Der sterbliche Gott
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Besprechung
Moritz T.
Kapitel I „Der sterbliche Gott“
Didaktisch interessante Entscheidung, im ersten Kapitel kaum ein Wort zu Russland zu verlieren, dafür aber theoretisch-philosophische Zusammenhänge von Macht, Herrschaft und Autorität zu erläutern, und wie sich das Staats-Verständnis über die Zeit gewandelt hat. Hobbes, Hegel, Schmitt, Arendt. Hier wird dem Leser etwas zugemutet.
„Alles am Menschen ist Kritik und Deutung, Beweis und Beleg, nichts mehr versteht sich von selbst.“
Man versteht ja, wie Baberowski zu dieser Aussage kommt, Gott ist tot, keine Autorität bleibt mehr unhinterfragt, der Staat und seine Repräsentanten können herausgefordert werden. Aber in seiner Absolutheit ist dieser Satz falsch. Es gibt weiterhin viele Residuen von Selbstverständlichkeit und vorauseilendem Gehorsam.
„Peter selbst wusste um die Bedeutung des Kriegswesens nicht nur für Russlands Stellung in der Welt, sondern auch die Organisation des Staates und die Perfektionierung der Untertanen.“
Der Krieg als Vater aller Dinge. Ein Heer zu unterhalten heisst, die entsprechenden Ressourcen bereitzustellen, dafür Steuern einzutreiben, einen Überblick über Bevölkerung und Wirtschaft zu erhalten, Soldaten zu rekrutieren und auszubilden. Peter der Grosse, der tatsächlich sehr gross war (von zwei Metern ist die Rede), hat im Eilverfahren eine Armee aus dem Boden gestampft und damit Russland von Grund auf verwandelt, auch unter Anwendung von purem Terror, Erbstück Iwans des Schrecklichen. Die Armee musste natürlich auch erprobt werden, er führte beständig Krieg. – Höchstpersönlich betrieb Peter ein Jahr lang in Europa (Werk-) Spionage, und importierte dann viele Ideen nach Russland. Ausbildner und Fachleute zog er zunächst aus Europa heran, aber er bildete auch eine russische Elite heran.
„‚Petersburg ist wahrhaftig eine Stadt auf Menschengebeinen.'“
Der (sowjetische) Historiker Anziferow wird hier zitiert. Nach einer Quelle aus dem 18. Jahrhundert liessen 100’000 Arbeiter das Leben beim Bau dieser Stadt in den unwirtlichen Sümpfen des Nordens. Grössenwahnsinniges Unterfangen Peters.
Erst stampfte er eine Armee aus dem Boden, dann Petersburg. Ohne Rücksicht auf Verluste, besessen von der Idee, mit Europa zu konkurrieren.
„Darin liegt die Tragik autokratischer Regime: dass sie ihre Lebenskraft aus dem Nimbus der Allmacht schöpfen müssen, weil es sonst nichts gibt, worauf sie vertrauen können.“
Interessanter Gedanke. Die Tendenz zur Radikalisierung, hin zu einer absoluten (Terror-) Herrschaft ist in allen autokratischen Regimen angelegt. Der Herrscher strebt keine Legitimierung durch vermittelnde Instanzen an, da dies das Risiko der De-Legitimierung und des Sturzes mit sich bringt. Zwei Mittel bieten sich dem Autokraten in der Radikalisierung an: Umfassender Terror, der alle in den Bann schlägt, und die Macht muss sich aus einer transzendenten, unangreifbaren Quelle speisen. Am besten kombiniert man die beiden Mittel.
„Wie liessen sich Aufklärung, die Liebe zur französischen Literatur und Philosophie und die Einsicht, dass alle Menschen frei und gleich geboren seien, mit dem System der Sklaverei und mit dem Anspruch auf Alleinherrschaft vereinbaren?“
Schwierige Frage für Katharina II.
