und doch nicht zeigen will, und wenn doch, dann nur in Splittern, Anspielungen auf die Kabbala des Isaak Luria? Rückzug und Spiegelsplitter – Zimzum und die zerbrochenen Gefässe?
„Kirschensüsse und kirschiges Stieglitzgezwitscher erfüllte die sanft schimmernde Lavendelluft.“
Dazu: himbeerfarbene Uniformen, kirschrote Melonen (Hüte), rote Fahnen, „wenn ich den roten Farbstift zur Hand nahm“ (p. 36), Schwelgen in Farben und Formen in der „genialen Epoche“, die vielleicht eher auf einem verborgenen Nebengleis der Zeit statthat.
„‚Sag, glaubst Du denn, ich hätte gestohlen und tausend Verrücktheiten begangen, wenn die Welt nicht so abgenutzt und heruntergekommen wäre, wenn die Dinge nicht ihren Glanz eingebüsst hätten – den fernen Glanz von Gottes Hand?'“
Rede des Randalierers und Diebes Szloma, der aus metaphysischen Gründen seine Untaten begeht, und die farben- und formenfrohen Zeichnungen von Jozef bewundert. Als Jozef ihm allerdings das Buch der Bücher zeigt, aus dem er seine Inspiration bezieht, besinnt sich Szloma seines Berufs, vielleicht ist er auch ein Schuhfetischist, jedenfalls stiehlt er Adelas Schuh, Kleid und Perlenkette.
„Durch das Fenster sah man die Tauben auf der Polizeiwache wie durch ein Fernrohr, man sah sie aufgeplustert auf dem Gesimse der Attika umherspazieren. Mitunter flogen sie plötzlich allesamt auf und beschrieben einen Halbkreis über dem Marktplatz. Dann erhellte sich das Zimmer für einen Augenblick von ihren ausgebreiteten Schwungfedern, es weitete sich vom Glanz ihres fernen Flatterns und erlosch, wenn sie sich niederliessen und die Flügel wieder zusammenlegten.“
Wir befinden uns in der „genialen Epoche“, die in der offiziellen Zeit keinen Platz gefunden hat. In dieser Untergrundzeit spriessen hypertroph Farben, Formen, Gestalten. Dann aber dieses zeitlose Bild eines langweiligen Nachmittags in der Provinzstadt.
Kapitel „Der Frühling“
Man kann das Grundgerüst von «Der Frühling» als einfache Geschichte lesen, ein Junge verliebt sich in ein Mädchen, das wohlbehütet in einer Villa aufwächst. Der Junge, Józef, bewundert Bianka, das Mädchen, erst aus der Ferne, dann scheint ihm aber der Zutritt zur Villa gewährt zu werden, oder er erzwingt ihn sich beim Vater Biankas, die sich als launiger Teenager entpuppt, und am Ende statt Józef dessen Freund Rudolf erwählt.
Aber… auch einfache Geschichten haben ein Unterfutter, eine Nachtseite, ihre Metaphysik. Und die entfaltet der Ich-Erzähler in prächtigen, wortreichen Girlanden. Rudolf bezichtigt Józef des Übertreibens und Flunkerns, der Prahlerei und der Mystifikation – völlig zurecht, muss man als Leser sagen! An Rudolfs Briefmarkenalbum entzündet sich Józefs Phantasie, greift weit aus in Raum und Zeit, hängt Bianka eine kaiserlich-königliche Herkunft an. Vor allem aber überwuchert der Frühling, in dem sie statthat, das Grundgerüst der Geschichte mit seinen Gerüchen, Farben, Gestalten, mit seiner Dialektik von modrigem Untergrund und sich neu entfaltendem Leben, mit rauschhaften, traumgleichen Nächten.
Als Pointe stellt sich heraus, dass Józef vergeblich versucht hat, sich die Magie des Frühlings dienstbar zu machen, dessen phantastische Manifestationen auf sein «Programm» mit historischen Interpretationen und Figuren, und vermutlich auch auf die Liebe Biankas hin zu deuten und zurecht zu biegen. Er hat aber den nicht einzuhegenden Text des Frühlings falsch gelesen, „usurpiert“, die Geschichte widerlegt ihn am Ende.
