Die Brücke über die Drina
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Besprechung
Moritz T.
Anmerkungen zu einzelnen Stellen
Kapitel 2
Brillante Inszenierung des Brücken-Gründungsmythos‘: ein unheimlicher Fährmann führte jeweils die Knaben der Christen, die das osmanische Sultanat zwangsrekrutieren liess, über die Drina, weg von den weinenden Müttern. Eines dieser Kinder machte später Karriere am osmanischen Hof und wurde zum Grosswesir Mehmed Pascha, der dann dieses Bauwerk in Auftrag gab, sozusagen als Brücke in seine Kindheit.
«Und alle Serben empfanden Erleichterung, als hätten sie einen unsichtbaren Sieg errungen.»
Einer der Brücken-Saboteure, ein Bauer aus der Umgebung, wurde auf frischer Tat ertappt und öffentlich gepfählt, ein grausamer, schauderhafter Vorgang, der die ganze Umgebung in Bann zog. Über Stunden lebte der Gepfählte noch. Sein Tod wird von den Serben (zuvor wurde dieser Begriff kaum verwendet, eher «Christen») mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, der Bauer wird zum Märtyrer gegen das unmenschlich strenge Regime des vom Wesir bestimmten Bauherrn Abidaga (der dann vom milderen Arifbeg abgelöst wird).
«Jeder, auch der kleinste Städter, fühlte sich, als hätten sich seine Fähigkeiten mit einem Mal vervielfacht (…) , als wäre neben den bisher bekannten Elementen, Erde, Wasser und Himmel, mit einem Mal noch ein weiteres entdeckt worden, als wäre (…) der uralte Menschheitstraum erfüllt worden: über das Wasser zu gehen und den Raum zu beherrschen.»
Die Brücke ist nach Jahren kolossaler Anstrengungen fertiggestellt. Grandios, wie Andrić das Erhabenheitsgefühl durch seine Prosa zu vermitteln vermag.
«Damit verschwand die Kapija unter dem blutigen und berüchtigten Blockhaus und mit ihr die Zusammenkünfte, Gespräche und Mussestunden. Auch die Türken gingen nur ungern dort vorüber, von den Serben überschritt die Brücke nur, wer unbedingt musste, dann aber mit gesenktem Kopf und in Eile.»
Zur Zeit der serbischen Aufstände zu Beginn des 19. Jahrhunderts verschärften die Türken die Repression gegen die Türken auch in Višegrad. Auf der Brücke wurde ein Blockhaus gezimmert, in dem Verdächtige Serben festgesetzt und hingerichtet wurde. Der Charakter der Brücke veränderte sich vollständig.
„Man sass dort wie auf einer Zauberschaukel: Gleichzeitig ging man auf der Erde, schwamm auf dem Wasser, flog durch den Raum und war dennoch fest und sicher verbunden mit der Stadt und seinem weissen Häuschen, dort am Ufer, mit seinem Garten und den Pflaumenbäumen ringsum.“
Die Brücke als metaphysisch-physischer Ort.
«Auf die Kapija kamen, zum ersten Mal seit ihrem Bestehen, auch Frauen.»
Neuerung, nachdem die Österreicher Višegrad übernommen haben. Zuvor nie explizit thematisiert, konnte man doch ahnen, dass die Brücke ein Revier der Männer war.
«unwiederbringliche ‘süsse Stille’ der türkischen Zeit»
etwas überraschende nostalgische Formulierung. Schliesslich brachte die omanische Herrschaft auch allerlei Härte vor allem für die serbische Bevölkerung mit sich. Aber mit den Habsburgern hielt eine neue Dynamik des Fortschritts Einzug in Višegrad.
«das schwere und dumpfe Bersten des Eises auf der Drina, das man irgendwo in seinen Eingeweiden spürte (…)»
Der Frühling hält Einzug über der Drina.
«Durch ihr Wissen, das hier gross erschien, durch ihre Ruhe und ihre europäischen Gewohnheiten flössten sie dem Volk, vom dem sie sich so sehr unterschieden, Vertrauen und Respekt ein (…)»
Das heisst, die Višegrader sind ihrem Selbstverständnis nach keine Europäer. Was sind sie dann? Würden Sie sich als Orientalen bezeichnen? Vielleicht auch nicht. Im Zwischenland angesiedelt.
Manche Massnahmen der neuen Besatzer sind undurchschaubar, seltsam, und erst später zeigt sich der Sinn.
«Denn auch in dieser abgelegenen Stadt, in der das Leben zu zwei Dritteln noch vollkommen orientalisch war, begannen die Menschen zu Sklaven der Zahlen zu werden und an Statistiken zu glauben.»
Was für ein Satz! Wiederum die deutliche Abgrenzung von Europa, das dazu übergeht, sich Višegrad einzuverleiben.
Ab 1908 die «dunkle Drohung», die Politik, p. 322, Gründung von religiösen/nationalistischen Parteien
«Aber wenn wir einmal unsere nationale Freiheit und staatliche Selbständigkeit erworben haben, dann werden unser Geld und unser Blut nur für uns da sein und bleiben.»
Zwei angehende Studenten auf der Brücke im Gespräch, der eine Muslim, der andere Christ. Der Serbe blickt zurück auf den Gründer der Brücke, der als Kind an den Osmanischen Hof gebracht worden war. – Die Szene spielt am Vorabend des 1. Weltkriegs.
Verdichtung in den Portraits einer Gruppe junger Studenten.