„Man konnte die Unfreiheit kritisieren, ohne die Autokratie und das russische Leben zur Anomalie zu erklären. Das war der eigentliche Grund für die Popularität des Hegelschen Denkens in Russland.“
Hegels Dialektik lässt die Verbindung von Tradition und Entwicklung zu. Ebenfalls eifrig rezipiert: Schelling mit seinen Versöhnungsangeboten im grossen Ganzen.
Entschieden pessimistischer liest Tschaadajew die westlichen Philosophen: Russland habe keine wertvollen eigenständigen Ideen hervorgebracht, und nichts zum Fortschritt der Welt beigetragen. Unter Nikolai I. (nach 1825) entfaltet sich unter russischen Intellektuellen ein Diskurs über Russland und die westlichen Werte. Allerdings ging Tschaadajew zu weit. Nikolai liess ihn für verrückt erklären und unter Hausarrest stellen.
Kapitel III.1 Tauwetter
1855 stirbt Nikolai I. Damit wird der Weg endlich frei für Reformen. Es stellt sich heraus, dass niemand mehr ernsthaft das Konzept der Leibeigenschaft verteidigt. Nicht nur die westlich geprägten unabhängigen Intellektuellen äusserten sich nun deutlich für die Abschaffung dieser Form der Sklaverei, auch in der zaristischen Bürokratie setzten sich die Stimmen durch, die den Bauern die Freiheit geben wollten. Und auch die Slawophilen unterstützten diese Bestrebungen. – Die Ausführungen Baberowskis hierzu sind etwas gar lang geraten.
1861 war es soweit, Alexander II. hob die Leibeigenschaft auf. Es kam zu Unruhen; manche Bauern glaubten zu verstehen, dass der Zar ihnen auch gleich das Land zuschanzte, das sie bearbeiteten, und wandten sich gegen die Adligen, denen sie unterstellten, die Anweisungen des Zars zu verfälschen.
Beeindruckend, wie rasch sich die Justiz emanzipierte. Baberowski gibt das Beispiel eines Ministers, der sich Anweisungen des Zaren mit dem Hinweis widersetzte, dass diese gegen das Gesetz verstiessen. Ein eine Generation zuvor unvorstellbarer Vorgang, den der Zar aber wohl oder übel akzeptierte.
„Bis zum Jahr 1905 hatten die Gutsherren mehr als ein Drittel ihres Landbesitzes an Kaufleute oder Bauern verkauft, der Bund zwischen Adel und Autokratie wurde brüchig.“
Die rasante Entwicklung nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 schlägt sich ökonomisch nieder.
Kapitel III, 3. Väter und Kinder
Im Jahr 1870 gab es in Russland nur gerade 5000 Studenten, bei einer Bevölkerung von 75 Millionen. Die Studenten radikalisierten sich zunehmend, und es gab keine bürgerliche Gesellschaft, die ihnen Widerstand, oder vielleicht auch: Halt geboten hätte. Hyper-empfänglich für alle radikalen Ideen, die sie aus dem Westen anwehten, lehnten sie die russische Herrschaft und Bürokratie rundweg ab. Sie idealisierten die Bauern, ohne mit ihnen in irgendeiner Art in Berührung zu stehen. – Überzeugende Darstellung dieser extremen Position, mit Rückgriff auf literarische Texte, insbesondere auf Turgenjews „Väter und Söhne“.
„Die Frage nach der Legitimität von Herrschaft stellte sich in Russland zweifellos radikaler als irgendwo sonst in Europa.“
Die Autokratie in schwerer Krise. Zwar wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, aber die das verschärfte nur die Frage, woher das Zarentum und der Adel ihren Herrschaftsanspruch und ihre Privilegien nahmen.
Kapitel III., 3. Propagandisten und Terroristen
Radikalisierung der Opposition, überzeugendes Portrait der Terrorszene, die sich in Richtung Sekte bewegt, mit der Obsession, den Zaren zu töten. Reihe von Attentaten, Prozesse und Todesurteilen für Terroristen. Aber auch spektakuläre Freisprüche, die auf ein funktionierendes Justizsystem schliessen lassen. Sympathie bis weit ins liberale Lager, das noch den Dialog mit den Terroristen sucht. Hilflosigkeit der Autokratie. Triumphaler, beinah hysterischer Empfang Turgenjews 1879, als er Russland wieder besucht.
