Der Mensch als von Natur aus kooperatives und politisches Lebewesen

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SEITE: 12 ad.valsan 2 Kommentare
Stelle:

Mein Ziel wird es dabei sein, ein Konzept zu entwerfen, welches in jeder einzelwissenschaftlichen Forschung an der menschlichen Kognition anwendbar ist und
ihren Nutzen darin findet, dieser speziellen Forschung anhand eines geteilten
Untersuchungsgegenstandes ihren entsprechenden Platz in der gemeinsamen Diskussion
um die menschliche Kognition und in der Frage nach dem menschlichen Denken
zuzuweisen (Kapitel 3). Ich erachte dieses Unterfangen als besonders wichtig, da die
gegenwärtige Zusammenarbeit in der anthropologischen Kognitionsforschung kein
explizites theoretisches Fundament zu haben scheint und daher unkoordiniert wirkt. Um es provokativ auszudrücken: Die bisherige Zusammenarbeit gleicht eher einem parallelen
Nebeneinander mit glücklichen Überschneidungen als einem produktiven Miteinander mit intendierten Innovationen. Gründe dafür liegen zumeist darin verortet, dass vielen
Disziplinen nicht deutlich genug ist, was ihr zu Grunde liegender Forschungsgegenstand ist oder in welcher Relation sich eigene Forschungsergebnisse zu denen aus anderen
Disziplinen befinden. Es handelt sich also im Groben um begriffliche beziehungsweise
ontologische und Steuerungsprobleme. Ein konsistentes theoretisches Fundament zu einem interdisziplinär geteilten Forschungsgegenstand, so meine Überzeugung, liefert der
humanen Kognitionsforschung das Werkzeug, um aus dem bisherigen multidisziplinären
Forschungspragmatismus eine gute und koordinierte interdisziplinäre wissenschaftliche
Praxis werden zu lassen. Hervorhebungen AV

Anmerkung:

Aus meiner Arbeiterfahrung kann ich Rs Anliegen nur gutheissen. Meine Erfahrung stammt zwar nicht aus der Kognitionsforschung, dennoch teile ich seine Ansicht bzgl der Probleme / Herausforderungen für interdisziplinäre Forschung – und zwar  bezüglich der Gesamtaussage wie bezüglich der kursiv hervorgehobenen Aussage.

SEITE: 23ff ad.valsan 1 Kommentar
Stelle:

Tomasellos Forschung zur Anthropologie erfüllt somit beide oben aufgeführten Kriterien
einer differenziellen Anthropologie – auch wenn er sich selbst nicht dieser Bezeichnung
bedient. Sie erfolgt interdisziplinär und nicht reduktionistisch. Doch fällt seine Arbeit
damit nicht in alte dualistische Konzepte zurück, denn sein Erklärungsanspruch ist es, eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens51 zu entwickeln, was bedeutet, dass er die menschliche Kognition als Wirkung der menschlichen Evolution erklären und somit als natürlich gewachsenes Phänomen darstellen möchte. Dabei findet er in der Differenzierung der Terminologie einen Lösungsweg zur Überwindung der Dualismus-Reduktionismus-Dichotomie.
Diese wird aufgelöst, indem sich Tomasello eines sprachphilosophischen Kniffs bedient. Er postuliert eine einzige evolutionäre Anpassung des Menschen – die Hypothese geteilter
Intentionalität, später kollektiver Intentionalität –, welche die gesamte menschliche
Kognition revolutioniert.52 Nach dieser Revolution reicht ein Begriffsvokabular, welches
alleine auf biologischen Begriffen beruht und Neuronen und Gene als Stein der Weisen
glorifiziert, nicht mehr aus um die Kognition des Menschen adäquat zu beschreiben.
Trotzdem bleibt die Beschreibung des Ursprungs der kognitiven Leistung des Menschen
durch natürliche Begriffe möglich. Kognition wird somit als natürlich gewachsenes
Phänomen verstanden, das eine vollkommen andere, von der Natur differenzierende,
Begrifflichkeit zu seiner Beschreibung benötigt. Dies wird schon allein dadurch ersichtlich, dass sich Tomasello zur Formulierung seiner zentralen These des Begriffs der
Intentionalität bedient, der spätestens seit Franz Brentano53 ein klassischer
geisteswissenschaftlicher Terminus ist.
In seiner Ausarbeitung einer differenziellen Anthropologie widerlegt Tomasello weiterhin
reduktionistisch verfahrende Theorien beziehungsweise spricht ihnen ihren allgemeinen
Erklärungsanspruch ab und weist ihnen ihren Zweck im Kontext einzelwissenschaftlicher
Betrachtungen zu – differenziert also im oben genannten Sinne. Exemplarisch dient dafür
seine Argumentation gegen kognitive Modultheorien – namentlich von John Tooby und
Leda Cosmides. Diese behaupten, dass sich Kognition modular entwickelte und sich diese
Module im genetischen Erbgut abgebildet finden. So gibt es beispielsweise Module für
Sprache neben Modulen für Mathematik und Musik. Tomasello zeigt auf, dass die
Beschreibung der menschlichen Kognition als „Schweizer Taschenmesser“54 durchaus als
Propädeutik der kognitiven Psychologie nützlich sein kann, sie aber versagt, wenn es um
die Erklärung der Entstehung der menschlichen Kognition geht. Zumal sich diese
vermeintlichen Module teilweise überschneiden, sich gemeinsam weiter entwickeln und
sich durch den Gebrauch von Sprache, Zeichen und dem Erlernen von zu Grunde
liegenden Normen grundlegend revolutionieren.