Als Józef sich in der traumartigen Schlussszene selbst richten will, wird er – gerade noch rechtzeitig – verhaftet, und zwar wegen eines Traums, des „Standardtraums des biblischen Josephs“; Traum einer Selbstanmassung?
„Der ganze menschenleere und geräumige Frühling hielt sich bereit, er stellte sich atem- und besinnungslos zur Verfügung, mit einem Wort: Er wartete auf eine Offenbarung. Wer hätte ahnen können, dass diese fix und fertig, in voller Rüstung und strahlend – aus Rudolfs Briefmarkenmappe hervorging (…).“
Die Natur, die Jahreszeit wird in gewaltige, metaphysische Dimensionen aufgeblasen, dann aber kristallisiert sich die Welt in Briefmarken.
«An dieser Stelle möchte ich eine kurze Parallele zwischen Alexander dem Grossen und meiner Person ziehen.»
Herrlich.
„Da sind die Labyrinthe der Eingeweide, die Magazine und Speicher der Dinge, da sind noch die warmen Gräber, der Moder und der Dung.“
In der Dämmerung tut der Frühling sein untergründiges Wesen kund, „worauf er wächst, weshalb er so unsagbar traurig und mit Wissen beladen ist“. „Wir sind auf der anderen Seite, wir sind am Unterfutter der Dinge.“ (p. 76)
„Denn nur oben im Licht – das muss einmal gesagt sein – sind wir ein vibrierendes, artikuliertes Bündel aus Melodien und leuchtenden Wipfeln des Lerchengesangs, in der Tiefe hingegen zerfallen wir wieder zu schwarzem Raunen, zu Stimmengewirr, zu einer Unmenge endloser Geschichten.“
Diese Prosa bezieht ihre Spannung aus dem ganz Anderen, was uns erscheint ist nicht (nur) was es scheint und wir sehen (wollen). Dem Frühling, dem Streben nach Licht und Luft, wohnt die Dämmerung inne, sie erinnert an das Dunkle, Untergründige. Das lapidare „das muss einmal gesagt werden“ wäre ironisch zu lesen: es wird hier nichts anderes gesagt…
„Erst jetzt wird dem aufmerksamen Leser des Buches die Natur dieses Frühlings klar und verständlich.“
Der Frühling ist ein Text, den es zu lesen gilt. Aber er wird auch geschrieben, es gibt eine „Endredaktion des Tages“ (p. 82), bevor der Morgen anbricht. Aus einer grossen Fülle von Möglichkeiten, die sich wiederum auch in einem Briefmarkenalbum mit Farben, Formen, Ländern findet, muss man sich auf ein „diplomatisches Tagesprotokoll“ einigen.
„(Der Mainacht) transparente und gläserne Fauna, das leichte Plankton der Mücken belagert mich, wie ich über das Papier gebeugt dasitze, es klettert die Wände hoch wie schäumende, meisterliche weisse Stickerei, mit der die Nacht sich gegen Morgen selbst bestickt. Heupferdchen und Moskitos, wie aus dem durchsichtigen Gewebe nächtlicher Spekulation gefertigt, landen auf dem Papier, gläserne Farfarellen, hauchzarte Monogramme, von der Nacht erfundene Arabesken, immer grösser und phantastischer, gross wie Fledermäuse, wie Vampire, die nur aus Kalligraphie und Luft bestehen.“
Die Nacht schreibt sich selbst.
„Während wir so reden, lockert die Illusion des Zimmers nach und nach ihre Zügel, eigentlich sind wir im Wald, Farnbüschel schiessen aus allen Ecken hervor, und direkt hinter das Bett schiebt sich eine Wand aus Gestrüpp, in der es krabbelt und wuselt.“
„Die Illusion des Zimmers“ – nachts bei Bianka. Es folgt eine wunderbare Schilderung, wie Nacht und Natur das Zimmer überwältigen, in Beschlag nehmen, sich ausbreiten. Dann verwandelt sich das Zimmer in einen Zug, der durch die Landschaft gleitet, „sogar ein Schaffner mit Laterne“ taucht auf.