„Prozess der 193“
Im September 1877 begann in Petersburg der Prozess gegen die aufrührerischen Studenten, die vergeblich versucht hatten, mit Flugblättern und Indoktrinationen die Bauern aufzuwiegeln. Die „Revolutionäre“ stellten keine Gefahr für die Öffentlichkeit oder den Staat dar, der aber dennoch ein Exempel statuieren wollte. Der Prozess aber wurde zur einer Schaubühne für die Studenten, die endlich den Widerhall fanden, der ihnen zuvor versagt worden war. Die drakonischen Massnahmen (lange Untersuchungshaft, Verbannungen) brachten den jungen Leuten Sympathien ein. Das zaristische Regime hätte die Aktionen als Studentenstreiche abtun können. So aber beschwörte es erst richtig eine vor-revolutionäre Stimmung herauf. – Wobei es schon damals auch terroristische Tendenzen unter den Studenten gab, s. etwa p. 199/200.
Kapitel III. 4. Die Diktatur des Herzens
General Loris-Melikow, faszinierende Figur, der das Vertrauen des Zaren gewinnt, und umfassende Vollmacht erhält für Reformen, die auf eine konsitutionelle Monarchie hinauslaufen.
„Der Liberalismus verderbe sowohl den Verstand als auch die Seele der russischen Gesellschaft. ‚Er paralysiert das Denken und den Willen, er bringt die Moralvorstellungen durcheinander, er verwandelt den Menschen seiner Natur nach in einen geistigen und moralischen Eunuchen.'“
Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. eskaliert die anti-liberale Stimmung. – Sätze, die 140 Jahre später seltsam vertraut und aktuell klingen.
Kapitel III. 6. Alexander III. und die Wiederherstellung der Selbstherrschaft
Das erfolgreiche Attentat auf Alexander II. hatte vielerlei Konsequenzen, die Baberowski in diesem Kapitel ausführlich schildert. Die nihilistische Terrorwelle hatte mit der Ermordung des Zaren ihren Höhepunkt erreicht, aber das Attentat war mehr ein Verzweiflungsakt angesichts der Wirkungslosigkeit der anti-autokratischen Bewegung als ein strategischer Akt. Das Regime reagierte mit Härte und zerstörte die Untergrundbewegung, die mit der Ermordung des Zaren viel Goodwill bei Liberalen verspielt hatte.
Alexander II. hatte die Leibeigenschaft aufgehoben, und er hatte vielerlei Reformen in Gang gesetzt; sein wichtigster Minister in dieser Hinsicht war zuletzt Loris-Melikow gewesen. Gegen ihn und die anderen liberalen Minister wandte sich Pobedonoszew, der dem Thronfolger und neuen Zaren Alexander III. sehr nahestand. Für Pobedonoszew war Loris-Melikow indirekt verantwortlich für den Zarenmord, und er verfolgte jetzt einen anti-liberalen Kurs, mit dem er sich durchsetzte. Damit waren eine Verfassung, Parlament oder Pressefreiheit, auf die Loris-Melikow unter Billigung Alexanders II. hinzuarbeiten schien, in weite Ferne gerückt.
Baberowski versteht es, die Ereignisse anschaulich zu schildern. Es erstaunt aber etwas, dass hier keine Einordnung dieser entscheidenden Weichenstellung erfolgt. Wie hätte Russlands Zukunft ausgesehen, wenn sich die liberale Linie durchgesetzt hätte?
Pobedonoszew wurde von Andrei Belyj im Roman „Petersburg“ als Apollon Apollonowitsch porträtiert.
