Der Mensch als von Natur aus kooperatives und politisches Lebewesen
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Besprechung
ALLE BESPRECHUNGEN„Ich vertrete dabei die verbreitete Überzeugung, dass Interdisziplinarität, als dialogisches Ringen mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen um Wissen eines gemeinsamen Problemfeldes, nur möglich ist, wenn sich die beteiligten Disziplinen gegenseitig als gleichwertig anerkennen.
In diesem Sinne ist Interdisziplinarität allem voran ein politisches Projekt, das auf die
Kooperation ihrer Teilnehmer angewiesen ist, die auf eine zielführende Art und Weise
gesteuert oder auch navigiert werden muss. Wir werden sehen, warum das der Natur der
Sache und der des Menschen entspricht.“
Etwas überspitzt: Interdisziplinarität entspricht der menschlichen Natur, glücklicherweise haben wir sie entdeckt…
„Wissenschaft, und das gilt gerade für interdisziplinäre, lebt von
politischen Prinzipien wie Weltoffenheit, Vielfalt und Toleranz. Nicht zuletzt, weil
Wissenschaft selbst ein kooperatives und, wie wir sehen werden, genau aus diesem Grund
ein politisches Projekt ist, dass nicht gelingen kann, wenn sich die ForscherInnen und ihre
Disziplinen ablehnend gegenüber stehen.“
Wohlfeil und politisch korrekt. Ob darüber hinaus korrekt erscheint mindestens prüfenswert. Man müsste natürlich klären, was „gelingende“ Wissenschaft ist, aber man würde doch vermuten, dass sich wissenschaftlicher Fortschritt gelegentlich auch einem Silodenken verdankt.
„Also sollten wir unsere interdisziplinäre Forschung im Kontext einer differenziellen Anthropologie ebenfalls auf Kooperation ausrichten.“
Es hat streckenweise den Anschein, als würde R. hier immer mal wieder politische Statements einfließen lassen und im Zuge dessen die Ebene wechseln, im Sinne: unsere Leitfrage ist, warum kooperiert der Mensch (warum hat er die Fähigkeit zur Kooperation), also sollten wir uns zur Beantwortung dieser Frage in Kooperativität üben. Natürlich mutet die Einladung zum kooperativen Forschen grundsätzlich sinnvoll an, nur ist die Argumentation in diesem Zusammenhang nicht zwingend. Das ist schade, da dann der Eindruck entstehen kann, Kooperation und interdisziplinäres Arbeiten seien ein Selbstzweck.
„Allein durch sie (sc. Fähigkeit zur Kooperation) erlangt der Mensch seine Autarkie“
Wie wohl Reimann „Autarkie“ versteht?
Mein Ziel wird es dabei sein, ein Konzept zu entwerfen, welches in jeder einzelwissenschaftlichen Forschung an der menschlichen Kognition anwendbar ist und
ihren Nutzen darin findet, dieser speziellen Forschung anhand eines geteilten
Untersuchungsgegenstandes ihren entsprechenden Platz in der gemeinsamen Diskussion
um die menschliche Kognition und in der Frage nach dem menschlichen Denken
zuzuweisen (Kapitel 3). Ich erachte dieses Unterfangen als besonders wichtig, da die
gegenwärtige Zusammenarbeit in der anthropologischen Kognitionsforschung kein
explizites theoretisches Fundament zu haben scheint und daher unkoordiniert wirkt. Um es provokativ auszudrücken: Die bisherige Zusammenarbeit gleicht eher einem parallelen
Nebeneinander mit glücklichen Überschneidungen als einem produktiven Miteinander mit intendierten Innovationen. Gründe dafür liegen zumeist darin verortet, dass vielen
Disziplinen nicht deutlich genug ist, was ihr zu Grunde liegender Forschungsgegenstand ist oder in welcher Relation sich eigene Forschungsergebnisse zu denen aus anderen
Disziplinen befinden. Es handelt sich also im Groben um begriffliche beziehungsweise
ontologische und Steuerungsprobleme. Ein konsistentes theoretisches Fundament zu einem interdisziplinär geteilten Forschungsgegenstand, so meine Überzeugung, liefert der
humanen Kognitionsforschung das Werkzeug, um aus dem bisherigen multidisziplinären
Forschungspragmatismus eine gute und koordinierte interdisziplinäre wissenschaftliche
Praxis werden zu lassen. Hervorhebungen AV
Aus meiner Arbeiterfahrung kann ich Rs Anliegen nur gutheissen. Meine Erfahrung stammt zwar nicht aus der Kognitionsforschung, dennoch teile ich seine Ansicht bzgl der Probleme / Herausforderungen für interdisziplinäre Forschung – und zwar bezüglich der Gesamtaussage wie bezüglich der kursiv hervorgehobenen Aussage.
„In diesem Sinne muss anerkannt werden, dass die Evolution autarke, das heißt selbstgenügsame, beständige Lebewesen (Organismen) hervorbringt, die durch ihre evolutionäre Anpassung auf ein Ziel hin ausgerichtet sin.
Braucht man wirklich das Ziel? Im Nachhinein sind wir sicher geneigt, von einem Ziel zu sprechen, zumal schon der Terminus „Anpassung“ darauf hindeutet („Anpassung woran?“). Aber theoretisch brauchen wir das Postulat eines Ziels nicht, jedenfalls solange wir akzeptieren, dass in der Evolution die Dinge im Rahmen der gegebenen Umstände und der physikalischen, chemischen biologischen Gegebenheiten einfach passieren.
„Nicht zuletzt da auch die Evolution auf das Prinzip des Überlebens der Individuen einer Art, also der Autarkie, hin ausgerichtet ist.“
Ist die Evolution auf etwas ausgerichtet? Es gibt etwas, einen Prozess, den bezeichnen wir als Evolution. Wir sehen den Prozess auf etwas ausgerichtet, d.h. wir ordnen ihn in unserem Denkprozess so, dass dieser Prozess auf etwa ausgerichtet aussieht. Aber ist er es auch? Drängt sich da nicht automatisch die Frage auf, wodurch diese Ausgerichtetheit begründet ist? Bei einem zu Boden fallenden Stein ist es die postulierte Schwerkraft, die für uns Naturgesetzcharakter hat. Was ist es bei der Ausgerichtetheit der Evolution? Wer oder was ist hier die ausrichtende Kraft? Dies sind allerdings nur Fragen der Begrifflichkeiten, nicht etwas ernsthaft Inhaltliches.
„die Teleologie, besser Teleonomie“
Das ist ganz und gar nicht dasselbe:
„Als teleonomisch werden Prozesse bezeichnet, die allein aus ihren Komponenten und Strukturen erklärt werden. Sie bedürfen dadurch keiner Zusatzannahmen über mögliche externe teleologische oder intentionale Einflüsse. Dies unterscheidet das Konzept der Teleonomie von dem der Teleologie bzw. der Entelechie.“,
so Wikipedia (Art. Teleonomie), ich habs beim Biologen Ernst Mayr gelernt …
Erörterung der differenziellen Anthropologie: „Der Mensch soll dabei seine artspezifische Stellung gegenüber anderen Tierarten behaupten und nicht als graduell reduzierbar auf seine nächsten Verwandten dargestellt werden.“
Wieso muss man, wenn man differenzielle Anthropologie (oder auch Anthropologie überhaupt) betreibt, von einer Sonderstellung des Menschen ausgehen? Könnte ein Ergebnis anthropologischer Forschung nicht auch sein, dass der Mensch nichts anderes als eine graduelle Weiterentwicklung von Tieren ist? Wieso geht man gleich mit so einem Anspruch heran? Warum soll der Mensch seine Stellung gegenüber den Tierarten behaupten? Das klingt wie ein politisches Statement.
„gekennzeichnet durch seine Gene (…) gekennzeichnet durch seine Sprache“
auch das ist nicht dieselbe Ebene
In seiner [ David Hume] Tradition stehen auch heute noch unzählige Wissenschaftler, die in der Manier einer reduktiven Anthropologie den Geist des Menschen als Phänomen betrachten, das ausschließlich im Vokabular der naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften beschrieben werden sollte. Philosophisch arbeitet Andre Wunder diesen Gedanken wieder neu auf und behauptet darüber hinaus, dass eine Anthropologie, die von einem prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgeht, lediglich bedeutungslose Erfolge in der Untersuchung des menschlichen Geistes vorzuweisen hat. Die betreffenden Erfolge Tomasellos erwähnt er in seinem Artikel jedoch mit keinem Wort. (Hervorh. AV)
Wie muss ich ‚prinzipiell‘ verstehen?
Der Biologe in mir fragt: Da bzw. wenn Gorillas und Menschen keine fruchtbaren Nachkommen zeugen können (ob das empirisch geprüft wurde?), gilt das als prinzipieller Unterschied? Oder muss hierfür die Annahme, es habe in der Vergangenheit gemeinsame Vorfahren gegeben, negiert werden?
„In seiner Tradition stehen auch heute noch unzählige Wissenschaftler, die in der Manier einer reduktiven Anthropologie den Geist des Menschen als Phänomen betrachten, das ausschließlich im Vokabular der naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften beschrieben werden sollte.“
Der Begriff des „Vokabulars“ gefällt mir: Er unterstreicht, dass es, wenn wir eine Theorie entwickeln, die etwas erklären soll, auch maßgeblich um Sprache geht. Wir können das Ding an sich, um das es ja eigentlich geht, nicht trennen von der Art, wie wir es beschreiben, wie wir darüber sprechen. Sprache ist damit auch so etwas wie ein Rahmen, durch den wir das Beschriebene betrachten.
„Als Vertreter der populär-aufgearbeiteten Naturwissenschaft können hier beispielsweise der Neurobiologe Gerhard Roth und der Neurologe Antonio R. Damasio gelten, die mit der Aufmerksamkeit der Medien immer wieder behaupten, dass sich Menschen als kognitive Wesen oder gar als Personen auf ein Bündel Neuronen reduzieren ließen oder dass Gefühle ausschließlich ein buntes Aktivitätsmuster im Gehirn seien, ohne dabei zu merken, dass sie in ihrer Rede einen Kategorienfehler nach dem anderen begehen, da sie ihre methodische Reduktion gleichzeitig als ontologische begreifen.“
Das ist mir zu pamphletartig, auch wenn ich R. in der Sache tendenziell zustimme. Aus meiner Sicht läuft R. hier und auch in den Folgeabschnitten Gefahr, auf Pappkameraden zu schiessen.