Anmerkung:

Rs Ausführungen scheinen mir wichtig:

  • um Ts Argumentationsweise zu verstehen,
  • um einige Gründe meines Bauchwehs bzgl. T  Methodologie zu verstehen,
  • um mein grundsätzliches Interesse an diesem ‚Übergang‘, aber auch meine diesbezüglichen Schwierigkeiten auszuleuchten

Aber auch nach mehrmaliger Lektüre dieses Abschnitts, weiss ich immer noch nicht, wie ich Rs Darlegung verstehen bzw. Ts sprachphilosophischen Kniff bewerten soll:

  • Ist der Kniff ein Taschenspielertrich, der mich zum Getäuschten macht?
  • Ist der Kniff ein sprachlich oder methodisch geschicktes Vorgehen, um eine Aufgabe einer (echten?) Lösung zuzuführen?

Das von R (auf Seite 25) wiedergegebene Zitat ist vor mich nur parziell einleuchtend:

„[S]ie versuchen, von der ersten Seite der Geschichte, nämlich der Genetik, zur
letzten Seite, der gegenwärtigen menschlichen Kognition zu springen, ohne
einen Blick auf die dazwischenliegenden Seiten zu werfen. Diese Theoretiker
lassen somit in vielen Fällen formgebende Elemente sowohl des
geschichtlichen als auch des ontogenetischen Zeitrahmens außer Betracht, die
zwischen dem menschlichen Genotyp und Phänotyp eingeschaltet sind.“58

Aus evolutiontheoretischer Sicht kann ich T nur beipflichten, dass (biologische) Evolution in kleinen Schritten erfolgt, dass in der menschlichen Ontogenese vermehrt auftretende ‚Lernfenster‘ entstehen, dass ko-evolutionäre Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind. Aber all diese Prozesse müssen von den entsprechenden Wissenschaften BESCHRIEBEN werden. Wie soll das bewerkstelligt werden? Müssen zwischen das (kausale) naturwissenschaftliche und das (intentionale) gesteswiss. Sprachspiel feinst differnzierte, neue (für mich noch namenlose) Sprachspiel er/gefunden werden?

Da hoff ich auf die andern Gruppenmitglieder, dass die mehr davon haben: mehr Gehirnvermögen oder doch eher Denkvermögen!

Vielleicht müssen wir einfach geduldig sein: R hat ja noch etliche Kapitel geschrieben!

SEITE: 31-37 ad.valsan 3 Kommentare
Stelle:

Kapitel 2.1.3, vor allem mit Fokus auf Rs Darstellung der methodischen Diskussionen zwischen T und Boesch, sowie Rs diesbezügliche Interpretationen.

