Den Himmel zum Sprechen bringen
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Besprechung
Moritz T.
«Mögen die höheren Wesen zumeist nur untereinander sich ausgetauscht haben, die Konversationen der Unsterblichen wurden zuweilen von Sterblichen mitgehört – als würden Pferde vor dem Rennen die Wetten der Zuschauer belauschen.»
Die Götter sind sprechende Wesen. Urverbindung zur Dichtung. – Pferde vor dem Rennen: typisches Sloterdijk-Bild. Was kommt bei dieser Übersetzung ins Rossische wohl raus?
«Vor dem Hintergrund griechischer Theodramatik lässt sich die Frage aufwerfen, ob nicht die meisten entwickelteren ‘Religionen’ ein Äquivalent zu dem Theaterkran bzw. zu dem Balkon für die höheren Wesen besassen?»
Götter wurden im antiken Theater beigezogen, um zwischen Menschen nicht lösbare Konflikte zu entscheiden. Sie konnten aber nicht einfach so die Bühne betreten, das wäre unter ihrer Würde gewesen: sie schwebten von oben herein, auf einem eigens erfundenen Gerät, dem Theaterkran, oder theologeion.
«Die Götter konnten es sich leisten, so zu tun, als gäbe es sie nicht. Dank ihrer Abstinenz wanderte der überangerufene Himmel durch die Zeiten.»
Ihr Schweigen, insbesondere auf Lästerungen der (Un-) Gläubigen, hat den Göttern nicht geschadet.
«Das theo-anthropologische Grossereignis (…) zeigte sich (…) darin, dass der erschienene Gottmensch sich auf eine Epiphanie ohne Rückzugsoption eingelassen hatte. (…) Er konnte nicht hinter der Bühne die Maske absetzen.»
Stand am Ursprung des «Grossereignisses» einfach ein Missverständnis? War gar nie ernsthaft vorgesehen, dass ein Messias tatsächlich erscheint und sich durchsetzt? Hat sich Jesus vielleicht einfach vertan und ist statt im Theater und im Tempel am falschen Ort aufgetreten? Dann musste die Welt zur Bühne werden, und aus dem Stück wurde blutiger Ernst.
„Er sandte sein Leben permanent in die solare Cloud.“
der belichtete und beobachtete Pharao; von der „Theoskopie“.
Vom ägyptischen Pharao im göttlichen «Spotlight» über die Erklärung der Menschenrechte 50 Jahrhunderte später (jetzt jeder ein Pharao) und einer Bildbetrachtung Nikolaus von Kues’ 1453 bis zu Plessners Exzentrität und Selbstbeobachtung im 20. und Chinas digitaler Überwachung im 21. Jahrhundert: Beispiele für den hyperbolischen Stil, mit dem der Autor kühn die Zeiten durchmisst und in einer Selbstverständlichkeit und auf zwei Seiten eher unwahrscheinliche Beziehungen schafft.
„Hingegen müsste ein Gott mit erhöhten Ambitionen in bezug auf Gefolgschaft und Exklusivität sich vornehmen, bestehende Plausibilitätsstrukturen zu sprengen oder sie zu verwandeln.“
Wie kann sich ein neuer Gott und eine neue Religion durchsetzen? Der Autor spielt „marktökonomische“ und soziologische Gesetzmässigkeiten durch.
„Wie sich jüngst auf den Ozeanen gigantische Wirbel aus Plastikabfällen gebildet haben, deren biologischer Abbau Jahrhunderte (…) dauern wird, so könnten auf den Weltmeeren des Seelischen gewaltige Wirbel aus Götter-Rückständen entstanden sein (…). Deren Entgiftung und Rezyklierung ist theologisch, ethnologisch, psychologisch, kulturgeschichtlich und ästhetisch unerledigt.“
„So könnten entstanden sein“: So kühn Sloterdijks Vergleiche sind, er spielt das philosophische Spiel und immunisiert seine Argumentation mit Konjunktiv und rhetorischen Fragen. Aber schon im nächsten Satz „ist“ die Entgiftung dann „unerledigt“. Beispiel für eine Sloterdijksche – sagen wir mal – Zuspitzung. – Die untergegangenen Religionen oder Glaubenselemente sind viel zu selten in den Blick genommen worden. Wenn ein Glaube erlischt, spuken dann die „Theopoetica“ in den Hinterköpfen der Nachgeborenen weiter? Der Vergleich mit dem Ozean-Plastik war offenbar zu verführerisch. Viel näher liegt ein anderes Bild: Man kann sich die obsolet gewordenen Glaubensfiguren als organischen Abfall, als Humus vorstellen, auf dem dann ein nächster Gott seine Blüten treibt. Allerdings gibt es durchaus toxische Hinterlassenschaften, vom Limbus der katholischen Kirche für ungetauft gestorbene Kinder, der über Jahrhunderte gläubige Eltern in die Verzweiflung getrieben haben muss (Kirchen: Vatikan schafft Vorhölle ab – DER SPIEGEL), bis hin zur Polygynie der Mormonen. Und die Frage ist berechtigt, wie diese Elemente eines Glaubens, wenn sie dann offiziell erledigt sind, fortwirken.
