Das Tagebuch der Menschheit
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Besprechung
Moritz T.
Kapitel „Drei Naturen“
Erste Natur: „angeborene Gefühle, Reaktionen und Vorlieben“, genetisch verankert, Intuition und Bauchgefühl. Natürliche Natur.
Zweite Natur: Konventionen, Gewohnheiten, Mentalitäten, die wir schon als kleine Kinder übernehmen. Kulturelle Natur. Habitus. Sitten, Gebräuche, Religion.
Dritte Natur: Vernunftnatur. Maximen, Praktiken, Institutionen.
Besonders Erste und Dritte Natur können in Konflikt kommen; auf Dauer lässt sich die Erste Natur nicht unterdrücken. Die Dritte Natur dominant seit dem Sesshaftwerden.
„Mit solchem Wissen beginnt die Genesis zu funkeln. Die Geschichte von Adam und Eva ist eine der alten polytheistischen Welt, in der es von übernatürlichen Wesen nur so wimmelte.“
These der Autoren: Spätere Versuche, polytheistische Aspekte wegzuredigieren, um die Doktrin des Monotheismus durchzusetzen. Dabei bleiben aber viele Fragezeichen zurück bei der Geschichte von Adam und Eva, die – „Mutter alles Lebendigen“ – vielleicht ursprünglich sogar Aschera war, Gottes Frau.
„Kann die Bibel als Reaktion gelesen werden auf die radikale Verhaltensänderung der menschlichen Spezies, die das Leben umherziehender Jäger und Sammler aufgab, um fortan das Dasein sesshafter Bauern zu führen?“
Entschiedenes Ja. Kernthese der Autoren, mit der sie die Bibel lesen.
„Ausgeprägte Hierarchien existierten genauso wenig wie bedeutende Machtkonzentrationen (…). Das Leben der Menschen spielte sich weitgehend egalitär und demokratisch ab.“
Die Projektion dieser Begriffe zurück auf ein frühes Stadium der Menschheitsgeschichte müsste kritischer reflektiert werden, auch wenn in der Folge versucht wird, die Begriffe zu substantiieren, und auch negative Aspekte konzediert werden. Zurück bleibt der Eindruck einer Idealisierung. – Und verharrten die Menschen tatsächlich viele Jahrtausende in ihrer ökologischen Nische, genetisch perfekt angepasst, aber ohne Fortschritte, Entwicklung? Werkzeuge, Sprache?
„Aus der Perspektive der ersten Bauern muss das frühere Leben paradiesisch erschienen sein.“
Sesshaft wurden die Menschen in einer Periode des Überflusses; als die sich zu Ende neigte, warum auch immer, konnten die Menschen nicht zum Jagen und Sammeln zurückkehren, know-how Verlust (etwas fragwürdig), zu grosse Bevölkerungsdichte. – Etwas schablonenhaft, aber natürlich ist das nicht das eigentliche Thema des Buches. Wichtig im Kontext aber, dass angeblich das Anpflanzen von Getreide von den ersten Bauern nicht als der entscheidende Fortschritt empfunden wurde.
„Wenn also die Paradies-Geschichte die Unterordnung der Frau und die Selbstverständlichkeit des Eigentums als Gottes Willen ausgibt, lässt sich das auch als Ideologie bezeichnen.“
Zwei Entwicklungen, die das Sesshaftwerden mit sich brachten: Eigentum, und die Dominanz des Mannes. Die Autoren stellen die These auf, dass die Bibel diese beiden Aspekte als von einer höchsten Autorität verfügt darstellen und damit unangreifbar machen wollten.
„Die Bibel verhandelt also, zumindest evolutionsbiologisch betrachtet, die tatsächliche Ursünde der Menschheit.“
Die Autoren unterstreichen nochmals die Bedeutung, die aus ihrer Sicht das Sesshaftwerden hatte.
„Die Dominanten, die machtgierigen Alphas erhalten eine zweite Chance; ihr Hang zum rücksichtslosen Gewalteinsatz erweist sich als Adaptionsvorteil.“
Kain erschlug Abel, und wurde nur milde bestraft von Gott. Warum? Die Autoren argumentieren, dass es zur Primogenitur (der Erstgeborene erhält den Besitz) in der Ackerbaukultur keine Alternative gab, dass diese Tradition aber Zwist und Gewalt beförderte, und den Egosimus beförderte, der in der Jäger & Sammler-Kultur nicht toleriert worden wäre. Die Bibel bestätigt hier gewissermassen das Recht des Stärkeren. – Nicht vollends überzeugende Argumentation.
