Der vorige Sommer und der Sommer davor
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Besprechung
Moritz T.
«Beim Büdchen ein Kriegsrat von jungen Türken und der Mond schon fast voll.»
Frankfurter Streifzüge des Erzählers, mit seiner Tochter.
«Nur immer sie und ich.»
Der Ich-Erzähler erinnert sich an die Spiele mit seiner Mutter, die einen Löwen mimte. Abwesender Vater, noch nicht aus dem Krieg zurück.
«Redet und schweigt und raucht und redet und schweigt in die Leitung hinein. Trinkt, atmet, trinkt.»
Seine Freundin Pascale hat den Freund Jürgen im gemeinsamen Restaurant in der Provence zurückgelassen, Trennung. Lange Telefonate mit dem Ich-Erzähler.
«Eine heilige Familie mit einer guten Landkarte.»
Der Ich-Erzähler mit Frau und Tochter, in die Provence trampend.
«Am liebsten auf beiden Strassenseiten gleichzeitig! Wie die Luft schmeckt! Am liebsten überall Augen! Und immer weiter auswendig lernen den Tag und die Stadt und mich und den Herbst.»
Die Lust wahrzunehmen, und dann zu schreiben
«Hat ihn eingekreist, entmündigt und zugebaut.»
Ehemals lag der Gutshof (heute griechisches Restaurant «Dionysos») ausserhalb der Stadt, die ihn jetzt «eingeholt» hat. Phantasie über Wanderer, oder Flüchtlinge, die über die Jahrhunderte hier vorbeigekommen sind. Atemzüge, Waldrauschen, Sonne…
Dagegen hart gesetzt die Gegenwart mit Staus, Tankstellen, Lagerhallen, Abgaswolken, Lastwagen, Neonlichtern, Ausfallstrassen: Frankfurt. Aber… indem sich die Figuren darin bewegen, wahrnehmen, doch so etwas wie Kontinuität.
«Und sehen wer es ist, der uns diesmal mitnimmt. Man steigt ein und die Welt fängt zu fahren an.»
Langer Fussweg zum «guten Platz» um mit dem Trampen zu starten, durch die Vorstädte von Arles, Richtung Meer, in der Mittagshitze.
«Nach Milchkaffee und nach frischen Croissants, nach Zeitungen, Pampelmusen und Morgenputzmittel und nach Wein und französischen Zigaretten riecht es.»
Nach der morgendlichen Einkaufstour mit Carina im Café du Commerce, in Saintes-Maries-de-la-Mer.
«In den Gärten die Feigenbäume. Du gehst vorbei und hörst, wie die reifen Feigen ins Gras fallen.»
Reminiszenz an Robert Walser, Geschwister Tanner, wo nachts die Äpfel auf den Boden fallen?
«Nur dass dauernd die Zeit vergeht! Heillos! Verheerend die Zeit! Es tut mir schon direkt weh! Man spürt es im Bauch und spürt es am Herz. Aber schön ist es auch. Alles noch kostbarer.»
Das Buch, eine einzige Meditation über die vergehende Zeit.
«Manche schon alt. Und schlafen da auf dem Wasser, schlafen und schaukeln sacht. Schnaufen und knarren und murmeln im Schlaf ein Gemurmel.»
Boote. In Kurzecks Welt ist alles beseelt.
«Will nicht stören. Hat auch mit sich selbst, ist beschäftigt. Trotzdem eine ganze Weile bei uns in der Nähe herum. Auch falls wir einen Auftrag hätten oder einen Knochen für ihn.»
Abends, am verlassenen Strand, ein streunender Hund. Wie gut man sich die Szene, die Hunde-Attitüde vorstellen kann!
«Die Zeit die uns bleibt. ?? Selber brennen und jetzt nochmal auf die Treppe und muss die Sterne sehen heute Nacht.»
Zwei kleine über die Linie gesetzte Fragezeichen… Fragezeichen des Setzers, des Lektors? Die Bedeutung von «Selber brennen» erschliesst sich jedenfalls nicht aus dem Kontext.
«Beim Trampen ist immer jetzt.»
Kurzeck schreibt nebenbei auch eine kleine Hommage an das Trampen, das Unterwegssein per Anhalter, eine Kulturtechnik, die allmählich verlorengeht.
In gewisser Weise ist das Trampen die ideale Daseinsform für ihn: alles ist immer neu, die Aufmerksamkeit ist permanent gefordert. Wie finde ich den idealen Tramper-Platz? Man bewegt sich auf Wegen, die weniger für Fussgänger vorgesehen sind. Aber für den wachen Blick halten die Ausfallstrassen, die Böschungen, die Hügel in der Ferne und der Himmel darüber Interessantes bereit. Hält dieser Wagen für mich? Wer ist es, der mich mitnimmt? Was erzählt er oder sie?
Der Ich-Erzähler wünscht sich, dass die Zeit nicht vergeht, ewiger Sommer, für Moment scheint sie still zu stehen, dann ruckt sie. Indem man alles aufnimmt, kann man die Zeit verlangsamen?
«Dass alles vergeht, wie soll man das aushalten?» p. 349
«Manchmal für dreissig Mark Blut spenden (froh, dass sie es nehmen!), und für das Geld dann gleich billigen Rotwein, um das fehlende Blut zu ersetzen.»
Rückblick auf die Prä-Abstinenzzeit.
«Wie ein reicher Mann, der zu Recht auf der Welt. Und weiss das auch jederzeit.»
Zurück in Frankfurt, auf dem Arbeitsamt gemeldet, Formulare ausgefüllt, jetzt Zigaretten in einem teuren Tabakladen gekauft. Sich der Welt versichern, 40 Jahre alt, arbeitslos.