Tomasellos Forschung zur Anthropologie erfüllt somit beide oben aufgeführten Kriterien
einer differenziellen Anthropologie – auch wenn er sich selbst nicht dieser Bezeichnung
bedient. Sie erfolgt interdisziplinär und nicht reduktionistisch. Doch fällt seine Arbeit
damit nicht in alte dualistische Konzepte zurück, denn sein Erklärungsanspruch ist es, eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens51 zu entwickeln, was bedeutet, dass er die menschliche Kognition als Wirkung der menschlichen Evolution erklären und somit als natürlich gewachsenes Phänomen darstellen möchte. Dabei findet er in der Differenzierung der Terminologie einen Lösungsweg zur Überwindung der Dualismus-Reduktionismus-Dichotomie.
Diese wird aufgelöst, indem sich Tomasello eines sprachphilosophischen Kniffs bedient. Er postuliert eine einzige evolutionäre Anpassung des Menschen – die Hypothese geteilter
Intentionalität, später kollektiver Intentionalität –, welche die gesamte menschliche
Kognition revolutioniert.52 Nach dieser Revolution reicht ein Begriffsvokabular, welches
alleine auf biologischen Begriffen beruht und Neuronen und Gene als Stein der Weisen
glorifiziert, nicht mehr aus um die Kognition des Menschen adäquat zu beschreiben.
Trotzdem bleibt die Beschreibung des Ursprungs der kognitiven Leistung des Menschen
durch natürliche Begriffe möglich. Kognition wird somit als natürlich gewachsenes
Phänomen verstanden, das eine vollkommen andere, von der Natur differenzierende,
Begrifflichkeit zu seiner Beschreibung benötigt. Dies wird schon allein dadurch ersichtlich, dass sich Tomasello zur Formulierung seiner zentralen These des Begriffs der
Intentionalität bedient, der spätestens seit Franz Brentano53 ein klassischer
geisteswissenschaftlicher Terminus ist.
In seiner Ausarbeitung einer differenziellen Anthropologie widerlegt Tomasello weiterhin
reduktionistisch verfahrende Theorien beziehungsweise spricht ihnen ihren allgemeinen
Erklärungsanspruch ab und weist ihnen ihren Zweck im Kontext einzelwissenschaftlicher
Betrachtungen zu – differenziert also im oben genannten Sinne. Exemplarisch dient dafür
seine Argumentation gegen kognitive Modultheorien – namentlich von John Tooby und
Leda Cosmides. Diese behaupten, dass sich Kognition modular entwickelte und sich diese
Module im genetischen Erbgut abgebildet finden. So gibt es beispielsweise Module für
Sprache neben Modulen für Mathematik und Musik. Tomasello zeigt auf, dass die
Beschreibung der menschlichen Kognition als „Schweizer Taschenmesser“54 durchaus als
Propädeutik der kognitiven Psychologie nützlich sein kann, sie aber versagt, wenn es um
die Erklärung der Entstehung der menschlichen Kognition geht. Zumal sich diese
vermeintlichen Module teilweise überschneiden, sich gemeinsam weiter entwickeln und
sich durch den Gebrauch von Sprache, Zeichen und dem Erlernen von zu Grunde
liegenden Normen grundlegend revolutionieren.
Rs Ausführungen scheinen mir wichtig:
- um Ts Argumentationsweise zu verstehen,
- um einige Gründe meines Bauchwehs bzgl. T Methodologie zu verstehen,
- um mein grundsätzliches Interesse an diesem ‚Übergang‘, aber auch meine diesbezüglichen Schwierigkeiten auszuleuchten
Aber auch nach mehrmaliger Lektüre dieses Abschnitts, weiss ich immer noch nicht, wie ich Rs Darlegung verstehen bzw. Ts sprachphilosophischen Kniff bewerten soll:
- Ist der Kniff ein Taschenspielertrich, der mich zum Getäuschten macht?
- Ist der Kniff ein sprachlich oder methodisch geschicktes Vorgehen, um eine Aufgabe einer (echten?) Lösung zuzuführen?
Das von R (auf Seite 25) wiedergegebene Zitat ist vor mich nur parziell einleuchtend:
„[S]ie versuchen, von der ersten Seite der Geschichte, nämlich der Genetik, zur
letzten Seite, der gegenwärtigen menschlichen Kognition zu springen, ohne
einen Blick auf die dazwischenliegenden Seiten zu werfen. Diese Theoretiker
lassen somit in vielen Fällen formgebende Elemente sowohl des
geschichtlichen als auch des ontogenetischen Zeitrahmens außer Betracht, die
zwischen dem menschlichen Genotyp und Phänotyp eingeschaltet sind.“58
Aus evolutiontheoretischer Sicht kann ich T nur beipflichten, dass (biologische) Evolution in kleinen Schritten erfolgt, dass in der menschlichen Ontogenese vermehrt auftretende ‚Lernfenster‘ entstehen, dass ko-evolutionäre Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind. Aber all diese Prozesse müssen von den entsprechenden Wissenschaften BESCHRIEBEN werden. Wie soll das bewerkstelligt werden? Müssen zwischen das (kausale) naturwissenschaftliche und das (intentionale) gesteswiss. Sprachspiel feinst differnzierte, neue (für mich noch namenlose) Sprachspiel er/gefunden werden?
Da hoff ich auf die andern Gruppenmitglieder, dass die mehr davon haben: mehr Gehirnvermögen oder doch eher Denkvermögen!
Vielleicht müssen wir einfach geduldig sein: R hat ja noch etliche Kapitel geschrieben!
„Kognition wird somit als natürlich gewachsenes Phänomen verstanden, das eine vollkommen andere, von der Natur differenzierende, Begrifflichkeit zu seiner Beschreibung benötigt.“
Gemäß R ein sprachphilosophischer Kniff von Tomasello.
„(Tomasellos) eigene Erklärung der Sprachentwicklung beruht auf der These, dass
Menschen ihre Artgenossen als intentionale Akteure erkennen und während Szenen
gemeinsamer Aufmerksamkeit Sprache zum Zweck kooperativer Zusammenarbeit entstand.“
Leuchtet in der Tat weit eher ein als die These Chomskys mit der zufälligen Mutation im menschlichen Genom.
Diese Modifizierung von Artefakten, Wissen und Verhaltensweisen im Lauf der Generationen bezeichnet Tomasello als kumulative kulturelle Evolution. Ihre Wirkungsweise ist der Wagenhebereffekt: Einmal modifiziertes Wissen wird durch aktiven Unterricht an Artgenossen weitergereicht, diese optimieren es gegebenenfalls weiter und tradieren es ebenso. Dadurch sind die Errungenschaften jeder Generation im Wissen der folgenden Generationen enthalten und können weiter benutzt und auch weiter entwickelt werden.60
Die kumulative kulturelle Evolution bezieht sich jedoch nicht nur auf Artefakte, sondern
auch auf kognitive Funktionen wie etwa Sprache oder Mathematik und ebenfalls auf
soziale Institutionen.
Schwingt in der Rede von Evolution (kumulativ kulturelle) auch ein Quentchen biologisch-genetisches Evolutionsverständnis mit? Wird die Weiterentwicklung kognitiver Funktionen als auch durch genetische Anpassungen gesteuert vorgestellt. Oder könnte es sein, dass Steuergungsgene zur Verlangsamung der Ontogenese mitspielen und damit die Möglichkeit zu kultureller Prägung erweitert wird?
„Die für ihn alles entscheidende Frage lautet somit: Warum kooperieren wir?“
Ich finde die Art und Weise, wie diese Frage gestellt ist, irreführend, weil sie zu unspezifisch ist. Es scheint ja nicht um die Frage zu gehen, zu welchem Zweck wir kooperieren („was soll das Ganze?“), sondern eher darum, was genau es eigentlich ist, das uns zur Kooperation befähigt. An welcher Stelle in der Evolution/in der Phylogenese ist die Weggabelung, die uns auf den Pfad des kooperativen Umgangs miteinander geführt hat?
Kapitel 2.1.3, vor allem mit Fokus auf Rs Darstellung der methodischen Diskussionen zwischen T und Boesch, sowie Rs diesbezügliche Interpretationen.
Insbesondere:
S. 34:
Selbst wenn man jedoch Boeschs Einwand ohne Einschränkungen anerkennen sollte, zeigt sich ein erheblicher qualitativer Unterschied zwischen den Kooperationsformen der Schimpansen und denen der Menschen: Während die vermeintliche Kooperation der Großaffen extrem situationsbezogen, sehr selten und zudem sehr kurzlebig zu sein scheint, ist die Kooperation von Homo Sapiens viel universeller und langlebiger.94 Es gäbe also noch immer genug Grund, um an einem wesentlichen Unterschied zwischen den Arten fest zu halten.
S. 37:
Sollte aller Vermutung zum Trotz dennoch ein echtes stabiles Verhalten gemeinsamer
Intentionalität bei nichtmenschlichen Primaten beobachtet werden, dass jeglicher
Gegenkritik Stand hält, wäre Tomasellos Unterfangen zur anthropologischen Differenz
dennoch nicht gänzlich gescheitert. In seinem 2014 erschienenen Werk Eine
Naturgeschichte des menschlichen Denkens106 bildet das Aufkommen der geteilten
Intentionalität nur eine Vorstufe in der Phylogenese des modernen Menschen, der sich
letztendlich durch seine Fähigkeit zur kollektiven Intentionalität auszeichnet.
Meine nachfolgenden Gedanken sind nicht ein FAZIT, sondern eine ERLÄUTERUNG der methodischen Schwierigkeiten der Forschungsfeldes von T und Boesch.
T will eine Naturgeschichte schreiben. Explizit folgt das auch aus seinen früheren Büchern: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens 2014 und Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral 2016.