„Die Primogenitur, logisch und praktisch wie sie auf den ersten Blick erscheint, besitzt einen grundsätzlichen Fehler. Die Mütter der jüngsten Söhne sind angesichts ihrer Jugend am attraktivsten und setzen ihren Einfluss beim Patriarchen durch. Vor Intrigen, Lug und Trug, um Argumente gegen den ältesten Sohn zu bringen, schrecken sie nicht zurück!“
Rahel und Lea im Gebärwettstreit, bei dem sie auch ihre Mädge einsetzen (1. Mose, 28 ff). Konflikte der „Versuchsanordnung Polygynie“. Das Erbrecht des Erstgeborenen führt zu Konflikten. – Passivität Jakobs, der sich scheinbar nach Belieben von den Frauen manipulieren lässt: „Die Patriarchen können sich zurücklehnen: Ihre Gene sind in jedem Fall mit im Spiel.“ (p. 142).
„Das System der Tora beruht auf einer simplen Annahme: Wenn eine Katastrophe, eine Krankheit göttliche Strafen sind, dann müssen ihnen menschliche Vergehen – Sünden – vorausgegangen sein.“
365 Verbote und 248 Gebote sollen die göttlichen Strafen verhindern (p. 166).
Kapitel „Die Humanität des Auge um Auge“; „Liebe deinen Nächsten“
Ius talionis, talio = Vergeltung, Ausgleich. Vergehen und Strafe müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen; Prinzip hinter „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Vor allem aber weisen die Autoren darauf hin, dass der Selbstjustiz oder auch dem Recht des Stärkeren mit den Tora-Geboten Einhalt geboten wird.
Die Autoren relativieren dann die „Sentenz“ „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ (Lev 19, 18): „Diese Grundregel der Fairness gehört zur psychischen Grundausstattung der Menschen und ist keine Erfindung der Bibel.“ (p. 177). Siehe auch Diskussion zu Seite 409.
„Wenn Jahwe als orientalischer Durchschnittsgott anfing – wieso gelang ausgerechnet ihm dieser Aufstieg? Warum nicht Kemosch oder Hadad, den Göttern der Reiche Moab und Aram gleich nebenan? Oder Assur, Amun und Marduk, die über Imperien wie Assyrien, Ägypten und Babylon herrschten?“
Die Götter im Karrierewettstreit…
„Ausgerechnet das Volk, das die grössten Niederlagen erduldet, imaginiert sich den mächtigsten aller Götter!“
Und warum? Zum einen, so die Autoren, weil das Grauen, das Volk und Gott überstanden, maximal war. Zum anderen, weil Jahwe in einer Nord- (=Israel) und Südausprägung (=Juda) existierte. Nach der Vernichtung Israels durch die Assyrer (722) erhielt Jahwe in Juda eine zweite Chance. – Das sei einzigartig gewesen für einen Gott – nicht vollends überzeugende Argumentation.
„Jahwe setzte sich in der Götterkonkurrenz endgültig durch, weil er den monokratischen Anspruch der assyrischen Könige übernahm, fortan eifersüchtig gegen alle anderen Götter vorging (…)“
Das Volk Jahwes war unterdrückt und in Not; es projizierte Attribute des Feindeskönig auf den eigenen Gott und stattete ihn mit Allmacht aus. Dafür aber musste unbedingte Gefolgschaft geleistet werden. – Es hat durchaus etwas erfrischendes und zugleich irritierendes, wie die Autoren die Götter als Subjekte einsetzen. Man kann natürlich argumentieren, dass ein Generation überdauernder Gott ein Eigenleben entwickelt.
„Warum sollte man einem Gott die Treue halten, der seine Leute ins Verderben stürzte?“
Babylonier zerstören das Königreich Juda 587 v. Chr. Aber Jahwe geht nicht unter, die Besiegten laufen nicht über zu den Göttern der Sieger. Jahwe straft sein Volk mit dem Sieg Babylons, weil es nicht loyal genug gewesen war.
„Gott sei unsichtbar, hiess es jetzt, und sein Domizil der Himmel.“
Zerstörung des Tempels, der materiellen Präsenz Jahwes, Vertreibung: eigentlich scheint dieser Gott dem Untergang geweiht. Aber seine Priester verwandeln die Katastrophe in einen Triumph: dieser Gott ist unsichtbar, er kann nicht zerstört werden, und es gibt überhaupt nur einen Gott.