Insbesondere:

S. 34:
Selbst wenn man jedoch Boeschs Einwand ohne Einschränkungen anerkennen sollte, zeigt sich ein erheblicher qualitativer Unterschied zwischen den Kooperationsformen der Schimpansen und denen der Menschen: Während die vermeintliche Kooperation der Großaffen extrem situationsbezogen, sehr selten und zudem sehr kurzlebig zu sein scheint, ist die Kooperation von Homo Sapiens viel universeller und langlebiger.94 Es gäbe also noch immer genug Grund, um an einem wesentlichen Unterschied zwischen den Arten fest zu halten.

S. 37:
Sollte aller Vermutung zum Trotz dennoch ein echtes stabiles Verhalten gemeinsamer
Intentionalität bei nichtmenschlichen Primaten beobachtet werden, dass jeglicher
Gegenkritik Stand hält, wäre Tomasellos Unterfangen zur anthropologischen Differenz
dennoch nicht gänzlich gescheitert. In seinem 2014 erschienenen Werk Eine
Naturgeschichte des menschlichen Denkens106 bildet das Aufkommen der geteilten
Intentionalität nur eine Vorstufe in der Phylogenese des modernen Menschen, der sich
letztendlich durch seine Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität auszeichnet.

Anmerkung:

Meine nachfolgenden Gedanken sind nicht ein FAZIT, sondern eine ERLÄUTERUNG der methodischen Schwierigkeiten der Forschungsfeldes von T und Boesch.

T will eine Naturgeschichte schreiben. Explizit folgt das auch aus seinen früheren Büchern: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens 2014 und Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral 2016.

Was aber heisste es, eine Naturgeschichte zu schreiben? Das heisst, durch Analyse von Überkommnissen vergangene Prozesse/Strukturen/Entitäten zu rekonstruieren; was ausschliesslich sprachlich möglich ist! Überkommnisse sind heute vorfindbare Naturgegenstände, die als Etwas interpretiert werden, das die vergangene Zeit (hinreichend unbeschädigt) überdauert hat und mir daher Prozesse/Strukturen/Entitäten aus der Vergangenheit erschliessbar macht. Ein lebensweltlicher Vergleich: es ist die Arbeitsweise eines Detektivs!

Überkommnisse für Ts Forschungsfeld – Kognition bzw. Verhalten – konservieren sich leider verd… schlecht. Darum spricht R auch von Spekulation – siehe Seite 45f

Ich will nun eine ebensolche Spekulation entwerfen, um die Problematik solcher Forschung zu verdeutlichen – ich mach das auf eher witzige Art, aber dennoch mit absolut ernster Absicht:

Es ist das Jahr 102’002: Chichi Pimpi,  Prof. für Panologie, spezialisiert auf die Naturgeschichte seiner Art, Pan Troglodytes, sitzt in seinem Baumhaus. Er hat in Katakomben mit Zeichen übersähte und in Leder eingebundene Papiere gefunden, ein Exemplar hat die Jahrtausende besonders gut überstanden – wie Materialspezialisten vermuten, dank des Goldschnitts. Mit Hilfe von Computerprogrammen ist es Prof. Pimpi gelungen, die von der ausgestorbenen Art (Homo Sapiens) stammenden Überkommnisse zu interpretieren. Er stösst auch auf Beschreibungen von Feldforschungen im Regenwald der Elfenbeinküste. Hier wird Prof. Pimpi hellhörig, ja er ist geradezu elektrisiert: Von diesem Gebiet stammen die frühesten Vorfahren seiner Art, die Frü-Pane, was durch ausgeklügelte Recherchen und Höhlenfunde belegt werden konnte. Mit fortschreitender Lektüre im gefundenen Überkommnis (die Homo nannten es ‚Buch‘) empört sich Prof. Pimpi zusehends: „Was behauptet dieser Tomasello? Wir wären nicht zu gemeinsamer Intentionalität fähig? Vor 100’000 Jahren – wir wurden damals von Homo Sapiens bezüglich unserer Nahrungsgrundlagen arg bedrängt – haben wir doch nach und nach gelernt, uns über Trommelzeichen bezüglich des Vorgehens bei der Jagt zu verständigen. Hätte der Boesch doch gründlicher hingehört, als nur hingeschaut. Wir waren doch damals gerade ’süüferli‘ dran, eine gemeinsame Intentionalität zu entwickeln. Je mehr die Homos uns damals die Nahrung zerstörten, im so intensiver mussten wir den Panini unsere Trommel-Codes beibringen… Prof. Pan entscheidet sich, morgen in Wikipania einen Eintrag zu verfassen: Boesch hatte doch recht!