Was aber heisste es, eine Naturgeschichte zu schreiben? Das heisst, durch Analyse von Überkommnissen vergangene Prozesse/Strukturen/Entitäten zu rekonstruieren; was ausschliesslich sprachlich möglich ist! Überkommnisse sind heute vorfindbare Naturgegenstände, die als Etwas interpretiert werden, das die vergangene Zeit (hinreichend unbeschädigt) überdauert hat und mir daher Prozesse/Strukturen/Entitäten aus der Vergangenheit erschliessbar macht. Ein lebensweltlicher Vergleich: es ist die Arbeitsweise eines Detektivs!
Überkommnisse für Ts Forschungsfeld – Kognition bzw. Verhalten – konservieren sich leider verd… schlecht. Darum spricht R auch von Spekulation – siehe Seite 45f
Ich will nun eine ebensolche Spekulation entwerfen, um die Problematik solcher Forschung zu verdeutlichen – ich mach das auf eher witzige Art, aber dennoch mit absolut ernster Absicht:
Es ist das Jahr 102’002: Chichi Pimpi, Prof. für Panologie, spezialisiert auf die Naturgeschichte seiner Art, Pan Troglodytes, sitzt in seinem Baumhaus. Er hat in Katakomben mit Zeichen übersähte und in Leder eingebundene Papiere gefunden, ein Exemplar hat die Jahrtausende besonders gut überstanden – wie Materialspezialisten vermuten, dank des Goldschnitts. Mit Hilfe von Computerprogrammen ist es Prof. Pimpi gelungen, die von der ausgestorbenen Art (Homo Sapiens) stammenden Überkommnisse zu interpretieren. Er stösst auch auf Beschreibungen von Feldforschungen im Regenwald der Elfenbeinküste. Hier wird Prof. Pimpi hellhörig, ja er ist geradezu elektrisiert: Von diesem Gebiet stammen die frühesten Vorfahren seiner Art, die Frü-Pane, was durch ausgeklügelte Recherchen und Höhlenfunde belegt werden konnte. Mit fortschreitender Lektüre im gefundenen Überkommnis (die Homo nannten es ‚Buch‘) empört sich Prof. Pimpi zusehends: „Was behauptet dieser Tomasello? Wir wären nicht zu gemeinsamer Intentionalität fähig? Vor 100’000 Jahren – wir wurden damals von Homo Sapiens bezüglich unserer Nahrungsgrundlagen arg bedrängt – haben wir doch nach und nach gelernt, uns über Trommelzeichen bezüglich des Vorgehens bei der Jagt zu verständigen. Hätte der Boesch doch gründlicher hingehört, als nur hingeschaut. Wir waren doch damals gerade ’süüferli‘ dran, eine gemeinsame Intentionalität zu entwickeln. Je mehr die Homos uns damals die Nahrung zerstörten, im so intensiver mussten wir den Panini unsere Trommel-Codes beibringen… Prof. Pan entscheidet sich, morgen in Wikipania einen Eintrag zu verfassen: Boesch hatte doch recht!
Seiten 31 – 37
R geht recht ausführlich auf den wissenschaftlichen Streit ein, ob Primaten zur geteilten Intentionalität fähig sind oder nicht. Er bezieht sich dabei auf die Protagonisten der beiden Seiten, Christophe Boesch („sie sind fähig“) und Michael Tomasello („sie sind es nicht“). Dabei konzentriert R sich stark auf die Frage, wie qualitative Zugänge und quantitative Zugänge zueinander stehen, und beleuchtet vor allem, welche Gefahren bei qualitativen Zugängen bestehen. Z.B. die Gefahr der „Vermenschlichung“, die besagt, dass Schimpansen bereits mit menschlichen Kategorien betrachtet/untersucht werden. Die Erwägungen von R sind in diesem Zusammenhang durchaus interessant und plausibel, aber haben am Ende etwas sehr „hand waving“-artiges, es ist wenig deduktiv und auch nicht eine wirklich stringente und belastbare Argumentation. Ich finde das grundsätzlich legitim, frage mich aber, ob so etwas in eine philosophische Dissertation gehört, zumal es sehr stark um die Frage zu gehen scheint: „Wer hat recht – Boesch oder Tomasello?“. Angenehm hingegen, dass er aus seiner Meinung keinen Hehl macht und sich nicht hinter irgendwelchen Formeln versteckt.
Tomasello hingegen hält die Verwendung des
kooperativen Vokabulars [durch Boesch] für übereilt und nicht angemessen. Nach ihm gleicht die Jagd der Affen derer von Löwen oder Wölfen, bei denen man sich ebenfalls nicht einer solchen Beschreibung bedient. (S 33 oben)
[…]
Ich möchte an dieser Stelle die Aufmerksamkeit noch auf ein Detail meiner Darstellung
des Streits lenken: Es geht mir dabei um die unterschiedliche Bewertung hinsichtlich des
Status der Wissenschaftlichkeit von quantitativen gegenüber qualitativen Zugängen zum
Forschungsfeld. Tomasello arbeitet ohne Frage vor allem quantitativ und trifft nun auf die
Kritik Boeschs, der diese auf qualitative Beobachtungen gründet. Er widerspricht ihm
unter anderem mit dem Argument, dass bisher viel zu wenige Beobachtungen gemacht
wurden, in denen scheinbar kooperatives Verhalten protokolliert wurde und dass viele
quantitative Studien gegen eine Beschreibung des Verhaltens von Schimpansen in
Begriffen echter Kooperation sprechen. (S. 34 unten)
Meines Erachtens differenziert R hier zu wenig, wie sich T diesbezüglich verhält, kann ich nicht klären, da mir die Originaltexte fehlen.
Es gilt hier zu unterscheiden zwischen
- der Art des (Beschreibungs)Vokabulars,
- der qualitativen oder quantitativen Datenerhebung bzw. -auswertung
- dem Kontrollgrad der Versuchanordnung bei der Erhebung (reine Beobachtung / Realsimulation / Experiment)
Hier wünschte ich mir von R, aber auch von T, mehr Klärung:
ad 1) zumindest in Ts ‚Mensch werden‘ beschreibt er seine Versuche mittels eines ‚kooperativen Vokabulars‘, ob auch in den Originalpublikationen ist unklar.
ad 2) die Charakterisierung von Boeschs Forschung als bloss qualitativ bzw. von Ts Arbeiten als quantitativ erscheint mir unangebracht! Diese Termini werden von R (und vielen anderen ForscherInnen) mit 3 vermengt. Aus M.Wunschs Artikel (vgl Rs Fussnote 68) geht hervor, dass Boesch seine Daten auch quantitav ausgewertet hat.
ad 3) Reine Beobachtung ist dadurch charakterisiert, dass die Datenerhebung unter minimal invasiven Bedingungen bzgl. des interessierenden Phänomens erfolgen soll, bei Experimenten soll das interessierende Phänomen unter maximal kontrollierten Bedingungen vermessen werden. Realsimulation verfolgen hier – je nach Fragestellung – eine partielle Kontrolle und somit eine partiell invasive Datenerhebung.
Hier geht es nicht nur um eine Spitzfindigkeit bzw. begriffliche Pingeligkeit eines gewissen AV, sondern um die unterschiedliche Aussagekraft dieser verschiedenen Methoden, insbesondere bzgl biologischer (und sozialer) Phänomene. Dieser Punkt klingt in gewissen Kriken gegenüber Ts Methoden auch leise an:
Ts Daten resultieren aus – mehr oder weniger – ‚künstlichen‘ Versuchsanordnungen. Daraus folgt, dass seine Resultate (lediglich) demonstrieren, wie Menschenaffen bzw. Menschenkinder sich unter künstlichen Bedingungen verhalten. Wie aber würden sie sich unter natürlichen oder zumindest naturnäheren Bedingngen verhalten. Boeschs Arbeiten versprechen, genau hierauf eine Antwort zu geben.
„Darüber hinaus möchte ich im Folgenden noch einen Grund darstellen, Tomasello als guten Wissenschaftler und nicht als schlauen General zu lesen“.
Ich finde es störend, dass sich der Text mitunter wie eine Verteidigungsschrift für Tomasello liest. Es geht am Ende nicht darum, ob Tomasello ein guter Wissenschaftler ist, sondern darum, wie gute interdisziplinäre Forschung am Beispiel der differenziellen Anthropologie aussieht, welche Voraussetzungen, Begrifflichkeiten, Kriterien usw. dafür erforderlich sind.
Das Verhältnis von Intentionalität, Kooperation und letztendlich auch Kultur bietet nicht
nur für Welsch, sondern auch für viele andere, die versuchen Tomasellos Gedanken
nachzuvollziehen, ein großes Verständnisproblem. Verstärkend wirkt dabei, dass Tomasello
den Kooperationsbegriff perspektivisch in seinen Darstellungen verwendet, diese
Perspektiven ständig wechselt und dabei die Begriffe nie genau definiert.
Da bin ich schon froh, dass nicht nur ich dem Tomasello vorwerfe, sich nicht um terminologische Klarheit zu bemühen. Dass das auch für Sachbücher für ein Laienpublikum wichtig ist, wird doch daraus ersichtlich, wie Rs Erläuterungen sofort dazu führen, dass Ts Argumentation – eingedenk von Rs Differenzierungen – sofort viel verständlicher werden. Darum wehre ich mich weiterhin, wenn mir ‚gewisse Herren‘ eine (zu) wissenschaftliche Herangehensweise unterstellen!
„Das Verhältnis von Intentionalität, Kooperation und letztendlich auch Kultur bietet nicht
nur für Welsch, sondern auch für viele andere, die versuchen Tomasellos Gedanken
nachzuvollziehen, ein großes Verständnisproblem. Verstärkend wirkt dabei, dass Tomasello
den Kooperationsbegriff perspektivisch in seinen Darstellungen verwendet, diese
Perspektiven ständig wechselt und dabei die Begriffe nie genau definiert.“
das kann man nach Lektüre von „Mensch werden“ nur bestätigen und verallgemeinern…
Dabei gibt es zwei bedeutende logische Probleme zu beachten: Erstens, der gemeinsame
Vorfahr von Mensch und Großaffe lebt nicht mehr, er kann nur theoretisch rekonstruiert
werden. D.h. im Speziellen ist es durchaus denkbar, dass auch Schimpansen sich –
ebenfalls in kognitiver Hinsicht – auf ihrem Zweig des Stammbaumes evolutionär
weiterentwickelt haben. Zweitens hat die Evolution des Menschen mehrere
Zwischenstufen angenommen, die sich auch ebenfalls einer behavioralen Untersuchung –
wie Tomasello sie bevorzugt – entziehen, da es keine lebenden Individuen dieser Arten
mehr gibt. Auch eventuelle Frühmenschen können nur theoretisch rekonstruiert werden.
