Die Jakobsbücher
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Besprechung
Moritz T.
„(…) den Schattierungen aus den unermesslichen Vorräten an Grautönen, die das Unterfutter der Welt bilden.“
Der Dechant Benedikt Chmielowski im Nebel, dessen Farbe ihn an seine Bettwäsche erinnert, „ein eingetrübtes Weiss.“ „Unterfutter der Welt“: Bruno Schulz – Reminiszenz?
„Überall ist der fade Geruch von Malz zu spüren; jeder Ware, die zum Verkauf angeboten wird, haftet er an.“
Olfaktorisches Profil der Marktstadt Rohatyn (in der heutigen Ukraine), das der Pater nach einer Kutschenfahrt durch den Nebel erreicht; der Nebel verschluckt sogleich die Bilder wieder, die er frei gibt, ein wenig wie bei einer Lektüre.
Brauereien am Rande der Stadt. Kann man einen Geruch „spüren“? Diesen Geruch kann man „essen wie Brot“. – In Konkurrenz zum Duft des Pferdedungs und der Pasteten.
„Rubin interessiert sich sehr für das, was uns im Ungefähren erscheint. Bilder, die unter den Lidern sich verbergen – er möchte wissen, wie sie entstehen.“
Der jüdische Arzt Ascher Rubin nach dem Krankenbesuch beim Starost auf dem Weg durch das abendliche, frühwinterliche (sehr anschaulich beschriebene) Rohatyn, das er sich vergegenwärtigt, mit sich als Wahrnehmenden: würden andere etwas anderes sehen? „Wenn wir mit einem Mal wahrhaftig sähen, was uns umgibt? Was wäre dann?“
p. 1122: „Die wahre Weisheit liegt in der Kunst alles mit allem zu verbinden; dann erst tritt die wirkliche Gestalt der Dinge zutage.“ Gedanken Aschers.
„Die eingetrocknete Feder in der Hand, sitzt er da, bis die Kerze niederbrennt und mit einem Zischen erlischt. Dann umflutet ihn die Finsternis.“
Wir sind – nach dem Ausflug in die jüdische Welt des Elischa Schors und seiner grossen Familie in Kapitel 3 des Buches I – in die katholische Welt zurückgekehrt, zum Pater und Dechant Benedikt Chmielowski. Der Besuch der Gesellschaftsdame Elzbieta Druzbacka, der nicht ganz nach Wunsch abgelaufen ist (sie interessierte sich mehr für die Hundewelpen als für seine Bücher, dabei ist sie selbst eine Dichterin) veranlasst den Pater zu einer Rückschau auf sein Leben. Viel gibt es nicht zu berichten: er war sehr verliebt in die Ehefrau Jablonowskis, deren Sohn er als „Präzeptor“ zu erziehen hatte. Einmal küsste er sie „im Liebeswahn“ auf die Wange; sie verschaffte ihm dann die Stelle als Pater in Firlejow. So bleibt das Blatt Papier, das er vor sich hat, weitgehend leer und er in Gedanken versunken. – Herrlich, wie die Autorin ihre Figuren einführt.
Gott als empfindliche Auster…
… die sich zurückzieht, um der Welt Platz zu machen: Zimzum-Motiv aus Lurias Kabbala.
„In den Abgrund alles Bösen muss er hinuntersteigen, um das Böse von innen heraus zu vernichten. In der Gestalt eines Sünders muss er diesen Weg auf sich nehmen, scheinbar einer der Verworfenen, damit die Mächte des Bösen ihn nicht erkennen, um dann zum Schwarzpulver zu werden, das die Festung von innen sprengt.“
Aus den Aufzeichnungen von Nachman Samuel ben Lewi, der mit seinem Lehrmeister Reb Mordke nach Smyrna gereist ist, in Handelsgeschäften und auf der Suche nach Erleuchtung. – Apologie des Sabbatai Zwi, des zum Islam konvertierten Messias, der – kurz vor der Welt-Erlösung – die Regeln und Gesetze ausser Kraft setzt. Sich verselbständigende Dialektik.