SEITE: 33f ad.valsan 1 Kommentar
Stelle:

Tomasello hingegen hält die Verwendung des
kooperativen Vokabulars [durch Boesch] für übereilt und nicht angemessen. Nach ihm gleicht die Jagd der Affen derer von Löwen oder Wölfen, bei denen man sich ebenfalls nicht einer solchen Beschreibung bedient. (S 33 oben)

[…]

Ich möchte an dieser Stelle die Aufmerksamkeit noch auf ein Detail meiner Darstellung
des Streits lenken: Es geht mir dabei um die unterschiedliche Bewertung hinsichtlich des
Status der Wissenschaftlichkeit von quantitativen gegenüber qualitativen Zugängen zum
Forschungsfeld. Tomasello arbeitet ohne Frage vor allem quantitativ und trifft nun auf die
Kritik Boeschs, der diese auf qualitative Beobachtungen gründet. Er widerspricht ihm
unter anderem mit dem Argument, dass bisher viel zu wenige Beobachtungen gemacht
wurden, in denen scheinbar kooperatives Verhalten protokolliert wurde und dass viele
quantitative Studien gegen eine Beschreibung des Verhaltens von Schimpansen in
Begriffen echter Kooperation sprechen. (S. 34 unten)

Anmerkung:

Meines Erachtens differenziert R hier zu wenig, wie sich T diesbezüglich verhält, kann ich nicht klären, da mir die Originaltexte fehlen.

Es gilt hier zu unterscheiden zwischen

  1. der Art des (Beschreibungs)Vokabulars,
  2. der qualitativen oder quantitativen Datenerhebung bzw. -auswertung
  3. dem Kontrollgrad der Versuchanordnung bei der Erhebung (reine Beobachtung / Realsimulation / Experiment)

Hier wünschte ich mir von R, aber auch von T, mehr Klärung:

ad 1) zumindest in Ts ‚Mensch werden‘ beschreibt er seine Versuche mittels eines ‚kooperativen Vokabulars‘, ob auch in den Originalpublikationen ist unklar.

ad 2) die Charakterisierung von Boeschs Forschung als bloss qualitativ bzw. von Ts Arbeiten als quantitativ erscheint mir unangebracht! Diese Termini werden von R (und vielen anderen ForscherInnen) mit 3 vermengt. Aus  M.Wunschs Artikel (vgl Rs Fussnote 68)  geht hervor, dass Boesch seine Daten auch quantitav ausgewertet hat.

ad 3) Reine Beobachtung ist dadurch charakterisiert, dass die Datenerhebung unter minimal invasiven Bedingungen bzgl. des interessierenden Phänomens erfolgen soll, bei Experimenten soll das interessierende Phänomen unter maximal kontrollierten Bedingungen vermessen werden. Realsimulation verfolgen hier – je nach Fragestellung – eine partielle Kontrolle und somit eine partiell invasive Datenerhebung.

Hier geht es nicht nur um eine Spitzfindigkeit bzw. begriffliche Pingeligkeit eines gewissen AV, sondern um die unterschiedliche Aussagekraft dieser verschiedenen Methoden, insbesondere bzgl biologischer (und sozialer) Phänomene. Dieser Punkt klingt in gewissen Kriken gegenüber Ts Methoden auch leise an:

Ts Daten resultieren aus – mehr oder weniger – ‚künstlichen‘ Versuchsanordnungen. Daraus folgt, dass seine Resultate (lediglich) demonstrieren, wie Menschenaffen bzw. Menschenkinder sich unter künstlichen Bedingungen verhalten. Wie aber würden sie sich unter natürlichen oder zumindest naturnäheren Bedingngen verhalten. Boeschs Arbeiten versprechen, genau hierauf eine Antwort zu geben.