„‚Dass die Wahrheit die Wahrheit ist, und wir also ursprünglich der Wahrheit teilhaftig sind, das sagt uns – die Wahrheit selber.‘ Theologe kann werden, wer gern in solchen Zirkeln läuft.“
Leiser Spott für Karl Barth, der Religion als Unglaube denunziert; die Offenbarung kommt direkt von Gott. Wie man das erkennt, ist allerdings eben die Frage.
„Gott ist die Adresse, unter der erfolgreiche Kollektive meinen, sich selbst zu erreichen.“
Nietzsche paraphrasierend.
„Im Garten der Unfehlbarkeit: Denzingers Welt“
Sloterdijk zitiert ausgiebig aus dem «Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen» https://www.herder.de/theologie-pastoral/shop/p2/51313-kompendium-der-glaubensbekenntnisse-und-kirchlichen-lehrentscheidungen-enchiridion-symbolorum-/ , durchaus in denunziatorischer Absicht. Was da die katholische Kirche in trockenem Kanzleistil über die Jahrtausende an Abstrusitäten von sich gibt, ist in der Tat bemerkenswert. Sloterdijk schliesst: «Die Kunst, sich völlig recht zu geben, ist in keinem Gebilde auf gleicher Höhe ausgebildet, ausgenommen der Koran (…)», p. 116. Warum aber kann das dem Katholizismus im Kern nichts anhaben? Vielleicht weil es weniger um Glaubensinhalte und ein schon bald wieder obsoletes 08/15 – Dogma eines beliebigen Papstes geht, als um die Geste des Dogmas, die das koinon, die Gemeinschaft, im Moment zu stärken vermag (vgl auch p. 155).
Nach diesem Exkurs kehrt Sloterdijk nochmals zu Karl Barth zurück, dessen «Kirchliche Dogmatik», ein Versuch, «in Religionsdingen» neu anzufangen, «in grosser Höhe scheitert». Der Autor verweist Barths Monumentalwerk eher in den Bereich der – immerhin grossen – Dichtung. Damit endet Teil I (von II) des Buches, «Deus ex machina, Deus ex cathedra», der die Allgegenwart von Theopoetica in der Geschichte der Menschheit demonstriert, aber halt auch die Schwierigkeiten, die sich mit den Verlautbarungen der Götter ergeben.
«(…) dass ‘unsere Kultur’ seit zweieinhalbtausend Jahren eine Titanenschlacht gegen ihr eigenes Erbe aus paläolithischen, neolithischen und bronzezeitlichen Mystifikationen führt, mitunter auch im Namen der Philosophie. Die anhaltende und nicht entschiedene Schlacht wurde unter den Flaggen der empirischen Wissenschaften (…) und zu guter Letzt der Allgemeinen Kulturtheorie geschlagen – bei deren philosophischen Hilfstruppen der vorliegende Versuch sich eingeschrieben hat.»
Bekenntnis an eher unauffälligem Ort; der Autor weiss, auf welcher Seite er steht, und vermutlich soll das Buch auch Auskunft geben über den (aktuellen und historischen) Frontverlauf.
«Nun lässt sich sagen, was Atheisten vorzuwerfen ist: Die resolut Beziehungsunwilligen stehen im Streik gegen das koinon, das Gemeinsame, den vereinigenden Geist. Sie haben (…) nach Platons Ansicht als Saboteure des fragilen Wir den Tod verdient.»
Platons nomoi mit totalitären Tendenzen.
„Zugleich bildet die Rede von der ‚Götterdämmerung‘ eine Denkfigur zur Deutung des Ablaufs und Zerfalls von Plausibilitätsstrukturen in ‚heissen Gesellschaften‘. Sie bringt den Wärmetod der Fiktionen zur Sprache, mit deren Hilfe sich historische Völker bzw. endogen stabilisierte Kulturen ihre Einhausung in den Weltkontext zurecht gelegt hatten. Die Dämmerung bezeichnet das Endspiel von kulturellen Kollektiven, die ihre Vorräte an vereinigender Naivität oder an soziogener Simulationsfähigkeit aufgebraucht haben.“
Sloterdijk-Sound. Was hat man unter „historischen Völkern“ zu verstehen? Wie sehen exogen stabilisierte Kulturen aus?
Wagner als Kronzeuge für die einsetzende Götterdämmerung.
„Ein neues theologeion schwebt über der politisierten Szene herein: die Presse. Der zum Sprechen gebrachte Himmel hat die Kioske erreicht.“
Selten um ein bonmot verlegen. Auf die Götterdämmerung folgt die „Gesellschaft“, in der sich „empirische Zustandsbeschreibung und säkulare Predigt“ annähern. Könnte man das nicht auch vom vorliegenden Buch behaupten?