Aus diesem Grund weist Tomasello auch immer wieder darauf hin, dass seine
Darstellungen letztlich eine „hypothetische Naturgeschichte“130 erzählen. Diese Einwände sind von großer Bedeutung in der Suche nach Wesensmerkmalen. Fähigkeiten, die wir mit Menschenaffen gemeinsam haben, können keine differenzierenden Wesensmerkmale sein, bieten jedoch einen guten Anlass zur Spekulation über die Fähigkeiten unserer (gemeinsamen) evolutionären Vorfahren. Eine Spekulation bleibt es dennoch, da es auch denkbar möglich ist, dass Schimpansen parallel zu Menschen Fähigkeiten entwickelt haben, auf die unsere gemeinsamen Vorfahren nicht zurückgreifen konnten. Gehaltvoll und wissenschaftlich wird diese Spekulation, wenn sie mit weiteren Indizien aus Vergleichsstudien mit anderen Menschenaffen unterfüttert wird.
A) Hier bringt R etwas zur Sprache, das ich – beispielweise im Rahmen eines Einführungskapitels – im Buch von T erwarte.
B) R spricht von logischen Problemen. Meines Erachtens geht es hier nicht um logische sondern um methodologische Probleme und damit zusammenhängende methodische Herausforderungen und nötige diesbezügliche Klärungen/Deklarationen.
C) T spricht im Buch, wie auch im Untertitel, von Theorie, ebenso spricht R öfters von Ts Theorie. Dies ist meines Erachtens keine angemessene und schon gar nicht die methodologischen Herausforderungen korrekt kennzeichnende Begriffverwendung. T konstruiert Naturgeschichten, also Beschreibungen früher abgelaufener, als konkret gedachte Prozesse/Zustände/Verläufe und zwar in unterschiedlichem Detaillierungsgrad. Ts Forschung ist also nicht Theorie produzierend, sondern Theorie konsumierend: In Kenntnis und Anwendungen von Theorie (re)konstruiert T vergangene Verhältnisse. Er beschreibt, wie es war oder zumindest wie es hätte sein können/müssen, so dass der jetzt lebende Homo sapiens sich aus Vorfahren über viele Zwischenschritte hat entwickeln können. Da – wie weiter oben ausgeführt – für Ts Forschungsfeld sehr wenig Überkommnisse vorliegen, sind seine Geschichten wenig sachlich abgestützt und können daher (und werden von R) als spekulativ bezeichnet. Dies ist T aber nicht zum Vorwurf zu machen. Mein Vorwurf ist nur, dass er diese Zusammenhänge offener deklarieren müsste. Das setzt voraus, dass sie ihm überhaupt bewusst sind.
„Menschen handeln gemeinsam, Schimpansen handeln gegenseitig (…). Wer kollaboriert,
handelt nach Kriterien der Nützlichkeit. Wer kooperiert hat die Gerechtigkeit als
maßgebliches Kriterium.“
Eine Elefantenherde unterstützt einen jungen Elefanten beim Versuch, aus einem Schlammloch zu kommen. Der junge Elefant droht zu ertrinken.
Elephant Herd Saves Baby Elephant From Drowning – YouTube
Was passiert hier? Schwierig zu bestreiten, dass wir hier einen Fall von geteilter Intentionalität beobachten…
Kollaboration oder Kooperation, nach der Definition von Reimann? Man kollaboriert hier, um den jungen Elefant zu retten. Das ist nützlich, weil (mindestens) teilweise eigenes Gengut in Gefahr ist, und der junge Elefant das Überleben der Herde mit sichert. Menschen sind zweifellos zu ganz anderen Spielarten der Zusammenarbeit in der Lage, bei der auch „Gerechtigkeit“ (etwas unvermittelt eingeführter Begriff) eine Rolle spielt. Aber ist für den Menschen die Gerechtigkeit nicht auch nützlich, weil sie Spielregeln zu beachten hilft, die wiederum das Überleben sichern helfen?
„Es handelt sich bei der Kooperation (…) um gemeinschaftliches Handeln, das (…) vor und für den kulturellen Hintergrund der sozialen Gruppe der Handelnden stattfindet.“
„Die neue Fähigkeit des Menschen, zu kooperieren, bringt eine Kultur hervor, in der seine neue spezifische Kooperation überhaupt erst stattfinden kann“
einerseits scheint mir R. zu sagen, dass Kultur der Hintergrund für Kooperation ist, andererseits ist Kultur das Produkt von Kooperation – was nun?
„Auch unkooperatives menschliches Verhalten setzt also Kooperation voraus und baut auf
ihr auf.“
Das leuchtet ein. Weder R noch erst recht T (mindestens in „Mensch werden“, soweit ich es gelesen habe) schauen sich aber diese wichtige Option des unkooperativen Verhaltens genauer an. Unkooperatives (oder, um in Rs Terminologie zu bleiben, unkollaboratives) Verhalten im Bienenstock hat unweigerlich Ausschluss und Tod zur Folge. Beim Menschen kann unkooperatives Verhalten auch zu Ausschluss oder Tod führen, aber es kann auch in neue Formen der Kooperation münden; Innovation kann heissen, sich von einem bestehenden Konsens zu entfernen, einen Konflikt mit bestehenden Konventionen zu riskieren. Man könnte die These vertreten, dass Kultur, oder kultureller Fortschritt, genau darauf basiert. Menschliche Kooperation ereignet sich nicht in einem statischen Rahmen.
s. dazu aber auch Seiten 68/9, Ausführungen rund um dieses Aristoteles-Zitat, und der Wichtigkeit von Austausch und Dialog:
„Wenn aber jemand nicht in der Lage ist, an der Gemeinsamkeit teilzuhaben,
oder zufolge seiner Selbstgenügsamkeit ihrer nicht mehr bedarf, der ist kein
Teil des Staates, somit also entweder ein wildes Tier oder gar ein Gott.“
„Die bisherige Darstellung der Thesen Tomasellos war zugegeben sehr wohlwollend.“.
Sympathisch, dass R das unumwunden zugibt. Trotzdem bleibt ein leichtes Befremden über die Art, wie R eins um andere Mal darlegt, in welchen seiner Werke T doch was geschrieben und ausgeführt habe.
„Von äußerster Wichtigkeit für die evolutionstheoretische Nachvollziehbarkeit der
differenzierenden Thesen ist es, immer wieder zu betonen, dass die neue Form der
Zusammenarbeit – die Kooperation der Individuen in ihren sozialen Gruppen aufgrund
ihrer kognitiven Fähigkeit zum gemeinsamen und kollektiven Teilen von Intentionen – den
direkten evolutionären Vorteil bildet, welcher den Erfolg der Art garantiert und aus der
spezifisch menschlichen Kultur eine stabile Evolutionsstrategie werden lässt. Erst in Folge
der neu entstandenen Kooperation bildete sich die menschliche Kultur heraus und wird zur
evolutionären Nische des Menschen.“
Warum ist es wichtig, dass die „neu entstandene Kooperation“ der „menschlichen Kultur“ vorausgeht? Wäre nicht auch ein Szenario denkbar, indem sich das Tradieren von Wissen über Generationen hinweg (wie konstruiere ich ein Werkzeug) als vorteilhaft erwiesen hat, und dieser Vorteil die kollektive Intentionalität weiter befördert hat? Dann würden wir von einem dialektischen Prozess reden, eher als von „erst Kooperation, dann Kultur“. Aber nochmals: warum ist das so wichtig?
„Denn, wenn Kooperation und Kultur tatsächlich in dem bisher charakterisierten Verhältnis zueinander stehen, ist dann Wissenschaft – als menschliche, kooperative, kumulative Kulturleistung – nicht auch abhängig von kulturellen Vorannahmen?“
Hier wird der Vorwurf einer Zirkularität angedeutet, der ähnlich dem weiter oben erörterten Vorwurf der Tautologie ist.
„Daraus würde nicht nur die Ablehnung einer Universalmethode oder Universalwissenschaft folgen, sondern auch der Einspruch gegen jede Form eines extremen Reduktionismus, der versucht, jede Forschungsfrage aus der immer gleichen Perspektive zu beantworten.“
Erneut ein Seitenhieb gegen den Reduktionismus. Das Betonen der Notwendigkeit verschiedener Perspektiven hat etwas Mantra-artiges. Es ist doch immerhin denkbar, dass sich in einem gegebenen Kontext/bei einem konkreten Forschungsgegenstand verschiedene Perspektiven auf weniger oder gar nur eine reduzieren lassen. Oder ist von vornherein klar, dass es dies nicht ist? Zuvor wurde Occam‘s Razor erwähnt, der in diesem Sinne auch etwas Reduktionistisches hat.
„… nicht in der Lage ist, menschliches Verhalten adäquat zu beschreiben, da er die Korrektheit intentionalen Vokabulars anzweifelt.“
Noch eine Reduktionismusspitze: Was aber ist denn mit der „Korrektheit“ intentionalen Vokabulars“ gemeint. Hier droht R seinerseits in eine Falle zu laufen. „Korrektheit“ ist heikel, es sollte aus meiner Sicht um „Angemessenheit“ gehen, und diese gilt auch immer nur innerhalb eines gesetzten Rahmens, über den man sich Rechenschaft ablagen muss. Korrektheit ist absolut, Angemessenheit relational.