„Massenschlägereien zwischen verfeindeten Männergruppen gehörten in den Jahren der Jahrhundertwende zum Alltag in den Industriemetropolen des Zarenreiches (…).“
Bauern zogen zu Hunderttausenden in die Städte und bildeten ein Industrieproletariat, das unter äusserst prekären Bedingungen lebte. Der Zarenstaat war nicht in der Lage, die Dynamik zu kontrollieren, geschweige denn aktiv zu gestalten. Cholera-Epidemien, Alkoholsucht und Gewalt prägten die trostlosen Vorstädte, eigentliche no-go-areas für das Bürgertum. Die Arbeiter blieben dennoch lange der dörflich-patriarchalen Herkunft verbunden; sie lebten in der Stadt mit anderen Arbeitern aus derselben Region.
„Nun galt ihr auch der ukrainische Nationalgedanke als unerhörte Provokation, der aus der Welt geschaffen werden musste.“
ihr = der russischen Regierung, im Kontext der polnischen Bestrebungen für mehr Unabhängigkeit.
Für einmal wünschte man sich, Baberowski wäre etwas ausführlicher. Interessante Beobachtung, dass sich die ukrainischen Bauern zunächst nicht an einem für sie abstrakten Gedanken wie der „Ukraine“ orientieren wollten oder konnten.
„So wurde die Armee des Zaren in den imperialen Feldzügen für einen Vernichtungskrieg konditioniert, der keine Grenzen kannte. Die Taktik der verbrannten Erde und der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus den westlichen Territorien der Ukraine im Jahr 1915 und die genozidale Gewalt, die im Jahr 1916 an den kasachischen Nomaden verübt wurde, lässt sich ohne die Kaukasuskriege überhaupt nicht verstehen.“
Die Linien liessen sich hier natürlich noch weiter ausziehen. Brutale Vertreibung der Tscherkessen aus ihren jahrtausendealten Stammlanden (vor allem in die Türkei), mit dem Ziel, die Untertanenschaft homogener zu gestalten.
Kapitel IV, 5. „Juden und Antisemiten“
Plausible Darstellung der Mechanismen, die zu nicht endenden Pogromen in der Spätzeit des Zarenreichs führten. Fatale Strategie des zaristischen Regimes, eine Homogenisierung der vielgestaltigen Untertanen anzustreben, und ausgerechnet die Juden, die tendenziell assimilationswillig waren, zu diskriminieren und ihnen nicht die gleichen Rechte zu geben wie anderen Russen. Der gewalttätige Mob berief sich immer wieder auf den Zaren, wenn er jüdische Viertel verwüstete.
Die Politik der Homogenisierung in einem Reich aus hunderten von Ethnien, Sprachgemeinschaften, religiösen Gemeinschaften war ein absurd-verheerendes Unterfangen, entworfen an Schreibtischen in St. Petersburg von Männern, die verspätet den Traum eines gross-imperialen Russlands träumten. Hunderttausende wurden vertrieben, oder getötet, Ethnien gegeneinander aufgehetzt.
Kapitel IV., 6: Herrschaft als Improvisation
Wie kann ein autokratisches Regime im Alltag über ein Riesenreich herrschen? Vom Zaren eingesetzte Gouverneure mit viel Autonomie ausgestattet, viel hing von der Persönlichkeit der Statthalter ab. Zur Not konnten Gouverneure die Armee = Kosaken zur Hilfe rufen, um Ordnung wiederherzustellen. Aber damit war ein Risiko verbunden, denn die Militärs unterstanden nicht dem Gouverneur und konnten ausser Kontrolle geraten.
Lenins Idee der „diktatorisch geführten Kaderpartei.“
Allerlei untaugliche Versuche der Revolutionäre, die Bauern und später die Arbeiter für die revolutionäre Sache zu gewinnen. Lenin geht einen anderen Weg. 1903 kam es in London beim zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Russlands zu einer Spaltung – in die Bolschewiki (Mehrheitler), angeführt von Lenin, und die Menschewiki (Minderheitler). Der Name Bolschewiki leitet sich von einer gewonnenen Abstimmung her – obwohl Lenins Position insgesamt keine Mehrheit fand in der Partei.
