Der sterbliche Gott
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Besprechung
ALLE BESPRECHUNGENKapitel I „Der sterbliche Gott“
Didaktisch interessante Entscheidung, im ersten Kapitel kaum ein Wort zu Russland zu verlieren, dafür aber theoretisch-philosophische Zusammenhänge von Macht, Herrschaft und Autorität zu erläutern, und wie sich das Staats-Verständnis über die Zeit gewandelt hat. Hobbes, Hegel, Schmitt, Arendt. Hier wird dem Leser etwas zugemutet.
„Alles am Menschen ist Kritik und Deutung, Beweis und Beleg, nichts mehr versteht sich von selbst.“
Man versteht ja, wie Baberowski zu dieser Aussage kommt, Gott ist tot, keine Autorität bleibt mehr unhinterfragt, der Staat und seine Repräsentanten können herausgefordert werden. Aber in seiner Absolutheit ist dieser Satz falsch. Es gibt weiterhin viele Residuen von Selbstverständlichkeit und vorauseilendem Gehorsam.
„Peter selbst wusste um die Bedeutung des Kriegswesens nicht nur für Russlands Stellung in der Welt, sondern auch die Organisation des Staates und die Perfektionierung der Untertanen.“
Der Krieg als Vater aller Dinge. Ein Heer zu unterhalten heisst, die entsprechenden Ressourcen bereitzustellen, dafür Steuern einzutreiben, einen Überblick über Bevölkerung und Wirtschaft zu erhalten, Soldaten zu rekrutieren und auszubilden. Peter der Grosse, der tatsächlich sehr gross war (von zwei Metern ist die Rede), hat im Eilverfahren eine Armee aus dem Boden gestampft und damit Russland von Grund auf verwandelt, auch unter Anwendung von purem Terror, Erbstück Iwans des Schrecklichen. Die Armee musste natürlich auch erprobt werden, er führte beständig Krieg. – Höchstpersönlich betrieb Peter ein Jahr lang in Europa (Werk-) Spionage, und importierte dann viele Ideen nach Russland. Ausbildner und Fachleute zog er zunächst aus Europa heran, aber er bildete auch eine russische Elite heran.
„‚Petersburg ist wahrhaftig eine Stadt auf Menschengebeinen.'“
Der (sowjetische) Historiker Anziferow wird hier zitiert. Nach einer Quelle aus dem 18. Jahrhundert liessen 100’000 Arbeiter das Leben beim Bau dieser Stadt in den unwirtlichen Sümpfen des Nordens. Grössenwahnsinniges Unterfangen Peters.
Erst stampfte er eine Armee aus dem Boden, dann Petersburg. Ohne Rücksicht auf Verluste, besessen von der Idee, mit Europa zu konkurrieren.
„Darin liegt die Tragik autokratischer Regime: dass sie ihre Lebenskraft aus dem Nimbus der Allmacht schöpfen müssen, weil es sonst nichts gibt, worauf sie vertrauen können.“
Interessanter Gedanke. Die Tendenz zur Radikalisierung, hin zu einer absoluten Herrschaft ist in allen autokratischen Regimen angelegt. Der Herrscher strebt keine Legitimierung durch vermittelnde Instanzen an, da dies das Risiko der De-Legitimierung und des Sturzes mit sich bringt. Zwei Mittel bieten sich dem Autokraten in der Radikalisierung an: Umfassender Terror, der alle in den Bann schlägt, oder die Macht muss sich aus einer transzendenten, unangreifbaren Quelle speisen. Oder man kombiniert die beiden Mittel.
„Wie liessen sich Aufklärung, die Liebe zur französischen Literatur und Philosophie und die Einsicht, dass alle Menschen frei und gleich geboren seien, mit dem System der Sklaverei und mit dem Anspruch auf Alleinherrschaft vereinbaren?“
Schwierige Frage für Katharina II.
„Man konnte die Unfreiheit kritisieren, ohne die Autokratie und das russische Leben zur Anomalie zu erklären. Das war der eigentliche Grund für die Popularität des Hegelschen Denkens in Russland.“
Hegels Dialektik lässt die Verbindung von Tradition und Entwicklung zu. Ebenfalls eifrig rezipiert: Schelling mit seinen Versöhnungsangeboten im grossen Ganzen.