„Wenn jede Disziplin der Anthropologie ihren eigenen formalen, methodisch gerechtfertigten Reduktionismus vertritt und andere Sichtweisen konsequent ausschließt, versagt sich jeder interdisziplinäre Dialog. Wir brauchen jedoch einen gleichwertigen Dialog um erfolgreich miteinander zu kooperieren.“
Ich finde diese Art von Aussage etwas zu politisch und sie hat etwas von: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Die Aussage ist deswegen problematisch, weil sie als unabdingbar voraussetzt, dass jede Disziplin etwas vergleichbar Substanzielles beitragen kann. Das muss ja nicht notwendigerweise der Fall sein. Im Extremfall ist es sogar denkbar, dass sich theoretisch eine Disziplin auf die andere reduzieren lässt, ohne dass die „reduzierte Disziplin“ damit obsolet wäre. Diese Verwahrung gegen reduktionistische Vorgehensweise geht mir zu weit und mutet tendenziell ideologisch an.
„Der Zweck des natürlichen organischen Körpers ist im Allgemeinen die Umsetzung der Lebensfunktionen zur Realisierung des je eigenen, selbst geführten Lebens …“
Ein Reduktionist würde keinen Unterschied sehen zwischen der Umsetzung der Lebensfunktionen und dem „je eigenen“ Leben … und auch ich frage mich, woher kommt denn jetzt das „selbst“?
„dass der natürliche Körper den je artspezifischen Seelenzweck erfüllt“
wird R. da nicht zum Platoniker? Ich sehe das auch nicht durch das nachfolgende Zitat gedeckt.
„Welsch interpretiert also Aristoteles hernach in dem Sinne, dass es neben Wahrnehmung und
Sprache eine weitere kognitive Fähigkeit für die Vergemeinschaftung von Menschen
braucht: Den lógos oder eben die Vernunft im Sinne des sozialen, kommunikativen und
argumentativen Austausches, durch den Menschen untereinander das Gerechte als Ziel
ihrer Kooperation und ihres Zusammenlebens aushandeln.“
Bei Aristoteles natürlich keine evolutionäre, dialektische Perspektive. Statisch: Sprache, Wahrnehmung, Vernunft als Voraussetzung für den Staat.
Die kollektive Intentionalität (im emphatischen Sinn) als Frühform eines Staates könnte aber Sprache, Austausch, Vernunft auch erst befördert haben.
Wie auch immer: Ich glaube, dass R hier mit Hilfe von Aristoteles ein wichtiges Element ins Spiel bringt, dass bei T (immer soweit ich seh) etwas vernachlässigt wird: Das Aushandeln der gemeinsamen Intentionen im Dialog. Wobei hier unterschlagen wird, dass das eben auch die Option des Streites, des Krieges impliziert.
Ausführungen zur Paronymität und die These, damit den Streit hinsichtlich der Fähigkeit zur echten Kooperation bei Schimpansen entschärfen zu können.
Mir scheint die Hoffnung, den genannten Streit damit beilegen zu können, überzogen, denn der Vermittlungsversuch besteht lediglich in der Aussage: Wir nennen es bei beiden, Menschen und Schimpansen, Kooperation, wissen aber sehr wohl, dass sich jeweils etwas Anderes dahinter verbirgt. Die These von Boesch ist aber doch gerade, dass Schimpansen, was die Fähigkeit zur Kooperation betrifft, vergleichbar mit Menschen sind. Er wird sich kaum mit dem Hinweis begnügen: Du nennst es zwar Kooperation, aber wir wissen ja alle, dass etwas Anderes damit gemeint ist.
„Dadurch erhoffen wir uns ein gewinnbringendes, tieferes Verständnis der interdisziplinären anthropologischen Forschung um ihrer selbst und ihrer Zwecke willen.“
Eine entlarvende Aussage: interdisziplinäre Forschung um ihrer selbst Willen. Das sollte man einem Philosophen/Wissenschaftstheoretiker um die Ohren hauen.
„Kooperation ist hernach neben Bewegung, Atmung, Fortpflanzung, etc. ein Vermögen der Seele;
realisiert in der biologischen Art des Menschen und darüber hinaus als artspezifische
Tätigkeit (ergon) das Ziel (télos), welches das allgemeine Wesen des Menschen bestimmt.“
Starke Behauptung; eher zutreffend für Ameisen oder Bienen als für Menschen, der sich auch als Eremit durchschlagen kann. – Statt „Kooperation“ wäre vielleicht eben „kollektive Intentionalität“ ein stringenterer Begriff hier.
Somit kommen wir zur zweiten Frage, warum es gerade ein einziges Artmerkmal geben
soll. Zunächst sei angemerkt, dass es kein Problem darstellt, wenn es mehrere Merkmale
geben sollte, die den Menschen vom Schimpansen unterscheiden. Ganz offensichtlich gibt
es sogar mehrere. Menschen haben weniger Körperbehaarung, sie besitzen als einzige
Spezies überhaupt Ohrläppchen und ihre Augen sind, abgesehen von der Iris, weiß. Doch
die eigentlich relevante Frage für diese Arbeit und die kognitive Anthropologie ist, in
welcher Hinsicht sich Menschen und Menschenaffen kognitiv unterscheiden. Darauf zielen
auch Tomasellos Überlegung ab und daraufhin sind seine Forschungen konzipiert. Eine
differenzielle Anthropologie muss hierbei die Perspektive der Forschung beachten. Die
Anatomie oder andere anthropologische Disziplinen mögen andere Artunterschiede
feststellen, doch den Kognitionswissenschaften geht es nun einmal per Definitionem um
den wesentlichen kognitiven Unterschied zwischen dem Menschen und seinem nächsten
biologischen Verwandten.
Diese Erläuterung von R hat mir geholfen, Ts Argumentation mit weniger Widerstand zu begegnen. Als Psychologe nimmt T eben eine kognitive Perspektive ein, was sich mit meiner (umfassenderen) biologischen Perspektive gebissen hat. Der Untertitel von Ts Buch (eine Theorie der Ontogenese) finde ich aber immer noch als anmassend, ehrlicher wäre: eine Theorie der kognitiven Ontogenese.
“ ‚Unser Problem ist also ein zeitliches. Es stand einfach nicht genügend
Zeit für normale biologische Evolutionsprozesse, wie genetische Variation
und natürliche Selektion, zur Verfügung, um Schritt für Schritt jede der
kognitiven Fertigkeiten zu erzeugen, die es modernen Menschen
ermöglichen, komplexe Werkzeuggebräuche und Technologien, komplexe
Formen der Kommunikation und Repräsentation durch Symbole und
komplexe gesellschaftliche Organisationen und Institutionen zu erfinden
und aufrecht zu erhalten.‘ „
Reimann zitiert Tomasello, lässt aber in diesem Kapitel noch offen, wie er dazu steht (er verweist in diesen Seiten bei mehreren Fragen auf spätere Stellungnahmen im Buch, etwas ungeschicktes methodisches Vorgehen). Weil der Zeitraum gering ist, soll sich nur ein zentrales Differenzmerkmal herausgebildet haben können zwischen Mensch und Menschenaffen. Leuchtet zunächst wenig ein; warum sollen sich nicht einige Differenzmerkmale wenig signifikanter Natur herausgebildet haben, die im Zusammenspiel dann den grossen Unterschied bewirken?
Die Frage, warum es genau eine wesentliche evolutionäre Anpassung in der Entwicklung hin zum Menschen gegeben haben soll, wird mit der vergleichsweise kurzen Zeitspanne von einigen hunderttausend oder wenigen Millionen Jahren beantwortet.
Ich verstehe, dass es verlockend ist anzunehmen, dass es eine entscheidende evolutionäre Anpassung gegeben hat, die sozusagen als Booster oder Turbo gewirkt hat und dem Menschen im Vergleich zu Schimpansen ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnet hat. Doch ich vermisse das Zwingende daran. Das hat etwas sehr Spekulatives. Wie groß muss denn eine Zeitspanne sein, damit sie evolutionsgeschichtlich als hinreichend groß angesehen werden kann? Wie viele Generationen sind erforderlich? Hier würde ich quantitative Abschätzungen erwarten, die die Behauptung untermauern.
3.1 Aristoteles – Vier mal ‚Warum?‘
3.2 Tomasello – Antworten
3.2.1 Zur Materialursache
3.2.2 Zur Formursache
3.2.3 Zur Wirkursache
3.2.4 Zur Finalursache
Rs Bemühen, Arbeiten anderer Autor*innen einzubauen, die die Frage „Warum kooperieren wir?“ aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten – egal ob bewusst oder unbewusst, hilft mir sehr für ein umfassenderes Verständnis.
Seine Vorgehensweise – das Abarbeiten der Kooperationsfrage an den vier Ursachen à la Aristoteles – wirkt auf mich umständlich. Ich vermag nicht zu entscheiden, ob vor allem Rs Formulierungsweise diesen Eindruck erzeugt oder ob ich – bedingt durch meine Biologieausbildung – bereits an breitere Frageweisen (zB. proximate und ultimate Ursachen) gewöhnt bin und mir daher der Weg via Aristoteles als Umweg erscheint.
„Denn im gleichen Maße, wie die menschliche Natur auf Kooperation ausgerichtet ist, sollte auch die Erforschung der kognitiven menschlichen Natur auf Kooperation hin ausgerichtet sein, wenn sie ihren Forschungsgegenstand adäquat repräsentieren soll.“
Wieder eine Aussage, die mich fast zum Wahnsinn treibt, weil sie auch einer politischen Wahlkampfrede entstammen könnte. Nur weil wir das Phänomen der Kooperation untersuchen, heißt das nicht zwingend, dass dies nur interdisziplinär in einer kooperierenden Forschendengemeinschaft geht. Es klingt zwar irgendwie plausibel, aber das genügt nicht. Es ist anstrengend, wie BR Interdisziplinarität immer wieder mit Suggestivargumenten als Wert an sich zu verkaufen versucht.
Fussnote:
229 In Kolloquien und Seminaren zu Tomasello stellt sich derzeit immer wieder die Frage, ob Tomasello uns eine Evolutionsgeschichte liefert, wie seine Büchertitel es suggerieren, oder er eigentlich eine Art Bedingungsanalyse für die Möglichkeit menschlicher Kognition entwirft. Wir kommen auf diese Fragen im Verlauf der Untersuchung zurück.
Der Inhalt dieser Fussnote ist Balsam auf meine ‚verwirrte Seele‘ betreffend der Interpretation von T. Auch in seinem Buch „Mensch werden“ klingen Ausführungen an, die sich als Evoluzionsgeschichten lesen lassen.