„An Comtes Fabulationen lässt sich ablesen, wie es klingt, wenn progressives Philistertum ins Umfassende schreitet. Sie bezeichnet die Tendenz der Epoche – im damals noch weltbeherrschenden europäischen Raum: der Übergang der ‚Religion‘ ins Stadium der Parodie.“
Die „Gesellschaft“ ersetzt die Götter, die (Proto-) Soziologen des 19. Jahrhunderts sind die neuen Propheten. Dogma: die Gesellschaft ist im Übergang, das erfordert „Selbstbeunruhigung“ als „erste Soziologenpflicht“, sodann „Lagebesprechung und Krisenberatung“ (p. 180).
„‚Religion‘ bleibt bemerkenswert, solange sie ihre Faszination hütet – sprich: sofern sie die Fähigkeit an den Tag legt, durch vernunftferne Verzauberungen, bizarre Rituale, und wohldosierte Absurditäten Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
„Absurditäten“ als geradezu konstituierendes Merkmal einer Religion; und „wohldosiert“ ist relativ. Man nehme beispielsweise den Gründungsmythos der Mormonen.
„Die radikalste, zugleich fragwürdigste Innovation in der Poesie des Exzesses zeigt sich in der Entschlossenheit früher christlicher Prediger, das Sterben und den Tod in eine Steigerung zu involvieren, aus der ein morbider Superlativ entstehen sollte.“
Mit der Erfindung der Hölle wird die Todes-Agonie perpetuiert. Es geht eben nicht nur um die Gerechtigkeit im Jenseits; die Folterqualen, die sich Menschen zufügen können, gehören zu den traumatischsten Erfahrungen im kollektiven Bewusstsein. Wenn nun solche Qualen gar nicht mehr aufhören, sondern sich bis ins Unendliche wiederholen, dann ist das eines der stärksten Druckmittel, die man sich vorstellen kann, und beruht, mit Nietzsche zu reden, „auf einer Art ‚Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, die schlechterdings nicht seinesgleichen hat'“. (p. 233)
Sloterdijk zieht eine Steigerungslinie vom Todeskampf (Positiv) über die Verlängerung der Qualen in der Folter (Komparativ) hin zum ewigen Aufenthalt im Höllenfeuer (Superlativ).
«Es geht vielmehr um die Frage, wie es möglich wurde, dass aus Schriften von evidentem Zitat- und Kompilationscharakter (…) gesellschaftsformende, zivilisationsbestimmende, seelenformbildende Absoluta entstehen konnten.»
Zentrale Frage. Wie es also tatsächlich gelang, «den Himmel zum Sprechen zu bringen», in der Erfolgsgeschichte des Christentums und des Islams.
«Man könnte glauben, die von den ägyptischen und syrischen Wüstenmönchen in Kampagnen nach innen mobilisierten Kräfte hätten sich nach einem Moratorium von nahezu zwölfhundert Jahren ins Offensive gewendet.»
Die Rede ist von (katholischen) Missionaren, die mit beeindruckendem Eifer in «konträrste Umwelten» zogen, um «die erhabenen Absurditäten eines kaum übersetzbaren, doch Gott sei Dank leicht simplifizierbaren Glaubens zu verkünden». (p. 297) – Sloterdijk wendet mit frischem Blick der psychischen Energie seine Aufmerksamkeit zu, die für den nachhaltigen Erfolg des Christentums von Bedeutung war. Vielleicht hätte man quasi als Zwischenglied die Praktiken der mittelalterlichen Klöster anführen können; ein Moratorium von zwölfhundert Jahren tönt natürlich spektakulärer. – «Gott sei Dank»: souverän platzierte Ironie.
«(…) so brachten sie Globus-weit das Portrait eines kosmisch kompetenten, expansionslustigen, gemeinschaftsstiftenden und zugleich mit jeder einzelnen Seele intim verwobenen Gottes zur Geltung. Sein stärkstes Merkmal bestand offenkundig in seiner Fähigkeit, ältere Bilder von jenseitigen Mächten zu absorbieren, um so, fast unbemerkt, aus kompakten Ortsgöttern den einen Himmlischen, Überhimmlischen, weltlos Transzendenten zu machen (…)»
Ein weiterer Grund für den Erfolg des Christentums, nicht ganz originell, aber hübsch aufwendig formuliert.
«Was seine luxurierende Natur am meisten bezeichnet, ist die Freisetzung der Wahrnehmungen zu einem alarmfernen, unfokussierten, von Intentionen abgespannten Schweben.»
Sloterdijk definiert den Menschen, in der «privilegierten Verlegenheit der Weltoffenheit». Aber das macht ihn nicht zu einem «Mängelwesen». Eher zu einem Wesen der freien Räume.