„Frisch gestählt entstieg er dem Stahlbad als transzendentes Wesen. Das gelang ihm vor allem deshalb, weil die Arbeit an der Tora, die Verschriftlichung seines Willens, längst einen Abstraktionsprozess in Gang gesetzt hatte: Gott war Wort geworden. Er avancierte zum intellektuellen Prinzip.“
Sind nicht alle Götter „transzendente Wesen“? Jahwe aber wird zunehmend weniger fassbar im Alltag. Die Kapitel ab p. 230 sind in dem Zusammenhang interessant, und einleuchtend: Im Alltag herrschen verschiedene religiöse Gewohnheiten, Archäologen fördern Zeugnisse von pluriformer Religiösität zutage. In den „Königen“ (2. Buch, 23) wird berichtet, dass Josia Götzenpriester absetzte, und unter anderen das Bild der Göttin Aschera aus dem Haus des Herrn entfernen liess. Die Berufung auf die Tora wird wichtiger.
Die Beseitigung dieser Pluralität in Juden- und Christentum und die Unterordnung unter einen Gott ist eine faszinierende Leistung. Im Christentum legen die vielen Heiligen nochmals Zeugnis ab von diesem Bedürfnis nach fassbaren Idolen, die im Alltag eine Rolle spielen.
Die Autoren argumentieren, dass die im Ton so ganz anders gearteten Psalmen das Bedürfnis nach unmittelbarer Ansprache, nach Hilfe im Alltag abdecken. „Gott wird multifunktional. Das ist eine der Meisterleistungen der hebräischen Bibel und Teil ihres Erfolgsgeheimnisses, dass es ihr gelang, intellektuelle und intuitive Religion zu verschmelzen.“ (p. 335) Wie aber gelingt dieser Spagat? Wie bringen die Menschen die Gottesbilder in Übereinstimmung?
«Wenn die hebräische Bibel den Tod die längste Zeit für kein Thema hält, das besondere Aufmerksamkeit verdient hätte, liegt das also daran, dass der Tod kein neues Mismatch-Phänomen, sondern ein altes Faktum war, mit dem sich die Menschen seit Urzeiten arrangiert hatten. Der Tod war eine grosse Selbstverständlichkeit des Lebens.»
Spät wird der Tod im alten Testament zum Thema. Das ist aus heutiger Perspektive erstaunlich… Tod respektive Himmel und Hölle scheinen zentral für die christliche Religion. Im Alten Testament steht aber die Bewältigung des Lebens im Vordergrund. Jahwe war immer ein ‚Gott des Lebens gewesen‘, kein ‚Gott des Todes‘ (p. 359).
Zugleich betonen die Autoren, dass die alltäglichen Dinge, mit denen sich insbesondere die Frauen herumschlagen, auch nicht Thema des Alten Testaments sind. Was ist denn zentral? Die Abwendung der Katastrophen, Schutz vor Feinden, die Kohäsion in der Gruppe. – Warum wird dann der Tod respektive das Leben nach dem Tod doch noch wichtig? Im Leben scheint sich gottesfürchtiges Gebaren nicht immer auszuzahlen, was schwer zu vermitteln ist… «Der Tod wird zur letzten Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit.» p. 349, und „Der Kampf gegen die alte intuitive Religion hatte ein Vakuum in Sachen Jenseits produziert.“ (p. 361)
Strategiewechsel: das Todesreich wird wichtig für Jahwe, in Daniel, 12 ist erstmals von einem Wiedererwachen der Toten die Rede, von „ewigem Leben“ für die einen, von „ewiger Schmach und Schande“ für die anderen.
„Gleiches gilt für die Gebote ‚Liebet Eure Feinde‘ und ‚Bietet auch die andere Backe dar‘. Sie beziehen sich allein auf die Gemeinschaft; sie sind reine Binnenmoral, um ein funktionierendes Zusammenleben zu gewährleisten. Die nahende Apokalypse erfordert ein Maximum an sozialer Kohäsion.“
Wichtige Erkenntnis: „Liebe Deinen Nächsten“ war für Jesus kein universales Gebot, sondern sollte in der jüdischen Gemeinschaft gelten, „reine Binnenmoral“. Welche Haltung aber predigte denn Jesus gegenüber Menschen, die nicht der Gemeinschaft angehörten?