Das heißt, die (notwendige) materiale Bedingung der Möglichkeit zur Kooperation des Menschen ist sein Leib.
Diese Sicht passt auch gut zum in der (aktuellen) Phänomenologie betonten Konzept des Embodiment/der Verkörperung, das die Fixierung auf Hirnuntersuchungen bzw. eingeschränkt hirnneurologische Analysen beklagt bzw. überwinden will.
„Im Kontext des Leibes jedoch ist [das Gehirn] wohl eines der wichtigsten Kognitionsorgane des Menschen und zählt mit Garantie zu den materiellen Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Kooperation.“
etwas schwerfällig.
„Eine Wissenschaft sollte sich daher nicht anmaßen dürfen alleine zu urteilen, ob eine kognitive Variation als krankhaft oder dysfunktional zu bewerten sei. Dieses Urteil ist per se nicht wissenschaftlich, sondern politisch, in dem Sinne, dass die betroffene Person ein Mitspracherecht hat, ..:“
Hier kritisiert BR, was ich ihm an verschiedenen Stellen vorhalte: Die Vermischung von Wissenschaft und Politik. Dabei ist es hier im Zusammenhang mit dem betrachteten Autismus nicht relevant, ob wir ihn als dysfunktional oder als Variation bezeichnen. Es geht darum zu verstehen, was dem Phänomen des Autismus zugrunde liegt, und da spielt es keine Rolle, ob er dysfunktional oder eine Variante ist: Er ist ein gut eingrenzbares Phänomen, das sich von anderen unterscheidet.
„… that social cognition is fundamentally different when we are in interaction with others rather than merely observing them.“
Das ist natürlich Musik in meinen Ohren – und ich würde noch zuspitzen: Wahrnehmung überhaupt ist fundamentally different, je nachdem ob observing oder interacting.
Das wäre ganz grundsätzlich ein caveat für die Kognitionswissenschaften, weil wir ja Kognition nur in Interaktion erkennen. Wenn wir beobachten, sehen wir lediglich wenn-dann-Beziehungen, in Interaktion erleben wir, wie der/die Andere auf uns reagiert … was allerdings auch immer gut programmiert sein könnte, das gebe ich zu.
„Was würde eine soziale Neurowissenschaft zur formalen Untersuchung menschlicher Kooperation beitragen? Ich vermute, sie würde die bereits psychologisch gewonnenen Ergebnisse lediglich mit ihren Methoden reproduzieren. Es ist allerdings fraglich, ob das wünschenswert wäre.“
Dies ist eine Aussage in dem Sinne „Schuster, bleib bei Deinem Leisten“. Die Vermutung, die BR hier äußert, mag plausibel sein, sie wirkt jedoch ein wenig hingeworfen und wird nicht weiter begründet. Manchmal werden hier Aspekte eher in Form von Meinungsäußerungen angerissen, so dass ich mich frage, ob so etwas in eine philosophische Dissertation gehört.
„Der menschliche Leib hat sich anhand der Zwecke der Kooperation entwickelt, um das kooperatives Verhalten des Menschen zu optimieren.“
Das ist wieder die verkürzte, funktional motivierte Sprechweise, warum sich in der Evolution was entwickelt hat. Korrekter formuliert müsste es heißen, dass die Eigenschaften, die kooperatives Verhalten begünstigten, ihren Trägern einen Überlebensvorteil verschafft haben und sich daher durchgesetzt haben. Aus naturwissenschaftlicher Sicht hat Evolution kein Ziel, sie passiert einfach, es gibt also kein „um zu“.
Abchnitt 3.1: Aristoteles – Vier mal ‚Warum‘?
Kleine Zwischenreflexion: Die 4-Ursachen-Lehre von Aristoteles scheint mir als strukturgebendes Fundament herangezogen zu werden, das den Einzelwissenschaften helfen soll, die richtigen Fragen zu stellen und sich in dem interdisziplinären Miteinander angemessen einzuordnen (BR spricht hier gern von Kontextualisierung, deren Mangel er einigen Studien vorwirft). Dies scheint mir durchaus plausibel zu sein. Bei der Darstellung der ersten Ursache, der materialen Dimension bzw. der Materialursache, bin ich mir nicht ganz sicher, ob damit wirklich ein fundamental neuer Aspekt hineingekommen ist, weil ja auch bisher schon die Einzeldisziplinen ihre spezifischen Forschungen zu den materiellen Gegebenheiten des Menschen betrieben und damit durchaus erhellende Einsichten beigetragen haben. Was ist also neu bzw. kommt hinzu, wenn wir alles durch die aristotelische 4-Ursachen-Brille betrachten? Was würde sich an der konkreten Forschung in den Einzelwissenschaften ändern, wenn man ihr die aristotelische 4-Ursachen-Lehre zugrunde legt?
„The most fundamental form of uniquely human communication is […] gesture, especially the pointing gesture.“
BR geht es darum, dass die Zeigegeste unter die Kategorie der aristotelischen Formursache fällt, und führt als Beleg unter anderem obiges Zitat an. Ich finde es etwas gewagt, den Terminus „form“ direkt mit der aristotelischen Formursache zu verknüpfen, weil „Form“ bzw. „in Form von“ häufig im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet wird, ohne damit auf Formursache zu verweisen. Daher kommt mir dieses Indiz etwas wacklig und nicht ganz zwingend vor.
Die Frage nach der Wirkursache der Kooperation ist also eindeutig die Frage nach der
Evolutionsgeschichte des menschlichen Leibes im Hinblick auf seine Veranlagung zur
Kooperation und genau diese versucht Tomasello in seinen Naturgeschichten zu
rekonstruieren. Auf bemerkenswerte Weise greift er dabei jedoch nicht auf
materialursächliche Studien zurück, bemüht beispielsweise die Evolutionsgenetik oder
zitiert paläoanthropologische Studien. Nein, er stellt seine Evolutionshypothese aufgrund
von Verhaltensstudien auf, welche formursächlich die kooperative psychische Natur des
Menschen im Vergleich mit Primaten durch die Gestalt ihrer kooperativen (respektive
kollaborativen) Handlungen untersucht. Das Ergebnis ist uns bereits seit dem zweiten
Kapitel dieser Arbeit bekannt und wurde auch bereits ausführlich diskutiert: Nur Menschen
haben die Fähigkeit der geteilten Intentionalität.
Im Gespräch mit Berthold sowie im Rahmen von wechselseitigen Anmerkungen & Kommentaren im Blog stossen wir beide immer wieder an den in Ts Ausführungen fehlenden Erläuterung zu genetischen Anpassungen, sowohl aus phylogenetischer wie ontogenetischer Perspektive.
Den genaueren Zusammenhang bzw. die Spezialität von Ts Vorgehen wurde mir erst durch Rs Darlegung klarer.
„Moderne Menschen und ihre evolutionär nächsten Verwandten – die Großaffen – teilen
99% ihres genetischen Materials, dennoch sind sie nicht untereinander
fortpflanzungsfähig und unterscheiden sich in ihren kognitiven Fähigkeiten enorm
voneinander. Hinzu kommt, dass zwischen ihrem Aufkommen in der Evolutionsgeschichte
nur eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne liegt – archäologische Belege für menschliche
kognitive Errungenschaften sind zudem auf lediglich 250’000 Jahre zuvor datierbar, was
die Zeitspanne für eventuelle genetische Mutationen noch mehr verkürzt. Worin also
gründen die vielfältigen und komplexen Formen menschlicher Kognition, wenn für
genetische Anpassungen zu wenig Zeit und zu wenig prozentualer Raum zur Verfügung
steht?“
Unter dem Eindruck von „Tagebuch der Menschheit“: wie kann es sein, dass die Menschen vor ca 10’000 Jahre sesshaft wurden und sich dem Ackerbau zuwandten, und die kulturelle Entwicklung dann sprunghaft vorantrieben, ohne dass die Evolution Zeit gehabt hätte, mit genetischen Veränderung diese Revolution vorzubereiten / mit Aenderungen im Genom zu reflektieren?
Wäre denkbar, dass die genetischen Voraussetzungen für eine kollektive Intentionalität schon sehr lange da waren, aber erst seit der Jungsteinzeit zur Entfaltung kamen?
Dann wäre vielleicht eben die Ausgangslage nicht so eindeutig, wie Reimann p. 106 annimmt:
„Die Frage nach der Wirkursache der Kooperation ist also eindeutig die Frage nach der
Evolutionsgeschichte des menschlichen Leibes im Hinblick auf seine Veranlagung zur
Kooperation und genau diese versucht Tomasello in seinen Naturgeschichten zu
rekonstruieren.“
Weitergabe von kulturellen Techniken, evtl auch epigenetische transgenerationale Prozesse müsste man dann bei der Wirkursache mit in den Blick nehmen.
Vgl auch den Abschnitt p. 118:
„Mit jeder dieser zwei sogenannten Wenden geht eine Revolution der Lebensweise und
somit der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Individuums einher. Frühmenschen
ließen sich kognitiv und emotional auf ihre KooperationspartnerInnen in ihren kleinen
Gruppen ein und waren auf diese Gruppen für ihr Überleben angewiesen. In dieser kleinen
sozialen Gruppe entwickelten sich ihre kognitiven Fähigkeiten und fanden beispielsweise
mit der Zeigegeste311 neue Formen der Kommunikation, die in Prozessen sozialen Lernens
von Artgenossen übernommen wurden. Ihre formale Weise zu kooperieren wandelte sich
also auch mit ihrer neuen Lebensweise. In der zweiten Wende wandelte sich diese
Lebensweise noch einmal. Aus der kleinen Kooperationseinheit entstanden mit der
Kollektivierung von Intentionen immer größere Gruppen, Familien, Stämme bis hin zu
heutigen Nationen und internationalen Gemeinschaften.“
„Die eine betrifft Überlegungen zum evolutionären Ausgangsdruck, der den Menschen kooperativ werden ließ, …“
BR stellt die Frage, worin der evolutionäre Druck bestanden haben mag, dass sich bei Menschen die Fähigkeit zur Kooperation herausgebildet hat, und stellt fest, dass es dazu wenig Aussagen gibt und es sehr schwierig bis unmöglich scheint, dazu belastbare Indizien zu finden.