Jakob und der heilige Geist
Nachman und Reb Mordke bereden Towa, dass er seine Tochter Jakob zur Frau gebe. Für einmal etwas hölzerne Prosa; auch die Szene, wie der nackte Jakob den heiligen Geist erwartet, kann nicht so ganz überzeugen. Gut, Nachmann schreibt auch: „Es fällt mir schwer, über das Geschehene zu schreiben.“ (p. 958)
„Man solle täglich üben, ‚Nein‘ zu sagen.“
Jakob zu Nachmann, „halb in Scherz(…), halb in Alberei“ – das liesse keinen Platz für den Ernst, der darin doch wohl auch steckt?
Jakob hat sich umbenannt, er heisst nicht mehr Jakob („Jankele“) Leibowiczs, er nennt sich jetzt Jakob Frank, so heissen auch Schwiegervater und Frau, so nennt man in der Türkei die Juden aus dem Westen. Vor allem aber heisst „Frank“ auch fremd: Jakob ist gern der Fremde, „Diesen Zustand gilt es mit aller Sorgfalt zu bewahren, denn aus ihm fliesst eine grosse Kraft.“
„Reste. Was wir bei Moliwdas Bogomilen sahen.“
Aufzeichnungen Nachmans: Jakob und die anderen Juden sind zu Gast in Moliwdas (eigentlich: Antoni Kossakowskis) Dorf. Alle sind weiss gekleidet; die Frauen scheinen gleichberechtigt, wenn nicht gar dominant. Wer wessen Vater ist, wissen die Männer im Dorf nicht. Es sind Bogomilen, eine christliche Sekte, bei denen Nachman gewisse Verwandtschaften zum eigenen, jüdisch-unorthodoxen Glauben entdeckt. – Zuvor war Moliwda auf dem Berg Athos, und dann im muslimischen Smyrna / Izmir. Der Leser taucht ins Fluidum dieser und jener Religion; alles scheint im Fluss.
„Für zwei Messiasse ist in Saloniki kein Platz.“
Jakob hat Visionen und gewinnt neue Anhänger; aber Konio, der seinerseits behauptet in der Nachfolge Sabbatai Zwis (und Baruchjas, Konios Vater) zu stehen, hat keine Freude an der Konkurrenz. Es kommt zu Auseinandersetzungen, Prügeleien. Jakob und seine Anhänger werden aus Saloniki vertrieben.
„Vom Verbrennen der Talmudschriften“
Die polnischen Behörden schlagen sich auf die Seite der „Contratalmudisten“, die Rabbiner verlieren eine Disputation gegen die Häretiker. Das Konsistorialgericht verfügt die Verbrennung der Talmudschriften. „Sabtaizwinisten“, Anhänger Sabbatai Zwis, und Christen gehen gemeinsam gegen die orthodoxen Juden vor.
„Schor geleitet Chmielowski zum Wagen, zieht mit einer einzigen Bewegung die Plache herunter. Ein unerhörtes Ding bietet sich des Paters Augen dar: Der Wagen ist fast bis obenhin beladen mit Büchern.“
Der Wind hat gedreht: Verstorben ist Erzbischof Dembowski, der seine schützende Hand über die Contratalmudisten gehalten hatte, in nicht ganz uneigennütziger Absicht. Er hatte darauf spekuliert, dass sich die Anhänger Jakob Franks und Sabbatai Zwis, die sich zur Dreifaltigkeit bekennen, taufen lassen, und er eine stattliche Anzahl neuer Schäfchen zu seiner Herde hinzugewinnen kann. – Jetzt aber werden nicht mehr Talmudbücher verbrannt, sondern die orthodoxen Juden machen Jagd auf die Schriften der Kabbalisten, und gelegentlich auch auf diese selbst. Schor bringt seine Kabbala-Bibliothek beim buchaffinen Pater Chmielowski in Sicherheit, der den Buchzuwachs begrüsst. Einer Flaubert-Figur gleich versucht er das Wissen der Welt zu sammeln.
„Wie ein kleines Dorf am Dnjestr zur Republik wurde“
Viele Figuren und Fäden verknüpfen sich schliesslich im Dorf Iwanie, am Dnjester gelegen. Hier manifestiert sich endlich, was zuvor angedeutet und zerstreut war. Die Stränge der Erzählung, die zuweilen ein etwas gar weites Geäder bildeten, münden wie von selbst in Iwanie – grosse Erzählkunst. Eine Art Gottesstaat ohne Gott, angeführt vom Charismatiker Jakob, der Gesetze aufhebt und Rituale einführt, ohne sich oder anderen gross Rechenschaft darüber abzulegen; er scheint kein grosser Theologe zu sein, und die Messiasrolle scheint er eher pragmatisch auszulegen, in einer Art gelebten Utopie, die nicht sonderlich erlösungsorientiert scheint. Auf die Dreifaltigkeit allerdings legt er grossen Wert, sie ist die Brücke hin zur katholischen Kirche. Die kleine Republik betreibt erfolgreich Aussenpolitik, und erwirbt sich den Schutz der polnischen Bischöfe.