In der Folge recht ausführliches, wenig schmeichelhaftes Psychogramms Lenins, Mann der Tat und Mann des Willens. „Selbst manche Bolschewiki hielten ihn für verrückt.“ (p. 625)
Kapitel IV., 6. „Der fürsorgliche Staat“
Subatow: Faszinierende Figur des Geheimpolizisten, der mit einem Netzwerk von Informanten und Überläufern die Arbeiter für den Staat zu gewinnen versucht. Er will die Arbeiter nicht den Revolutionären und Terroristen überlassen, er hilft ihnen, sich zu organisieren, sich zu artikulieren, unterstützt sie im Kampf für mehr Rechte, damit sie nicht der revolutionären Gesinnung anheimfallen. Subatows dialektische Strategie des „Polizeisozialismus“ war in Moskau recht erfolgreich; das Vorgehen war innerhalb der Regierung sehr umstritten, diese staatlich gesteuerte Arbeiterbewegung konnte sich selbständig machen und ausser Kontrolle geraten. Subatow genoss aber die Protektion des Onkels des Zaren.
Später wurde er in die Provinz verbannt. Subatow war in seiner Jugend revolutionär gesinnt; eine Zeitlang spielte er eine Doppelrolle als Revolutionär und Informant, bevor er definitiv zur Staatsseite überwechselte. Er verstand aber die Sprache und die Beweggründe der Revolutionäre gut, und er pflegte freundschaftliche Gespräche mit verhafteten Aufrührern zu führen.
Als er 1917 hörte, dass der Zar abgedankt hatte, erschoss er sich.
„Davon aber wollten die Bilderstürmer nichts mehr hören, sie wollten jetzt erreichen, worauf andere Jahrhunderte verwendet hatten.“
Studentenunruhen. Baberowski scheint hier hier die Argumentation zu übernehmen, dass man das rückständige Russland nicht mit drastischen Reformen überfordern kann.
Kapitel V, 8. „Autokratie ohne Selbstherrscher“
Etwas gar ausführliche Schilderung der „Fehlbesetzung“ auf dem Zarenthron, Nikolai II. Baberowski referiert viele Quellen, die sich teilweise auch widersprechen. Aber man muss aus allem schliessen, dass Nikolai ein denkbar ungeeigneter Herrscher war, der jeweils den Weg des geringsten Widerstands ging und leicht zu beeinflussen war. Nikolai II. litt unter starken Ministern wie Stolypin oder Witte, und war froh, wenn er sie loswurde. – Keine Strategie, keine Empathie, kein Geschick in der Auswahl seiner Mitarbeiter.
„Nicht Repression und Gewalt, sondern Kompromiss und Konsens brachten das Gefüge des Staates aus dem Gleichgewicht.“
Nach vielen Seiten von Beschreibungen jetzt auf diesen Seiten wieder mal ein Versuch, die revolutionären Geschehnisse von 1905 und ihre Vorgeschichte mehr aus der Vogelperspektive, mit einem methodisch-theoretischen Zugriff einzuordnen. Diese Formel scheint allerdings arg verkürzt und wird der Komplexität nicht gerecht, die Baberowski hier auf diesen Seiten aufzuschlüsseln versucht.
„Nikolai aber begriff nicht, dass er seine Autorität aufs Spiel setzte, indem er schwieg.“
Umfassende Ratlosigkeit nach dem Massaker vom 9. Januar 1905, mit den vielen toten Arbeitern. Schliesslich empfängt der schlecht beratene Zar eine Delegation von Arbeitern. Er sagt, sie seien verführt worden, dass er ihnen aber „vergebe“. Danach werden die Arbeiter mit einem Imbiss abgespeist.
„Am 8. Mai trafen sich Delegierte aller Berufsvereinigungen, gründeten einen ‚Verband der Verbände‘ (Sojus Sojuspo) (…)“
Aktive Rolle der Berufsverbände in der revolutionären Bewegung von 1905. Die Juristen taten sich also sehr progressiv hervor, aber in den gewährten Freiräumen der Universitäten tagten auch Schuhmacher- oder Schneider-Verbände. Die Uni-Professoren schlossen sich auch fachübergreifend zusammen.