Die Autoren zitieren Mt 13: „Der Menschensohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alles, was zum Abfall verführt, und die da Unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen (…).“, p. 411. Hier kennt Jesus kein Erbarmen. Interessant aber, dass jetzt weniger andere Götter die Feinde sind, sondern das Böse, gegen das Gott und der Menschensohn zum Endkampf antreten, Jesus der Apokalyptiker.
Vergleiche dazu aber den Kommentar zu Lev 19, 18 in der „Stuttgarter Erklärungsbibel“, mit Verweisen auf Mt 5, 43-47 und Lk 10, 29-37, p. 155: „An dieser Stelle ist der Nächste noch nicht jeder Mitmensch, sondern der israelitische Volksgenosse.“ Dann würden die Stellen im Neuen Testament über eine reine „Binnenmoral“ hinausgehen. Bei Lukas ist es ein Nicht-Jude, der die Nächstenliebe vorlebt, ein Samariter. – Dass sich aber die Feindesliebe nicht auf alle erstreckt, wird aus Mt 13 offensichtlich.
„Jesus und die zwölf Jünger, die durchs ländliche Galiläa ziehen: ist es so abwegig zu behaupten, wie begegneten hier einer aus der Zeit gefallenen Gruppe von Jägern und Sammlern?“
Die Autoren umkreisen wieder ein Lieblingsthema: den Bruch, der sich in der menschlichen Psyche mit dem Sesshaftwerden ereignet hat, die Vertreibung aus dem Paradies.
„Auch der hohe Stellenwert der Frauen in der Jesusbewegung passt zu dem, was wir als zurück zur alten Jäger-und Sammler-Kultur beschreiben.“
Jesus als reaktionäre Figur, die an das evolutionär tief verankerte Lebensgefühl in der Phase vor der Sesshaftigkeit appelliert, in der die Frauen eine tendenziell prominentere, gleichberechtigte Rolle spielten.
„‚ Ein unveränderliches Wesen – das ist ein griechisches Konzept, wie Gott sein muss, keines der Bibel.'“
Zustimmend zitiert wird hier der israelische Philosoph Yoram Hazony. – Von da aus startet die Karriere Gottes als „metaphysisches Monstrum“, „notwendig“, „absolut“, „unveränderlich“, „grenzenlos“, „ewig“, „allwissend“ (p. 438) etc. Das Christentum war aber nur überlebensfähig, weil es weiterhin auch Intuition und Emotion anzusprechen vermochte, unter gewaltigen und bisweilen gewalttätigen Spannungen.
„Genuin religiös ist das nicht.“
Nämlich der Appell zur Nächstenliebe, für die die gegenwärtigen Kirchen in der Defensive ihre Zuständigkeit zu behaupten suchen. Die Autoren argumentieren, dass die Nächstenliebe im Grundgefühl der Jäger und Sammler wurzelt, dabei unterstellend, dass die Religion erst mit dem Sündenfall, der „radikalsten Verhaltensänderung, die je eine Tierart auf diesem Planeten absolvieren musste: dem Sesshaftwerden (…)“ (p. 477/8), einsetzt. Ist aber nicht wahrscheinlich, dass bereits die Jäger und Sammler religiös waren, und die Sorge für die Stammesgenossen von zentraler Wichtigkeit war in einem religiösen System, bis hin zu einem Ahnenkult? Oder wollen die Autoren sagen, dass die Nächstenliebe nicht genuin christlich ist? Selbst das liesse sich vermutlich bestreiten, in der Ausprägung der Feindesliebe (selbst wenn sich die nur auf die eigenen Stammesangehörigen erstreckt).
Kapitel „Back to the roots“
Sind wir auf Umwegen auf einem Pfad zurück zu den Jäger & Sammler-Tugenden? „Überall haben sich mehr Demokratie, mehr Freiheit für Frauen, mehr intuitive Religion durchgesetzt.“ (p. 484). Schon etwas merkwürdig (und vielleicht auch naiv), diese Verherrlichung einer Phase in der Evolutionsgeschichte des Homo sapiens, die sehr weit zurückliegt, und die Deutung der Gegenwart in diesem Licht.
(Nebenaspekt: Ist das Zoon Politikon ein Produkt der Sesshaftigkeit? Die Polis ist keine Lebensform der Jäger & Sammler)