 

SEITE: 45 ad.valsan Keine Kommentare
Stelle:

Dabei gibt es zwei bedeutende logische Probleme zu beachten: Erstens, der gemeinsame
Vorfahr von Mensch und Großaffe lebt nicht mehr, er kann nur theoretisch rekonstruiert
werden. D.h. im Speziellen ist es durchaus denkbar, dass auch Schimpansen sich –
ebenfalls in kognitiver Hinsicht – auf ihrem Zweig des Stammbaumes evolutionär
weiterentwickelt haben. Zweitens hat die Evolution des Menschen mehrere
Zwischenstufen angenommen, die sich auch ebenfalls einer behavioralen Untersuchung –
wie Tomasello sie bevorzugt – entziehen, da es keine lebenden Individuen dieser Arten
mehr gibt. Auch eventuelle Frühmenschen können nur theoretisch rekonstruiert werden.
Aus diesem Grund weist Tomasello auch immer wieder darauf hin, dass seine
Darstellungen letztlich eine „hypothetische Naturgeschichte“130 erzählen. Diese Einwände sind von großer Bedeutung in der Suche nach Wesensmerkmalen. Fähigkeiten, die wir mit Menschenaffen gemeinsam haben, können keine differenzierenden Wesensmerkmale sein, bieten jedoch einen guten Anlass zur Spekulation über die Fähigkeiten unserer (gemeinsamen) evolutionären Vorfahren. Eine Spekulation bleibt es dennoch, da es auch denkbar möglich ist, dass Schimpansen parallel zu Menschen Fähigkeiten entwickelt haben, auf die unsere gemeinsamen Vorfahren nicht zurückgreifen konnten. Gehaltvoll und wissenschaftlich wird diese Spekulation, wenn sie mit weiteren Indizien aus Vergleichsstudien mit anderen Menschenaffen unterfüttert wird.

Anmerkung:

A) Hier bringt R etwas zur Sprache, das ich – beispielweise im Rahmen eines Einführungskapitels – im Buch von T erwarte.

B) R spricht von logischen Problemen. Meines Erachtens geht es hier nicht um logische sondern um methodologische Probleme und damit zusammenhängende methodische Herausforderungen und nötige diesbezügliche Klärungen/Deklarationen.

C) T spricht im Buch, wie auch im Untertitel, von Theorie, ebenso spricht R öfters von Ts Theorie. Dies ist meines Erachtens keine angemessene und schon gar nicht die methodologischen Herausforderungen korrekt kennzeichnende Begriffverwendung. T konstruiert Naturgeschichten, also Beschreibungen früher abgelaufener, als konkret gedachte Prozesse/Zustände/Verläufe und zwar in unterschiedlichem Detaillierungsgrad. Ts Forschung ist also nicht Theorie produzierend, sondern Theorie konsumierend: In Kenntnis und Anwendungen von Theorie (re)konstruiert T vergangene Verhältnisse. Er beschreibt, wie es war oder zumindest wie es hätte sein können/müssen, so dass der jetzt lebende Homo sapiens sich aus Vorfahren über viele Zwischenschritte hat entwickeln können. Da – wie weiter oben ausgeführt – für Ts Forschungsfeld sehr wenig Überkommnisse vorliegen, sind seine Geschichten wenig sachlich abgestützt und können daher (und werden von R) als spekulativ bezeichnet. Dies ist T aber nicht zum Vorwurf zu machen. Mein Vorwurf ist nur, dass er diese Zusammenhänge offener deklarieren müsste. Das setzt voraus, dass sie ihm überhaupt bewusst sind.

 

SEITE: 46 Moritz T. 1 Kommentar
Stelle:

„Menschen handeln gemeinsam, Schimpansen handeln gegenseitig (…). Wer kollaboriert,
handelt nach Kriterien der Nützlichkeit. Wer kooperiert hat die Gerechtigkeit als
maßgebliches Kriterium.“

Anmerkung:

Eine Elefantenherde unterstützt einen jungen Elefanten beim Versuch, aus einem Schlammloch zu kommen. Der junge Elefant droht zu ertrinken.

Elephant Herd Saves Baby Elephant From Drowning – YouTube

Was passiert hier? Schwierig zu bestreiten, dass wir hier einen Fall von geteilter Intentionalität beobachten…

Kollaboration oder Kooperation, nach der Definition von Reimann? Man kollaboriert hier, um den jungen Elefant zu retten. Das ist nützlich, weil (mindestens) teilweise eigenes Gengut in Gefahr ist, und der junge Elefant das Überleben der Herde mit sichert. Menschen sind zweifellos zu ganz anderen Spielarten der Zusammenarbeit in der Lage, bei der auch „Gerechtigkeit“ (etwas unvermittelt eingeführter Begriff) eine Rolle spielt. Aber ist für den Menschen die Gerechtigkeit nicht auch nützlich, weil sie Spielregeln zu beachten hilft, die wiederum das Überleben sichern helfen?