„‚Ich zwang diesem Frühling meine Regie auf, wollte ihn zurechtbiegen und nach eigenen Plänen steuern, und so unterlegte ich die unfassbare Blütezeit mit meinem eigenen Programm.'“
Der Frühling aber lässt sich nicht bändigen und dienstbar machen. Rede Józefs, als er – angerückt mit einem Trupp aus Briefmarken und Museen wiederbelebter historischer Figuren – Bianka mit seinem Freund Rudolf entdeckt.
«’Ich bin nicht verantwortlich für meine Träume’, sagte ich.
‘Und ob Sie das sind! Im Namen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit, Sie sind verhaftet!’»
Natürlich gleicht die ganze Erzählung einem Traum. In der erst recht traumartigen Schlusssequenz wird Józef wegen eines Traums verhaftet, und damit sein Selbstmord verhindert. –
Kapitel „Die Julinacht“
Julinacht: schönes Stimmungsbild der beginnenden Nacht im Haus, mit den unterschiedlichen Schnarchtönen von Schwager und Vater, und dem Gegirre der Amme mit dem Säugling nebenan. Durch das Fenster «atmete die Nacht langsam pulsierend», p. 145. Sonst aber eher skizzenhaft, mehr Wortgeklingel als Verdichtung, die «Topographie einer Julinacht» bleibt unbeschrieben.
«(…) und fleissig dabei, ein steiles Schnarchgebirge zu erklimmen.»
Schwager Karol tut sich schwer beim Einschlafen, der Ich-Erzähler ruft ihn an, aber Karol ist auf «seiner beschwerlichen Schlafroute» schon weitergezogen, und beginnt zu schnarchen. Einleuchtendes Bild.
Kapitel „Mein Vater geht zu den Feuerwehrmännern“
Mit der schon mit phantastischen Elementen gespickten Kutschenfahrt bei der Rückkehr aus der Sommerfrische wird die Schwelle zum Herbst überschritten, und wohl auch die Schwelle zum Schlaf. Es folgt eine Geschichte, die alle Anzeichen eines Traumes trägt: Der offenbar zuhause gebliebene Vater präsentiert sich in Feuerwehruniform als „Messingritter“ im Zimmer; die Sorge der Bediensteten Adele gilt dem Himbeersaft, auf den die Feuerwehrmänner vielleicht schon wegen der Farbe versessen scheinen. Aber die „Söhne des Feuers“ sind sowieso kindlichen Gemütes, sie spielen enthusiastisch mit den Kindern, betteln um Zucker, üben sich in Galanterie, aber scheinen zur Feuerbekämpfung gänzlich ungeeignet. Der Vater aber hält gegen die schimpfende Adele eine feurige Rede zur Verteidigung seiner uniformierten Genossen, und entschwindet am Ende elegant mit einem Sprung aus dem Fenster in ein Springtuch. – Eine herrlich abstruse Geschichte, kurz und stimmig wie ein gelungener Song.
„‚Nicht für diese Taugenichtse habe ich mir am Herd beim Einkochen meinen Teint verdorben, damit sie nun den Saft wegtrinken.'“
Adele schimpft mit dem Hausvater, der der Feuerwehr beigetreten ist und den Himbeersaft freigiebig an die Feuerwehrleute abtritt.
„(…) als eine Art der Vergiftung des Klimas durch die Miasmen der überreifen und degenerierten barocken Kunst (…).“
Klimawandel durch (schlechte) Kunst…
Kapitel „Die tote Saison“
Der Vater trägt schwer an der Bürde des Kaufmannslebens in seinem Tuchladen; noch tief in der Sommernacht hängt er über den Büchern, als ein Geschäftsfreund die Aufwartung macht. Wer behält die Oberhand? Ein langes ernstes Ringen, man vermutet um Profit oder Verlust, setzt an, durchaus mit erotischen Untertönen – schliesslich ringen die beiden gar im Schlaf miteinander.