Der „Verband der Verbände“ rief schon bald zum Umsturz der Regierung auf. Der Vorsitzende Miljukow, ein Historiker, wurde im August 1905 verhaftet, musste aber nach Protesten der liberalen Presse wieder freigelassen werden. Rasanter Autoritätsverlust der Regierung.
„Der grundlegende Irrtum der liberalen Weltanschauung besteht in der Annahme, dass eine Sichtweise aufgegeben werden müsse, wenn ihre Prämissen widerlegt worden seien.“
Recht heftige Kritik an der Haltung von Struwe, Nabokov und Co, mit ihrer rationalistisch-elitären Herangehensweise, die Tradition und Emotion unterschätzt.
Kapitel VI., 9. Die Entfesselung der Gewalt
Das „Oktobermanifest“ mit Konzessionen an die Aufständischen, das der Zar äusserst widerwillig unterzeichnet hatte, brachte keine Beruhigung der revolutionären Situation. Im Gegenteil, die Gewalt griff 1905/06 weiter um sich, der Respekt vor den Autoritäten erodierte, bis hin zu Soldaten, die die Offiziere nicht mehr beachteten oder sie gar verprügelten.
Eine chaotische, unübersichtliche Situation, in vielen Teilen des riesigen Reiches. Baberowski bleibt wie stets quellennah und berichtet ausführlich von den Gewaltexzessen. Welche Parteien und Gruppierungen waren aktiv? Eine kleine, nicht abschliessende Auslegeordnung
– Die Bolschewiki, die mindestens teilweise ungehemmt auf Terror setzten
– Die Menschewiki, die ebenfalls die Revolution anstrebten
– Anarchisten (kein wichtiger Faktor)
– Arbeiter, häufig mit den Revolutionären sympathisierend
– Die Liberalen, die grundsätzlich zur Opposition gehörten und die Autokratie stürzen wollten, die sich aber teilweise von der Gewalt zu distanzieren begannen, weil sie begriffen, dass der Strudel sie selbst mit fortreissen könnte
– Akademiker, Berufsverbände mit wachsendem Einfluss. Liberal bis revolutionär gesinnt.
– Die Anhänger des Zaren (und der Zar selbst), die die Autokratie verteidigen wollten, aber weder ideologisch noch strategisch die Initiative ergriffen. Reaktionäre im Wortsinn. Der Adel kaum ein Faktor.
– Die Pragmatiker in der Regierung rund um Witte, der einen Weg aus der Krise sucht, und den Zaren vor die Alternative stellt: Konzessionen (in Richtung Parlament und Verfassung), oder Diktatur.
– Die Ordnungskräfte des Regimes, Polizisten, Soldaten, Kosaken. Eher passiv, in einer Opferrolle, dann aber zu Gewaltexzessen neigend, oder sich mit dem rechten Mob solidarisierend, Polizisten teilweise an Übergriffen gegen Juden beteiligt. Soldaten teilweise auch revolutionär oder mindestens anti-autoritär gesinnt. Die Offiziere offenbar kein nennenswerter Faktor.
– Die Schwarze Hundertschaften, monarchistisch-nationalistisch gesinnte Gruppierung, die Gewalt und Terror gegen die Revolutionäre, Studenten, oder Juden ausübten. Die ideologischen Hintergründe werden hier nur knapp erläutert.
– Bauern, die teilweise ohne ideologische Anbindung an die Revolutionäre sich an Gutsherren und deren Besitz vergriffen, sich aber auch an Pogromen gegen die Juden beteiligten. Viele Bauern waren zarentreu, aber in Opposition zu Bürokratie und Regierung.
– „Hooligans“, gewalttätige Banden, wohl eher unparteiisch, aber eher auf Seiten der Rechtsextremen zu finden.
– Kriminelle, die das Chaos für sich zu nutzen wussten.
– Die Juden waren Opfer von Gewalt und Terror eines anti-revolutionären oder schlicht gewaltversessenen Mobs; vereinzelt organisiert in Selbstverteidigungsgruppen.