Entschieden pessimistischer liest Tschaadajew die westlichen Philosophen: Russland habe keine wertvollen eigenständigen Ideen hervorgebracht, und nichts zum Fortschritt der Welt beigetragen. Unter Nikolai I. (nach 1825) entfaltet sich unter russischen Intellektuellen ein Diskurs über Russland und die westlichen Werte. Allerdings ging Tschaadajew zu weit. Nikolai liess ihn für verrückt erklären und unter Hausarrest stellen.
Kapitel III.1 Tauwetter
1855 stirbt Nikolai I. Damit wird der Weg endlich frei für Reformen. Es stellt sich heraus, dass niemand mehr ernsthaft das Konzept der Leibeigenschaft verteidigt. Nicht nur die westlich geprägten unabhängigen Intellektuellen äusserten sich nun deutlich für die Abschaffung dieser Form der Sklaverei, auch in der zaristischen Bürokratie setzten sich die Stimmen durch, die den Bauern die Freiheit geben wollten. Und auch die Slawophilen unterstützten diese Bestrebungen. – Die Ausführungen Baberowskis hierzu sind etwas gar lang geraten.
1861 war was soweit, der Alexander II. hob die Leibeigenschaft auf. Es kam zu Unruhen; manche Bauern glaubten zu verstehen, dass der Zar ihnen auch gleich das Land zuschanzte, das sie bearbeiteten, und wandten sich gegen die Adligen, denen sie unterstellten, die Anweisungen des Zars zu verfälschen.
Beeindruckend, wie rasch sich die Justiz emanzipierte. Baberowski gibt das Beispiel eines Ministers, der sich Anweisungen des Zaren mit dem Hinweis widersetzte, dass diese gegen das Gesetz verstiessen. Ein eine Generation zuvor unvorstellbarer Vorgang, den der Zar aber wohl oder übel akzeptierte.
„Bis zum Jahr 1905 hatten die Gutsherren mehr als ein Drittel ihres Landbesitzes an Kaufleute oder Bauern verkauft, der Bund zwischen Adel und Autokratie wurde brüchig.“
Die rasante Entwicklung nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 schlägt sich ökonomisch nieder.
Kapitel III, 3. Väter und Kinder
Im Jahr 1870 gab es in Russland nur gerade 5000 Studenten, bei einer Bevölkerung von 75 Millionen. Die Studenten radikalisierten sich zunehmend, und es gab keine bürgerliche Gesellschaft, die ihnen Widerstand, oder vielleicht auch: Halt geboten hätte. Hyper-empfänglich für alle radikalen Ideen, die sie aus dem Westen anwehten, lehnten sie die russische Herrschaft und Bürokratie rundweg ab. Sie idealisierten die Bauern, ohne mit ihnen in irgendeiner Art in Berührung zu stehen. – Überzeugende Darstellung dieser extremen Position, mit Rückgriff auf literarische Texte, insbesondere auf Turgenjews „Väter und Söhne“.
„Die Frage nach der Legitimität von Herrschaft stellte sich in Russland zweifellos radikaler als irgendwo sonst in Europa.“
Die Autokratie in schwerer Krise. Zwar wurde die Leibeigenschaft abgeschafft, aber die das verschärfte nur die Frage, woher das Zarentum und der Adel ihren Herrschaftsanspruch und ihre Privilegien nahmen.
Kapitel III., 3. Propagandisten und Terroristen
Radikalisierung der Opposition, überzeugendes Portrait der Terrorszene, die sich in Richtung Sekte bewegt, mit der Obsession, den Zaren zu töten. Reihe von Attentaten, Prozesse und Todesurteilen für Terroristen. Aber auch spektakuläre Freisprüche, die auf ein funktionierendes Justizsystem schliessen lassen. Sympathie bis weit ins liberale Lager, das noch den Dialog mit den Terroristen sucht. Hilflosigkeit der Autokratie. Triumphaler, beinah hysterischer Empfang Turgenjews 1879, als er Russland wieder besucht.