„Der Laden, der Laden, er war unergründlich.“ (p. 179) Hübscher Satz, aber es folgt ein hier etwas mechanisch wirkendes Ausgreifen ins Metaphysische, dem Tuch wird da einiges aufgebürdet, es soll sich dem Vater auch der „Sinn des Ladens“ (p. 180) offenbaren. – Im Kontrast dazu steht der herrliche Leichtsinn und Schabernack der Gehilfen, die Schulz von Kafka übernommen hat, genauso wie die Verwandlung in ein Insekt, die bei Schulz allerdings der Vater erfährt, oder wohl vielmehr, auch das anders als bei Kafka, selbst herbeiführt.
Auch auf der anderen Seite der Literaturgeschichte finden sich Anklänge: haben die giftigen Pflanzen in Wolfgang Hilbigs „Alter Abdeckerei“ nicht ihre Vorgänger im hypertrophen, sich zu einem giftigen Ferment verdichtenden Unkraut im Hof des Tuchladens (p. 172)?
„Wir bewunderten den kompromisslosen Heroismus, mit dem er sich, ohne sich zu besinnen, in diese Sackgasse der Desperation gestürzt hatte (…).“
Der Vater verwandelt sich in eine Fliege; die Angehörigen und Angestellten interpretieren das als Willensakt, der peinvollen Situation zu entgehen. Sie hatten sich über Mittag im Laden dem Spiel und der Bosheit hingegeben, während der seriöse, sorgenschwere Vater seine Siesta hielt, sie dann aber in ihrem Leichtsinn überraschte. – Die Angehörigen nehmen dem Vater dann aber seine Verwandlung rasch übel; hatte er wirklich keine andere Wahl?
„Wie gering im Grunde, allem Anschein zum Trotz, die Bedeutung solcher Episoden ist (…).“
Mit leichthändiger, souveräner Ironie verwandelt der Erzähler die Fliege wieder in den Vater.
Kapitel „Das Sanatorium zur Sanduhr“
Für einmal eine Geschichte, die von vorneherein jenseits des Alltagsgeschehens angesiedelt ist. Paradoxerweise wuchern dann aber auch nicht die phantastischen Elemente im selben Masse, wie in den Geschichten, die aus dem Alltäglichen ins Surreale übergehen.
Der Ich-Erzähler fährt mit einem uralten Zug auf einer «vergessenen Nebenlinie» seinen Vater zu besuchen; er begegnet sich selbst als anderem Passagier, zu dem er am Ende der Geschichte wird. Die Zeit zerfällt in dem Schattenreich, wohin die Familie den Vater nach dessen Tod in ein Sanatorium gesandt hat. In der düsteren Dystopie wird es nie richtig Tag, und man schläft viel. Der Vater ist, wie es der Sanatoriumsarzt Doktor Gotard ausdrückt, «innerhalb der situationsbedingten Grenzen» am Leben, und hat wie zuvor im richtigen Leben ein Tuchgeschäft am Marktplatz; aber er ist kränklich, und im weitgehend leeren Sanatorium kümmert man sich nicht um ihn, oder den Ich-Erzähler, der vom «Magnetismus» angezogen wird, das «vom Spiel der Hüften» des allerdings meist nur flüchtig erscheinenden Zimmermädchens ausgeht, und von den Kuchen in einer Konditorei. Am Ende überzieht ein Krieg das Schattenreich, und der Sohn lässt den Vater wieder im Stich, und auch einen von einem Hund in einen Menschen verwandelten Gefährten. Allerdings kehrt er nicht ins Diesseits zurück, er lebt fortan als Passagier auf der vergessenen Nebenlinie.