Er beantwortet die Frage schließlich so, dass es nicht notwendigerweise einen „materialen“ evolutionären Druck (etwa analog zum Meteoriteneinschlag und damit einhergehende drastische Klimaveränderungen, an die sich die Arten anzupassen hatten) gegeben haben muss, sondern dass es reicht, wenn Vertreter der Gattung homo ohne vorhergehende genetische Veränderungen mehr oder weniger zufällig begonnen haben, Ansätze von geteilter Intentionalität zu zeigen und sich dies nach und nach durchgesetzt hat, weil sich diese Art von Verhalten als evolutionär vorteilhaft erwies. Er bezeichnet dies als formale Wirkursache im Abgrenzung von der nicht auffindbaren materialen Wirkursache.
Ich finde diese Sicht plausibel, zumal ich mir schon länger die Frage gestellt habe, inwiefern ein evolutionärer Druck überhaupt eine notwendige Voraussetzung ist. Natürlich gibt es zahlreiche Beispiele, in denen man Entwicklungen als Antworten auf einen evolutionären Druck nachzeichnen kann, aber es mag auch solche geben, die einfach durch puren Zufall entstanden sind und die in der Folge zu einer Überlegenheit der betroffenen Art geführt haben. Nach meinem Verständnis ist dies ein ganz wesentliches Prinzip der Evolution – die Rolle des Zufalls.
Eine Konsequenz hiervon wäre, dass sich die Frage nach dem evolutionären Druck nicht zwingend stellt, weil man ihn nicht notwendigerweise braucht. Ich weiß nicht, ob BR dies so meint, wenn ja, hätte er es noch expliziter und prägnanter schreiben können. Bei ihm entsteht der Eindruck, dass das Ausbleiben eines konkreten evolutionären Drucks bei der Entwicklung des Menschen einen Sonderfall darstellt.
Im Zusammenhang mit der Frage: „Wozu kooperieren wir“: „Darüber hinaus gibt es jedoch noch einen zweiten Zweck, der bereits mehrfach durchscheinen konnte: Menschen bilden auf der Basis ihrer kooperativen Fähigkeit Kulturen.“
Der erste Zweck („Überleben aufgrund eines selektiven Vorteils“) und der zweite Zweck fallen streng genommen zusammen: es geht jeweils ums Überleben. Somit ist die Aufteilung in zwei separate Zwecke etwas konstruiert. BR scheint die Entstehung der menschlichen Kultur als separaten Zweck anerkennen zu wollen. Warum? Welchen Zweck außer dem des Überlebens gibt es in der Evolution?
„Aus der Analyse im dritten Kapitel geht eindeutig hervor, dass Tomasello seine eigene
Frage, Why We Cooperate, nur partiell beantwortet und ihre volle Bedeutung gar nicht
erfasst. Eine umfassende Antwort auf diese offene Frage wäre von einem einzigen
Wissenschaftler wohl auch zu viel erwartet und das wiederum ist ein Argument für das hier
vorgeschlagene interdisziplinäre Projekt.“
Etwas „patronizing“ gegenüber Tomasello, aber Reimann hat natürlich vorrangig das Argument pro Interdisziplinarität im Auge. Und ganz unschuldig scheint Tomasello nicht zu sein, er geht ganz offensichtlich zu wenig auf die Grenzen seiner Argumentationsmuster ein.
„Diese neuartige soziale Umwelt des Menschen ist spätestens im Zuge der kulturellen Wende so einflussreich geworden, dass sie selbst selektiven Druck auf ihre Bewohner auswirken kann und nach Kriterien kultureller Angepasstheit selektiert.“
Die Botschaft ist, dass die Kultur eine weitere Ebene der Evolution ist, als solche wirkursächlich ist – BR nennt dies auch die Eigenwirksamkeit der Kooperation – und in der Lage ist, ihrerseits selektiven Druck zu erzeugen, der dazu führen kann, dass wenig angepasste Kulturgruppen dezimiert werden und schließlich ganz verschwinden. In Fußnote 330 auf derselben Seite setzt BR den kulturell erzeugten selektiven Druck mit evolutionärem Druck gleich. Darf er das? Ich denke: nein. Evolutionärer Druck meint genetisch Anpassung. Kultureller Druck meint kulturelle Anpassung, also Übernahme von kulturellen Praktiken, Normen, Konventionen usw. Letzteres basiert nicht notwendigerweise auf genetischer Anpassung.
„Es bleibt allerdings offen, ob der koevolutionäre Prozess mit dem modernen Menschen
bereits an seine Grenze gestoßen ist. Denkbar ist es jedenfalls, dass unsere Kultur(en)
weiterhin selektiven Druck auf unsere Gene ausüben könnten. Cecilia Heyes hat allerdings
zu Recht und schlüssig darauf aufmerksam gemacht, dass die kognitiven Fähigkeiten
heutiger, moderner Menschen in ihrer Entwicklung nicht von langwierigen Prozessen
genetischer Vererbung abhängig sind, sondern in viel schneller operierenden kulturellen
Prozessen evolviert werden.“
Über diese „viel schneller operierenden kulturellen Prozesse“ hätte man an dieser Stelle gern mehr erfahren. Was passiert, wenn die kulturelle Überlieferung aus welchen Gründen auch immer einen Bruch erfährt? Wo setzen die Menschen dann wieder an?
Kurze Reflexion zum Abschnitt Aristoteles – Teleologie
BR argumentiert, dass die Teleologie bei Aristoteles in keiner Weise mit einer Rückverursachung gleichzusetzen ist. Letztere besagt, dass vorgängig etwas passiert, damit in der Folge ein Ziel erreicht wird. Das zu erreichende Ziel verursacht somit dasjenige, was vorgängig passiert, obwohl es in der Vergangenheit liegt (normalerweise ist natürlich die Wirkung der Ursache nachgelagert).
Das Argument besteht darin, dass der Mensch von Natur aus zur Vergemeinschaftung strebt, er kann gewissermaßen nicht anders und könnte anders auch nicht überleben. Es ist ähnlich wie bei einem zu Boden fallenden Stein: der kann auch nicht anders. Der am Boden liegende Stein ist die Finalursache, der Endzustand eines Prozesses. Dieser Endzustand ist aber nicht so zu verstehen, dass er eine Art magische Anziehungskraft auf den Stein ausüben würde und der Stein deswegen zu Boden fiele. Teleologie meint hier, dass der Prozess zwar auf ein als Zweck, Ziel oder Finalursache bezeichneten Endzustand hin gerichtet ist, aber diese Gerichtetheit ist nicht durch den Endzustand selbst verursacht, sondern sie liegt in der Natur der Entität, sie ist dieser immanent.
Ich finde diesen Gedankengang von BR (und er ist sicher nicht der erste, der ihn vorbringt) absolut plausibel, nur ist er nach meinem Dafürhalten unnötig kompliziert dargestellt. Es mutet fast etwas esoterisch an, wenn gesagt wird, der Mensch sei von Natur aus politisch und strebt daher immer nach Vergemeinschaftung und Staatenbildung, weil dies wie eine wenig wissenschaftlich anmutende Pauschalaussage daherkommt („der Mensch ist eben so“). Der Kern der Idee ist dabei doch sehr einfach: Die Entitäten streben auf etwas zu, weil ihre Beschaffenheit und die natürlichen Gesetzmäßigkeiten (auf der grundlegendsten Ebene etwa die Beschaffenheit der Materie und ihre Wechselwirkungen) dies bedingen. In mathematischer Sprechweise konvergiert ein Prozess gegen den Endzustand, weil die Bedingungen eben so sind, oder, physikalisch ausgedrückt, weil natürliche Kräfte die Bewegung zum Endzustand bewirken. Eine wissenschaftliche Erklärung würde nun die „Bedingungen“ oder die wirkenden Kräfte adressieren und eine Modell/eine Theorie für sie postulieren.
„Das bedeutet, dass der Staat des Menschen wesentlicher Zweck ist.
Genauer gesagt ist die Vollendung eines autarken, das heißt hier selbstständigen,
selbstgenügsamen Staates sein Ziel. Die zentrale Bedeutung der Autarkie kann hier nicht
genug betont werden. Autarkie gewährleistet die Beständigkeit des von Natur aus
entstehenden Staates. Denn nur was beständig ist, kann auf Dauer existieren und so kann
nur ein autarker Staat das Ziel der natürlichen menschlichen Lebensführung sein.“
Und wenn sich der Staat nur als nützliche Zwischenetappe für die Evolution des Menschen erweist? Ist der Mensch, der dann den autarken Staat nicht mehr als Zweck oder Ziel erkennt (die beiden Begriffe werden hier offenbar in eins gesetzt), kein Mensch mehr?
„… , die durch neue oder verbesserte Fähigkeiten des Trägers eine zweckdienliche funktionale Anpassung darstellen und das Überleben selektiver Prozesse der sich evolvierenden Art gewährleisten.“
Der letzte Teilsatz ist merkwürdig formuliert: Was ist mit dem Überleben selektiver Prozesse gemeint? Denke, die selektiven Prozesse sollte man hier weglassen.
„Es kommt ihr vor allem auf die selektiven Prozesse an, denen die Anpassung entgegenwirkt. Sie erklärt über die Notwendigkeit im arthistorischen Lebensprozess, nicht aber durch die Zufälligkeit auf genetischer Ebene.“
Das halte ich für ziemlich schräg ausgedrückt, der zweite Satz scheint mir schlicht kein Deutsch zu sein. Ich verstehe überdies nicht, wieso BR hier zwischen Anpassung und selektiven Prozessen trennt. Es sind doch gerade die selektiven Prozesse, die die besser angepasste Art hervorbringt. Die Prozesskette ist doch: Mutation –> günstigere Eigenschaften –> erfolgreichere Reproduktion –> Art überlebt (wohingegen weniger angepasste Arten im Zweifel aussterben). BR’s Formulierung suggeriert, als wären Selektion und Anpassung separate Prozesse, von denen der eine dem anderen entgegenkommt.