„Prozess der 193“
Im September 1877 begann in Petersburg der Prozess gegen die aufrührerischen Studenten, die vergeblich versucht hatten, mit Flugblättern und Indoktrinationen die Bauern aufzuwiegeln. Die „Revolutionäre“ stellten keine Gefahr für die Öffentlichkeit oder den Staat dar, der aber dennoch ein Exempel statuieren wollte. Der Prozess aber wurde zur einer Schaubühne für die Studenten, die endlich den Widerhall fanden, der ihnen zuvor versagt worden war. Die drakonischen Massnahmen (lange Untersuchungshaft, Verbannungen) brachten den jungen Leuten Sympathien ein. Das zaristische Regime hätten die Aktionen als Studentenstreiche abtun können. So aber beschwörte es erst richtig eine vor-revolutionäre Stimmung herauf. – Wobei es schon damals auch terroristische Tendenzen unter den Studenten gab, s. etwa p. 199/200.
Kapitel III. 4. Die Diktatur des Herzens
General Loris-Melikow, faszinierende Figur, der das Vertrauen des Zaren gewinnt, und umfassende Vollmacht erhält für Reformen, die auf eine konsitutionelle Monarchie hinauslaufen.
„Der Liberalismus verderbe sowohl den Verstand als auch die Seele der russischen Gesellschaft. ‚Er paralysiert das Denken und den Willen, er bringt die Moralvorstellungen durcheinander, er verwandelt den Menschen seiner Natur nach in einen geistigen und moralischen Eunuchen.'“
Nach dem Attentat auf Zar Alexander II. eskaliert die anti-liberale Stimmung. – Sätze, die 140 Jahre später seltsam vertraut und aktuell klingen.
Kapitel III. 6. Alexander III. und die Wiederherstellung der Selbstherrschaft
Das erfolgreiche Attentat auf Alexander II. hatte vielerlei Konsequenzen, die Baberowski in diesem Kapitel ausführlich schildert. Die nihilistische Terrorwelle hatte mit der Ermordung des Zaren ihren Höhepunkt erreicht, aber das Attentat war mehr ein Verzweiflungsakt angesichts der Wirkungslosigkeit der anti-autokratischen Bewegung als ein strategischer Akt. Das Regime reagierte mit Härte und zerstörte die Untergrundbewegung, die mit der Ermordung des Zaren viel Goodwill bei Liberalen verspielt hatte.
Alexander II. hatte die Leibeigenschaft aufgehoben, und er hatte vielerlei Reformen in Gang gesetzt; sein wichtigster Minister in dieser Hinsicht war zuletzt Loris-Melikow gewesen. Gegen ihn und die anderen liberalen Minister wandte sich Pobedonoszew, der dem Thronfolger und neuen Zaren Alexander III. sehr nahestand. Für Pobedonoszew war Loris-Melikow indirekt verantwortlich für den Zarenmord, und er verfolgte jetzt einen anti-liberalen Kurs, mit dem er sich druchsetzte. Damit waren eine Verfassung, Parlament oder Pressefreiheit, auf die Loris-Melikow unter Billigung Alexanders II. hinzuarbeiten schien, in weite Ferne gerückt.
Baberowski versteht es, die Ereignisse anschaulich zu schildern. Es erstaunt aber etwas, dass hier keine Einordnung dieser entscheidenden Weichenstellung erfolgt. Wie hätte Russlands Zukunft ausgesehen, wenn sich die liberale Linie durchgesetzt hätte?
„Massenschlägereien zwischen verfeindeten Männergruppen gehörten in den Jahren der Jahrhundertwende zum Alltag in den Industriemetropolen des Zarenreiches (…).“
Bauern zogen zu Hunderttausenden in die Städte und bildeten ein Industrieproletariat, das unter äusserst prekären Bedingungen lebte. Der Zarenstaat war nicht in der Lage, die Dynamik zu kontrollieren, geschweige denn aktiv zu gestalten. Cholera-Epidemien, Alkoholsucht und Gewalt prägten die trostlosen Vorstädte, eigentliche no-go-areas für das Bürgertum. Die Arbeiter blieben dennoch lange der dörflich-patriarchalen Herkunft verbunden; sie lebten in der Stadt mit anderen Arbeitern aus derselben Region.