Der sterbliche Gott

Autor: Jörg Baberowski
Untertitel: Macht und Herrschaft im Zarenreich
Verlag: C.H. Beck
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-406-71420-7
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 1370
Sprache: Deutsch
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Besprechung

Moritz T.

«Der sterbliche Gott» zeichnet die Geschichte des russischen Zarenreichs nach, mit einem ersten Schwerpunkt bei Peter dem Grossen, der nicht zuletzt mit der Heranbildung eines...
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SEITE: 289 - 345 Moritz T. Keine Kommentare
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Kapitel III. 6. Alexander III. und die Wiederherstellung der Selbstherrschaft

Anmerkung:

Das erfolgreiche Attentat auf Alexander II. hatte vielerlei Konsequenzen, die Baberowski in diesem Kapitel ausführlich schildert. Die nihilistische Terrorwelle hatte mit der Ermordung des Zaren ihren Höhepunkt erreicht, aber das Attentat war mehr ein Verzweiflungsakt angesichts der Wirkungslosigkeit der anti-autokratischen Bewegung als ein strategischer Akt. Das Regime reagierte mit Härte und zerstörte die Untergrundbewegung, die mit der Ermordung des Zaren viel Goodwill bei Liberalen verspielt hatte.

Alexander II. hatte die Leibeigenschaft aufgehoben, und er hatte vielerlei Reformen in Gang gesetzt; sein wichtigster Minister in dieser Hinsicht war zuletzt Loris-Melikow gewesen. Gegen ihn und die anderen liberalen Minister wandte sich Pobedonoszew, der dem Thronfolger und neuen Zaren Alexander III. sehr nahestand. Für Pobedonoszew war Loris-Melikow indirekt verantwortlich für den Zarenmord, und er verfolgte jetzt einen anti-liberalen Kurs, mit dem er sich durchsetzte. Damit waren eine Verfassung, Parlament oder Pressefreiheit, auf die Loris-Melikow unter Billigung Alexanders II. hinzuarbeiten schien, in weite Ferne gerückt.

Baberowski versteht es, die Ereignisse anschaulich zu schildern. Es erstaunt aber etwas, dass hier keine Einordnung dieser entscheidenden Weichenstellung erfolgt. Wie hätte Russlands Zukunft ausgesehen, wenn sich die liberale Linie durchgesetzt hätte?

Pobedonoszew wurde von Andrei Belyj im Roman „Petersburg“ als Apollon Apollonowitsch porträtiert.

 

SEITE: 943 - 986 Moritz T. Keine Kommentare
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Kapitel VI., 9. Die Entfesselung der Gewalt

Anmerkung:

Das „Oktobermanifest“ mit Konzessionen an die Aufständischen, das der Zar äusserst widerwillig unterzeichnet hatte, brachte keine Beruhigung der revolutionären Situation. Im Gegenteil, die Gewalt griff 1905/06 weiter um sich, der Respekt vor den Autoritäten erodierte, bis hin zu Soldaten, die die Offiziere nicht mehr beachteten oder sie gar verprügelten.

Eine chaotische, unübersichtliche Situation, in vielen Teilen des riesigen Reiches. Baberowski bleibt wie stets quellennah und berichtet ausführlich von  den Gewaltexzessen. Welche Parteien und Gruppierungen waren aktiv? Eine kleine, nicht abschliessende Auslegeordnung

– Die Bolschewiki, die mindestens teilweise ungehemmt auf Terror setzten

– Die Menschewiki, die ebenfalls die Revolution anstrebten

– Anarchisten (kein wichtiger Faktor)

– Arbeiter, häufig mit den Revolutionären sympathisierend

– Die Liberalen, die grundsätzlich zur Opposition gehörten und die Autokratie stürzen wollten, die sich aber teilweise von der Gewalt zu distanzieren begannen, weil sie begriffen, dass der Strudel sie selbst mit fortreissen könnte

– Akademiker, Berufsverbände mit wachsendem Einfluss. Liberal bis revolutionär gesinnt.

– Die Anhänger des Zaren (und der Zar selbst), die die Autokratie verteidigen wollten, aber weder ideologisch noch strategisch die Initiative ergriffen. Reaktionäre im Wortsinn. Der Adel kaum ein Faktor.

– Die Pragmatiker in der Regierung rund um Witte, der einen Weg aus der Krise sucht, und den Zaren vor die Alternative stellt: Konzessionen (in Richtung Parlament und Verfassung), oder Diktatur.

– Die Ordnungskräfte des Regimes, Polizisten, Soldaten, Kosaken. Eher passiv, in einer Opferrolle, dann aber zu Gewaltexzessen neigend, oder sich mit dem rechten Mob solidarisierend, Polizisten teilweise an Übergriffen gegen Juden beteiligt. Soldaten teilweise auch revolutionär oder mindestens anti-autoritär gesinnt. Die Offiziere offenbar kein nennenswerter Faktor.

– Die Schwarze Hundertschaften, monarchistisch-nationalistisch gesinnte Gruppierung, die Gewalt und Terror gegen die Revolutionäre, Studenten, oder Juden ausübten. Die ideologischen Hintergründe werden hier nur knapp erläutert.

– Bauern, die teilweise ohne ideologische Anbindung an die Revolutionäre sich an Gutsherren und deren Besitz vergriffen, sich aber auch an Pogromen gegen die Juden beteiligten. Viele Bauern waren zarentreu, aber in Opposition zu Bürokratie und Regierung.

– „Hooligans“,  gewalttätige Banden, wohl eher unparteiisch, aber eher auf Seiten der Rechtsextremen zu finden.

– Kriminelle, die das Chaos für sich zu nutzen wussten.

– Die Juden waren Opfer von Gewalt und Terror eines anti-revolutionären oder schlicht gewaltversessenen Mobs; vereinzelt organisiert in Selbstverteidigungsgruppen.

 

SEITE: 1119 Moritz T. Keine Kommentare
Stelle:

„Von einer Revolution war schon gar keine Rede mehr. Nirgendwo gab es auch nur die geringsten Anzeichen, dass sich die Gesellschaft von Besitz und Bildung mit dem Protest von Arbeitern und Bauern verbinden könnte.“

Anmerkung:

Der revolutionäre Furor von 1905/06 hatte sich kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs erschöpft, auch wenn es weiterhin zu Unruhen kam. Die Bolschewiki schienen marginalisiert.

 

Beeindruckend die Entwicklung der Duma: die erste und zweite Duma waren noch chaotisch gewesen, Abgeordnete hatten teilweise keine Vorstellung von ihren Aufgaben, die Parteien nutzen die Bühne zur Selbstdarstellung und beharrten einfach auf ihren Positionen und Maximalforderungen, Liberale und Linke blieben in Fundamentalopposition zur Regierung.  In der dritten und vierten Duma hatte sich das parlamentarische Verfahren dann schon eingespielt, man erarbeitete Kompromisse und erzielte Fortschritte. Die Liberalen distanzierten sich zögerlich von den absolut-revolutionären Zielen (und den Bolschewiki), und von den terroristischen Gewaltakten. – Allerdings muss auch festgehalten werden, dass das Regime sich durch wiederholte Aenderungen der Wahlgesetze die Duma heranzog, mit der es arbeiten konnte.

Die Meinungsfreiheit hatte sich etabliert, es erschien eine grosse Anzahl von Zeitungen mit unterschiedlicher Ausrichtung. Auch die Kultur und die Künste widerspiegelten Vielfalt und eine Aufbruchsstimmung.

Das Zarenregime scheint endlich eine – prekäre – Balance erreicht zu haben. Dann bricht der 1. Weltkrieg aus.

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