„Der hier konstruierte Dialog von Aristoteles und Tomasello lehrt uns bezüglich der Kooperationsforschung, dass wir die menschliche Kognition nur über die spezielle menschliche Fähigkeit zur Kooperation verstehen können, da er auf sie ausgerichtet ist.“
Diese Formulierung geht mir etwas zu weit und ist für mich zu wenig zwingend. Dass die Fähigkeit zur Kooperation in der Evolution des Menschen eine zentrale Rolle spielt, ist plausibel, dass menschliche Kognition ohne Kooperation nicht einmal denkbar ist, scheint mir nicht schlüssig belegt zu sein. Mir scheint, man könnte noch klarer herausarbeiten, was es heißt, „auf etwas aufgerichtet zu sein“ oder warum es so ist, dass der Mensch „nicht anders kann“ (als zu kooperieren).
„Fest steht für mich, dass, wenn wir die immanente Teleologie wie hier nach Aristoteles beschrieben, wieder in die Wissenschaft integrieren, wir die Chance haben, das zu bekommen, was Thomas Nagel eine „säkulare Theorie“ nennt, „der zufolge die historische Entwicklung bewussten Lebens nicht durch Intervention, sondern vollständig als Teil einer Naturordnung erklärt wird […].“
Hier, im Abschnitt über Teleologie, verlässt BR mich mehr und mehr: wenn ich es richtig verstehe, ist die Aussage, dass wir die immanente Teleologie in der Wissenschaft brauchen/akzeptieren müssen, um von göttlicher Intervention wegzukommen. Nach meiner Auffassung brauchen wir die Teleologie nicht als Wirkungsprinzip in der Wissenschaft, aber wir können sie als Heuristik nutzen, wie es etwa in der Biologie in Form von funktionalen Erklärungen passiert („das Organ ist so und so ausgebildet, damit diese und jene Funktion ausgeführt werden kann“).
BR arbeitet sich am Ethologen Tinbergen und dessen vergleichenden Verhaltensforschung ab.
Mir bleibt die Motivation des Abarbeitens an Tinbergen unklar. BR scheint es um eine Erklärung für eine autarke und stabile Art zu gehen, die der evolutionstheoretische Ansatz von Tinbergen angeblich nicht zu liefern in der Lage ist. Nach BR liefert erst der teleologische Ansatz als ein heuristisches, bewusstseinskritisches Vorgehen, der den Menschen von vornherein als politisches und kulturelles Wesen begreift, die Grundlage für eine Erklärung, und zusätzlich eröffnet er die Möglichkeit für echte Interdisziplinarität. Mich hat BR hier weitgehend abgehäng
„Auch WissenschaftlerInnen werden in ihrer Kindheit mit einem Menschenbegriff sozialisiert, von dessen Hintergrund sie ihre Karriere in der Wissenschaft beginnen uns dieses sozial erworbene Vorverständnis hat eine sehr lange Kulturgeschichte durchlaufen.“
Beispiel für einen der immer mal wieder vorkommenden schrägen Sätze, in diesem Fall wohl durch mehrere Fehler, die möglicherweise durch nachträgliches Korrigieren zustande gekommen sind. Sollte wohl heißen „vor dessen Hintergrund“, dann „und“ statt „uns“, und davor fehlt dann noch ein Komma, weil danach ein neuer Teilsatz beginnt.
„Alle Nachkommen von Menschen verfolgen in ihrer biologischen Entwicklung ab dem Zeitpunkt ihrer Zeugung ihren allgemeinen, artspezifischen, biologischen Bauplan… . Diese Entwicklung folgt dem Ziel, die Art des Menschen als kulturelle Akteure in ihrer artspezifischen Lebensform kultureller Gemeinschaften zu erhalten. . Um diesen Plan jedoch umzusetzen, … “
Ist die Rede von Ziel und Plan nun rein heuristisch gemeint in dem Sinne: Wir tun jetzt mal so, als hätte sich die Natur ein Ziel gesetzt, das darin besteht, die Art des Menschen als kulturelle Akteure zu erhalten, weil es dem Programm der differenziellen Anthropologie dient und der angestrebten Interdisziplinarität zu der ihr zustehenden Geltung verhilft? Ist das der Kern des teleologischen Ansatzes? Oder steckt mehr dahinter als reine Heuristik? Ich habe den Verdacht, BR sich nicht mit der Heuristik begnügt, und damit wäre ich dann nicht einverstanden, weil es für mich etwas Ideologisches hat. Er will das Politische und Kulturelle beim Menschen als gegeben und unhintergehbar voraussetzen und fordert, dass die Anthropologie dies beherzigt.
Abschnitt 4.3,3; „Ontogenetische Reifung des Menschen als Beispiel einer teleologischen Betrachtung“
Der gesamte Abschnitt liest sich als politisches Statement für einen angemessenen Umgang mit Kindern und der Relevanz von Kindheit. Das mutet nach einem rein politischen Exkurs an und wirkt auf mich in dem philosophisch-anthropologischen Kontext befremdlich. Doppelt fragwürdig scheint mir, dass auf der einen Seite der Wert an sich des Kindseins betont wird, das eben nicht nur als der Weg zum Ziel des voll ausgeformten und auf menschliche Kultur ausgerichteten Erwachsenen begriffen werden dürfe, und auf der anderen Seite das Teleologische hervorgehoben wird: Das Ziel scheint am Ende doch der erwachsene Mensch zu sein. Das wirkt auf mich wie ein etwas hilfloser Versuch, zwei Aspekte zu einer Einheit verbinden zu wollen, die sich nicht wirklich gut zusammen denken lassen.
Abschnitt: 4.3.4 Hannah Arendt – Die natürliche politische Tätigkeit des Menschen
Hier wird es endgültig politisch-moralisch, indem der Zweck der anthropologischen Forschung letztlich im Guten Leben und in der Schaffung der dafür erforderlichen Voraussetzungen verortet wird. Das vierte Kapitel gipfelt in dem Appell an die politisch korrekt gegenderte WissenschaftlerIn, die Menschen als autarke, soziokulturell kooperative beziehungsweise politische Akteure zu begreifen, die um des Guten Leben Willen zusammen leben und zusammen leben müssen.
Natürlich ist es erlaubt, die philosophische Abhandlung auf diese Art und Weise ideologisch-moralisch aufzuladen, nach meinem Geschmack hätte BR aber auch gut darauf verzichten können.
„Ohne diese teleologische Betrachtungsweise gäbe es für uns schlicht
keine Menschen als Menschen und somit auch keinen zentralen Untersuchungsgegenstand
für unsere interdisziplinäre Forschung.“
Wie funktioniert dieses Argumentationsmuster? Der Mensch ist auf Kooperation angelegt, und es ist von daher der Daseinszweck des Menschen, im autarken, auf Gerechtigkeit ausgerichteten Staatenverbund zu leben. Die einseitig evolutionär-genetische Analyse, nicht teleologische Perspektive wird dem Menschen nicht gerecht, und würde eine interdisziplinäre Forschung obsolet machen, respektive würde eben nicht den Menschen als Menschen erforschen, sondern als – was dann?
Ist es denkbar, dass der Dialog Aristoteles – Tomasello etwas einseitig geführt wird? Wäre es nicht auch fruchtbar, Aristoteles zoon politikon einem radikal evolutionären Ansatz zu unterziehen, der eben prinzipiell die Vergesellschaftung als Etappe begreift, und nicht als Finalursache?
„Die Biologie und die Psychologie benötigen diese immanent teleologische Betrachtungsweise, da die Evolutionstheorie für sich keinen Begriff einer stabilen Art hervorbringen kann, wir Menschen aber auch in der Biologie und Psychologie als Menschen gelten. Ohne diese teleologische Betrachtungsweise gäbe es für uns schlicht keine Menschen als Menschen und somit auch keinen zentralen Untersuchungsgegenstand für unsere interdisziplinäre Forschung.“
Eine der zentralen Aussagen von BR, für die ich mich wie taub fühle: Ich sehe nicht das Zwingende, das Bestechende, nicht einmal das Nützliche darin. Solche Aussagen haben etwas Predigthaftes. Es ist mir am Ende zu ideologisch, wenn man das Telos und damit das Konstituierende des Menschen in der Kooperation verortet. Die Rede vom Menschen ist offenbar nur dann theoretisch fundiert, wenn man die Fähigkeit zur Kooperation als konstituierendes Element akzeptiert. Das scheint mir weit über eine Heuristik hinauszugehen.
„Letztlich haben wir auch darauf aufmerksam gemacht, dass wir die Forschung am
Menschen nicht als Selbstzweck betreiben, da sie immer politisch ist und unser
Zusammenleben als Menschen unter Menschen zum Zweck hat. Demnach sollte es die
Aufgabe jeder beteiligten WissenschaftlerIn sein, sich in ihrer Forschung den Zwecken des
Guten Lebens zu widmen. Wobei ich für mich alleine nicht beanspruchen kann und möchte
zu sagen, welche das sind. An dieser Stelle beginnen wir erst unserer Tätigkeit
nachzugehen und politisch zu sein.“
Reimanns Schlusswort gemahnt einen unwillkürlich an eine mittelalterliche scholastische Philosophie, die noch so differenziertes Denken am Ende immer einem bestimmten Zweck unterordnet. – Immerhin ist das eine spannende wissenschaftstheoretische Frage, die hier Reimann leider eben nicht nur aufwirft, sondern sogleich dogmatisch beantwortet.
Schluss
Die Fragen nach der Interpretation von Tomasellos Entdeckung der Bedeutung der kollektiven Intentionalität wird gegen Ende zunehmend überlagert durch Reimanns wissenschaftspolitische Botschaften (die in einer Diss etwas irritieren…). Insofern ist seine Arbeit für unsere, auf Tomasello gerichtete Perspektive nur bedingt fruchtbar. Aber fairerweise ist anzumerken, dass Reimann bereits im Titel und Untertitel deutlich macht, dass Tomasellos Studien für ihn eher Mittel zum Zweck sind. Immerhin waren Reimanns Ausführungen in den ersten Abschnitten streckenweise erhellend im Hinblick auf gewisse Defizite von Tomasellos Ansatz.