„“So sah es auch der Zar, der am 27. Oktober seiner Mutter schrieb, dass neun Zehntel aller Revolutionäre Juden seien und sie deshalb die Empärung des Volkes zu spüren bekämen.“
Die gegenrevolutionären Kräfte beriefen sich in ihren antisemitischen Aktionen auf den Zaren. Wohl nicht zu Unrecht. Den Pogromen 1905/06 fielen tausende Juden zum Opfer.
„Nicht Kompromisse und Zugeständnisse, sondern Härte und Entschlossenheit, die Loyalität von Soldaten, hatten den zarischen Staat vor dem Untergang bewahrt.“
S. auch Zitat p. 724. Tatsächlich scheinen die Zugeständnisse des Zaren, die er allerdings nur äusserst widerwillig gegeben hatte, das revolutionäre und gegen-revolutionäre Feuer angefacht zu haben. Ministerpräsident Witte konnte sich mit seinem auf Kompromiss gerichteten Kurs weder bei der Opposition (beispielhaft sein Gespräch mit den Zeitungsverlegern, die auf Maximalforderungen beharrten) noch bei den reaktionären Hofkräften rund um den Zaren durchsetzen.
Mit Ausnahmezustand und Staatsterror gelang die Wiederherstellung der Ordnung, schätzungsweise 30’000 Menschen starben zwischen Oktober 1905 und April 1906. Welchen Preis zahlte das Zarenregime, zahlte Russland darüber hinaus für diesen gewalttätigen Kraftakt?
„‚Dieses ganze Russland ist ein einziges Irrenhaus, und die ganze verfluchte fortschrittliche Intelligenzija ist auch nicht besser als die anderen.'“
Abgang des Ministerpräsidenten Wittes, „nervlich zerrüttet“, zur Zeit der Eröffnung der ersten Duma, des Parlamentes. Witte hatte sich zwischen den Fronten aufgerieben, die Gewaltexzesse nicht verhindern können, aber er war doch wesentlich für die Einführung der „Grundgesetze“ (der Zar mied um jeden Preis das Wort „Verfassung“) und des Parlaments verantwortlich. Was für eine Lebensgeschichte, die sich jetzt einem unschönen Ende entgegenneigte; er vereinsamte zusehends, und verlor jeden Einfluss, wurde von allen Parteien gemieden.
„Von einer Revolution war schon gar keine Rede mehr. Nirgendwo gab es auch nur die geringsten Anzeichen, dass sich die Gesellschaft von Besitz und Bildung mit dem Protest von Arbeitern und Bauern verbinden könnte.“
Der revolutionäre Furor von 1905/06 hatte sich kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs erschöpft, auch wenn es weiterhin zu Unruhen kam. Die Bolschewiki schienen marginalisiert.
Beeindruckend die Entwicklung der Duma: die erste und zweite Duma waren noch chaotisch gewesen, Abgeordnete hatten teilweise keine Vorstellung von ihren Aufgaben, die Parteien nutzen die Bühne zur Selbstdarstellung und beharrten einfach auf ihren Positionen und Maximalforderungen, Liberale und Linke blieben in Fundamentalopposition zur Regierung. In der dritten und vierten Duma hatte sich das parlamentarische Verfahren dann schon eingespielt, man erarbeitete Kompromisse und erzielte Fortschritte. Die Liberalen distanzierten sich zögerlich von den absolut-revolutionären Zielen (und den Bolschewiki), und von den terroristischen Gewaltakten. – Allerdings muss auch festgehalten werden, dass das Regime sich durch wiederholte Aenderungen der Wahlgesetze die Duma heranzog, mit der es arbeiten konnte.
Die Meinungsfreiheit hatte sich etabliert, es erschien eine grosse Anzahl von Zeitungen mit unterschiedlicher Ausrichtung. Auch die Kultur und die Künste widerspiegelten Vielfalt und eine Aufbruchsstimmung.
Das Zarenregime scheint endlich eine – prekäre – Balance erreicht zu haben. Dann bricht der 1. Weltkrieg aus.