SEITE: 107 Moritz T. 3 Kommentare
Stelle:

„Moderne Menschen und ihre evolutionär nächsten Verwandten – die Großaffen – teilen
99% ihres genetischen Materials, dennoch sind sie nicht untereinander
fortpflanzungsfähig und unterscheiden sich in ihren kognitiven Fähigkeiten enorm
voneinander. Hinzu kommt, dass zwischen ihrem Aufkommen in der Evolutionsgeschichte
nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne liegt – archäologische Belege für menschliche
kognitive Errungenschaften sind zudem auf lediglich 250’000 Jahre zuvor datierbar, was
die Zeitspanne für eventuelle genetische Mutationen noch mehr verkürzt. Worin also
gründen die vielfältigen und komplexen Formen menschlicher Kognition, wenn für
genetische Anpassungen zu wenig Zeit und zu wenig prozentualer Raum zur Verfügung
steht?“

Anmerkung:

Unter dem Eindruck von „Tagebuch der Menschheit“: wie kann es sein, dass die Menschen vor ca 10’000 Jahre  sesshaft wurden und sich dem Ackerbau zuwandten, und die kulturelle Entwicklung dann sprunghaft vorantrieben, ohne dass die Evolution Zeit gehabt hätte, mit genetischen Veränderung diese Revolution vorzubereiten / mit Aenderungen im Genom zu reflektieren?

Wäre denkbar, dass die genetischen Voraussetzungen für eine kollektive Intentionalität schon sehr lange da waren, aber erst seit der Jungsteinzeit zur Entfaltung kamen?

Dann wäre vielleicht eben die Ausgangslage nicht so eindeutig, wie Reimann p. 106 annimmt:

„Die Frage nach der Wirkursache der Kooperation ist also eindeutig die Frage nach der
Evolutionsgeschichte des menschlichen Leibes im Hinblick auf seine Veranlagung zur
Kooperation und genau diese versucht Tomasello in seinen Naturgeschichten zu
rekonstruieren.“

Weitergabe von kulturellen Techniken, evtl auch epigenetische transgenerationale Prozesse müsste man dann bei der Wirkursache mit in den Blick nehmen.

 

Vgl auch den Abschnitt p. 118:

„Mit jeder dieser zwei sogenannten Wenden geht eine Revolution der Lebensweise und
somit der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Individuums einher. Frühmenschen
ließen sich kognitiv und emotional auf ihre KooperationspartnerInnen in ihren kleinen
Gruppen ein und waren auf diese Gruppen für ihr Überleben angewiesen. In dieser kleinen
sozialen Gruppe entwickelten sich ihre kognitiven Fähigkeiten und fanden beispielsweise
mit der Zeigegeste311 neue Formen der Kommunikation, die in Prozessen sozialen Lernens
von Artgenossen übernommen wurden. Ihre formale Weise zu kooperieren wandelte sich
also auch mit ihrer neuen Lebensweise. In der zweiten Wende wandelte sich diese
Lebensweise noch einmal. Aus der kleinen Kooperationseinheit entstanden mit der
Kollektivierung von Intentionen immer größere Gruppen, Familien, Stämme bis hin zu
heutigen Nationen und internationalen Gemeinschaften.“

 

 

SEITE: 110 bheym 1 Kommentar
Stelle:

„Die eine betrifft Überlegungen zum evolutionären Ausgangsdruck, der den Menschen kooperativ werden ließ, …“

Anmerkung:

BR stellt die Frage, worin der evolutionäre Druck bestanden haben mag, dass sich bei Menschen die Fähigkeit zur Kooperation herausgebildet hat, und stellt fest, dass es dazu wenig Aussagen gibt und es sehr schwierig bis unmöglich scheint, dazu belastbare Indizien zu finden.