„Wahrhaftig eine erstaunlich organisierte Ermittlung, eine bewundernswerte Expeditionseffizienz!“
Der Ich-Erzähler hatte sich – noch im Diesseits, muss man annehmen – in einer Buchhandlung nach einem pornographischen Buch erkundigt; die Buchhandlung sendet jetzt einen Brief an die Tuchhandlung des Vaters, irgendwie hat man diese Adresse im Schattenreich ausfindig gemacht. Gesendet wird aber nicht das bestellte Buch, sondern ein „ausfahrbarer astronomischer Refraktor“, der „zweifelsohne“ das Interesse des Kunden wecken werde. Merkwürdiges Gerät, halb Teleskop, durch das der Ich-Erzähler das Zimmermädchen im Sanatorium erspäht, halb Papierauto, mit dem er in den Verkaufsraum der Tuchhandlung fährt. – In der traumartigen Umgebung des „Sanatoriums“ hat diese Szene intensiven Traumcharakter. Erzählte Träume sind langweilig; so souverän als Traum inszenierte Erzählungen sind es nicht.
„Bekommt man hier eine vollwertige, rechtschaffene Zeit, die gewissermassen von einem frischen Ballen abgewickelt wird? Ganz im Gegenteil. Es ist eine durch und durch abgenutzte, von Menschen abgetragene Zeit, eine verschlissene und an vielen Stellen löchrige Zeit, durchsichtig wie ein Sieb.“
Die Tuchbahnen des Lebens sind durchscheinend in diesem Schattenreich.
Kapitel „Dodo“
Portrait des alles immer sofort vergessenden Verwandten Dodo, den die arme Tante Retycja genauso beherbergt wie ihren verrückt gewordenen Ehemann Onkel Hieronim, der sich in sein Gehäuse zurückgezogen hat. Dodo bezeichnet ihn als «total meschugge…». Ansonsten ignoriert sich das Idiotenpaar zumeist. Köstliche Schilderung einer Nacht, in der erst Hieronim, dann Dodo ihre (harmlosen) Anfälle haben, und die Tante von einem zum anderen pendelt. Um Dodo, wehrlos wie sein Namenspatron, bildet sich eine Aura, ein „Schutzgürtel“; dennoch ist er der „allzeit gefrässigen menschlichen Bosheit“ ausgesetzt, die Schabernack mit dem Dorfidioten treibt. – Auch in der ausgezeichneten deutschen Übersetzung kommt die wunderbare Musikalität der Sprache zum Ausdruck.
„(…) denn das Gedächtnis von Dodo reichte eigentlich nicht über den Moment und die unmittelbare Aktualität hinaus.“
Dodo ist nach einer kindlichen Gehirnkrankheit handicapiert. Sein Beitrag zu Konversationen besteht im wesentlichen aus „elementarem Zuhören“. Er lebt in einem Schutzgürtel, wird weitgehend verschont von den Anforderungen des Lebens.
„(…) er hatte sich darein gefügt und arrangierte die Details innerhalb der Grenzen dieser ereignislosen Monotonie.“
Auch die Ereignislosigkeit will gestaltet werden…
„Die Leichtigkeit ist zu gross (…)“
„Der Pensionist“ ist leichtgewichtig, er ist nirgends mehr angebunden, sucht vergeblich wieder den Anschluss an die ehemaligen Bürokollegen. Er ist den Blicken und Fragen der anderen ausgesetzt, quasi ohne Schutz eines Amtes oder einer Arbeit. Am Ende wird er wieder zum Schüler, geht auf in der Gruppe, wird aber von einem Sturm in die Lüfte gehoben und fortgeweht.
„Es sollte ein Leben unter dem Zeichen der Poesie und des Abenteuers sein, des Staunens und der immerwährenden Erleuchtungen.“
Untypisch – zumeist sind die Protagonisten bei Schulz einem wuchernden, unkontrollierbaren Kosmos ausgeliefert, und kommen gar nicht dazu daran zu denken, das Heft des Lebens selbst in die Hand zu nehmen.