Das sowjetische Jahrhundert
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Besprechung
Moritz T.
«Als Quelle (…) kommen jetzt nicht nur das schriftliche Dokument (…) in Betracht, sondern – im Grunde – alle Objektivationen, Vergegenständlichungen menschlicher Tätigkeiten.»
Kühner Zugriff; „Histoire totale … ein erstrebenswertes Ideal“, p. 22. Dazu passt, dass «… alle Sinne der Weltwahrnehmung ins Spiel kommen“., p. 23
«Es ist der ungeheure Satz, den Walter Benjamin im riesenhaften Torso seines ‘Passagen-Werks’ versteckt hat: ’Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.’ Ein Satz, der aber schon damals … kaum noch einzulösen war.»
Schlögel setzt die Messlatte hoch; zugleich nimmt er ein Scheitern vorweg
«(…) die Warteschlange, die Gemeinschaftswohnung, der Zustand der öffentlichen Toiletten, die Paraden, die Plattenbausiedlungen, die Moskauer Küchen. Dabei ging es um die allen sichtbare Oberfläche, für deren Analyse sich der wissenschaftliche Betrieb jahrzehntelang nicht interessiert hatte (…)»
Schlögel erläutert seinen innovativen Ansatz.
«(…) die Rituale bei der ausführlich-umständlichen Ausfertigung des Billets, die Prozeduren an der Garderobe, der strenge Blick der Wärterinnen, meist ältere Frauen, ein Gefühl der Einsamkeit (…)»
über sowjet-russische Museen. Spuren dieser Erfahrung finden sich auch heute noch in russischen Museen oder, allgemeiner, Institutionen. Altere Frauen in den gut geheizten Garderoben, die in den langen russischen Wintern eine ganz andere Bedeutung und Funktion haben als bei uns.
«Die grossformatigen Titelblätter von ‘USSR im Bau’, Jahr für Jahr aneinandergereiht, ergäben nicht nur eine Chronik und ein Panorama der sowjetischen Umwälzung, sondern ebenso eine Abfolge des Blicks, der Suggestion, des Einverständnisses, des Mitmachens und der Unterwerfung.»
Was ist eine «Abfolge des Blicks»? Typisch für Schlögels Stil, vom Gegenständlichen weit ausgreifend in die psychischen Verwerfungen. Bleibt hier aber für einmal spekulativ-vage.
«Im Winter fielen schwarze Schneeflocken zur Erde. Aus den Schloten stürzten Jahr für Jahr 870 Millionen Tonnen Russ auf die Umgebung herab…»
Eindrückliches Bild für die Folgen der gewaltigen Industrialisierung.
«Die interessantesten, aber auch rätselhaftesten Ecken auf den Basaren und Flohmärkten (…) sind jene, wo die Tische mit den snatschki, den Abzeichen stehen.»
Anstecknadeln, Plaketten, Medaillen: eine unglaubliche Vielfalt zeugt auch auf den Flohmärkten der Gegenwart von den Versuchen, die Zeit, die Gegenwart zu markieren, festzuhalten. Inzwischen selbst bloss noch Zeug, verrottendes Material, aber für eine Weile noch Zeugen der untergegangenen Epoche.
«Anlässe für die Produktion von Abzeichen gibt es unendlich viele: Stadtgründungsjubiläen, Sportereignisse, (…) Ehrenzeichen für lange Mitarbeit in einem Betrieb (…), Erinnerungszeichen für den ersten Raumflug.»
«(…) Müllschlucker (…) in den Treppenhäusern, manchmal sogar in den Wohnungen selbst angebracht waren und die nicht nur eine bestimmte Geruchsentwicklung nach sich zogen, sondern auch eine nicht mehr abreissende Migration von allerlei Getier über die Etagen hinweg in Gang setzten…»
hübsche, typische Formulierung
«Die Grössenordnung der im Spezchran der Leninka deponierten Bücher und Zeitschriften, mit deren Rückgliederung in den allgemeinen Bestand im März 1987 begonnen wurde, ist eindrucksvoll: 300’000 Buchtitel, 560’000 Zeitschriften, eine Million Zeitungen.»
Spezchran = geheime Sondermagazine, für den gewöhnlichen russischen Benutzer der Leninka-Bibliothek nicht zugänglich. Da verblasst dagegen der Index librorum prohibitorum des Vatikans, der 6’000 Titel aufwies.
Kapitel Die Warteschlange
Ausführlicher Verweis auf den Roman ‘Die Schlange’ von Sorokin. Ausgezeichnetes Kapitel.
«Da die Warteschlangen ein sensibles Barometer der sowjetischen Gesellschaftsstimmungen … waren …, waren immer Agenten … anwesend und sammelten für ihre Ministerien.» p. 560
«’Habe für fünf Tage Urlaub genommen, stand in den Schlangen, aber eine Hose habe ich nicht besorgen können.’» p. 561, aus den Protokollen der Agenten.
«Da es bis 1992 keine zeitliche Begrenzung für Telephongespräche gab und ein Gespräch unabhängig von der Dauer nur zwei Kopeken kostete, war das Telephon auch der Ort nicht enden wollender Gespräche…»
Telephon-Dialogkultur.
«In dieser Zeit setzte, getragen von den Aktivisten der Gottlosenbewegung, also von meist jungen und militanten Kommunisten, eine Kampagne ein, die auf die systematische Zerstörung der Kirchen, Glockentürme und der Glocken selbst abzielte.»
1927/8. Die Revolution veränderte auch den akustischen Raum. Radio, Verkündigung des deutschen Überfalls am 22.6.1941 über Lautsprecher, Photo von gebannten Passanten, p. 740