Er beantwortet die Frage schließlich so, dass es nicht notwendigerweise einen „materialen“ evolutionären Druck (etwa analog zum Meteoriteneinschlag und damit einhergehende drastische Klimaveränderungen, an die sich die Arten anzupassen hatten) gegeben haben muss, sondern dass es reicht, wenn Vertreter der Gattung homo ohne vorhergehende genetische Veränderungen mehr oder weniger zufällig begonnen haben, Ansätze von geteilter Intentionalität zu zeigen und sich dies nach und nach durchgesetzt hat, weil sich diese Art von Verhalten als evolutionär vorteilhaft erwies. Er bezeichnet dies als formale Wirkursache im Abgrenzung von der nicht auffindbaren materialen Wirkursache.

Ich finde diese Sicht plausibel, zumal ich mir schon länger die Frage gestellt habe, inwiefern ein evolutionärer Druck überhaupt eine notwendige Voraussetzung ist. Natürlich gibt es zahlreiche Beispiele, in denen man Entwicklungen als Antworten auf einen evolutionären Druck nachzeichnen kann, aber es mag auch solche geben, die einfach durch puren Zufall entstanden sind und die in der Folge zu einer Überlegenheit der betroffenen Art geführt haben. Nach meinem Verständnis ist dies ein ganz wesentliches Prinzip der Evolution – die Rolle des Zufalls.

Eine Konsequenz hiervon wäre, dass sich die Frage nach dem evolutionären Druck nicht zwingend stellt, weil man ihn nicht notwendigerweise braucht. Ich weiß nicht, ob BR dies so meint, wenn ja, hätte er es noch expliziter und prägnanter schreiben können. Bei ihm entsteht der Eindruck, dass das Ausbleiben eines konkreten evolutionären Drucks bei der Entwicklung des Menschen einen Sonderfall darstellt.

SEITE: 135 - 141 bheym 1 Kommentar
Stelle:

Kurze Reflexion zum Abschnitt Aristoteles – Teleologie

Anmerkung:

BR argumentiert, dass die Teleologie bei Aristoteles in keiner Weise mit einer Rückverursachung gleichzusetzen ist. Letztere besagt, dass vorgängig etwas passiert, damit in der Folge ein Ziel erreicht wird. Das zu erreichende Ziel verursacht somit dasjenige, was vorgängig passiert, obwohl es in der Vergangenheit liegt (normalerweise ist natürlich die Wirkung der Ursache nachgelagert).

Das Argument besteht darin, dass der Mensch von Natur aus zur Vergemeinschaftung strebt, er kann gewissermaßen nicht anders und könnte anders auch nicht überleben. Es ist ähnlich wie bei einem zu Boden fallenden Stein: der kann auch nicht anders. Der am Boden liegende Stein ist die Finalursache, der Endzustand eines Prozesses. Dieser Endzustand ist aber nicht so zu verstehen, dass er eine Art magische Anziehungskraft auf den Stein ausüben würde und der Stein deswegen zu Boden fiele. Teleologie meint hier, dass der Prozess zwar auf ein als Zweck, Ziel oder Finalursache bezeichneten Endzustand hin gerichtet ist, aber diese Gerichtetheit ist nicht durch den Endzustand selbst verursacht, sondern sie liegt in der Natur der Entität, sie ist dieser immanent.

Ich finde diesen Gedankengang von BR (und er ist sicher nicht der erste, der ihn vorbringt) absolut plausibel, nur ist er nach meinem Dafürhalten unnötig kompliziert dargestellt. Es mutet fast etwas esoterisch an, wenn gesagt wird, der Mensch sei von Natur aus politisch und strebt daher immer nach Vergemeinschaftung und Staatenbildung, weil dies wie eine wenig wissenschaftlich anmutende Pauschalaussage daherkommt („der Mensch ist eben so“). Der Kern der Idee ist dabei doch sehr einfach: Die Entitäten streben auf etwas zu, weil ihre Beschaffenheit und die natürlichen Gesetzmäßigkeiten (auf der grundlegendsten Ebene etwa die Beschaffenheit der Materie und ihre Wechselwirkungen) dies bedingen. In mathematischer Sprechweise konvergiert ein Prozess gegen den Endzustand, weil die Bedingungen eben so sind, oder, physikalisch ausgedrückt, weil natürliche Kräfte die Bewegung zum Endzustand bewirken. Eine wissenschaftliche Erklärung würde nun die „Bedingungen“ oder die wirkenden Kräfte adressieren und eine Modell/eine Theorie für sie postulieren.

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