Gegen das Verbot Jakobs hält Nachman schriftlich fest, was der Charismatiker von sich gibt. Der Gott dieser Sekte scheint eher ein Gott der Abwesenheit zu sein. Bestehende Gesetze übertreten scheint fast so etwas wie ein Gebot zu sein.
«der Ort ist nicht gänzlich auf der Erde angesiedelt, nicht gänzlich in der Wirklichkeit verwurzelt.» (p. 607) Jenta blickt auf Iwanie.
„‚In dem Kampf geht es darum, den Punkt zu verlassen, an dem man alles gliedert in Gut und Böse, Licht und Dunkel, man muss sich lösen von diesen einfältigen Vorstellungen und eine neue Ordnung beginnen. Was ausserhalb dieses Punkt sich befindet, ist ungewiss, so, als setzte man alles auf eine Karte und tue den Schritt ins Dunkel.'“
Von Jakob Frank selbst hört man kaum Programmatisches, er scheint eher ein Praktiker zu sein. Nachman aber erläutert hier gegenüber Moliwda, was die Contratalmudisten umtreibt und wohin sie streben. Der „Schritt ins Dunkel“ impliziert auch den Bruch mit den überlieferten Gesetzen, aber von diesen Gesetzen her kommend. – Nähe zu Elementen von Tokarczuks Poetik, wie sie sie in ihrem Essay „Ognosie“ darlegt.
„Wenn zwei Körper ineinanderfliessen, entsteht eine neue Form der Bindung, von feiner, nicht zu fassender Art, denn Worte vermögen das Wesen dieser Bindung nicht wiederzugeben.“
In Iwanie ist es nicht nur erlaubt, einer sexuellen Attraktion nachzugeben, auch wenn keine eheliche Verbindung besteht: „Was bisher verboten war, ist von nun an nicht nur erlaubt – geboten ist es.“
„Zu kindlich ist sie noch, um Kind zu spielen.“
Nachman versucht vergeblich seine Frau Wajgele zu animieren, bei Tollerei und Grimassenschneiden mit zu machen, mit dem Jakob nicht nur die Kinder in Iwanie unterhält.
„(…) er spinnt Geschichten, wie er selbst es nennt. Nachman bemüht sich, sie möglichst genau im Kopf zu behalten, und wenn er wieder bei sich zu Hause ist, setzt er sich über das Verbot hinweg und schreibt sie auf.“
Nachman, Chronist der Frankisten, notiert Jakbos Geschichten.
„Für uns ist das Gute die Abwesenheit Gottes dort, wo er sein könnte.“
Aus den Aufzeichnungen Nachmans. Variation auf das Zimzum-Motiv. In göttlicher Vollkommenheit ist keine Veränderung möglich. Veränderung ist für den Menschen aber, was die Freiheit möglich macht.
Disputation in der Lemberger Kathedrale
Jenta, und der Blick von oben auf die Versammelten in der Lemberger Kathedrale, während der Disputation, die von vorneherein entschieden scheint, zugunsten der Contratalmudisten. Die verschiedenen Kopfbedeckungen lassen Jenta an verschiedene Pilzarten denken; wunderbares Bild.
„Fremd zu sein, weckt Wendigkeit und Geistesschärfe. Wer fremd ist, gewinnt einen neuen Standpunkt, er wird, ob er will oder nicht, ein wahrer Weiser. Wer hat uns eingeredet, dass es gut und trefflich sei, stets und ständig dazuzugehören? Nur der Fremde versteht die Welt.“
Nachman, über Jakob und seine Anhänger. Sie sind fremd im katholischen und jüdischen Polen. Aber suchen sie nicht in der Abgrenzung das Nicht-Fremde, eine eigene Heimat? Allerdings zeichnet sie bislang aus, stets „unterwegs“ zu sein, geographisch, spirituell. – Nah an Tokarczuks eigener Poetik, wie sie sie in „Übungen im Fremdsein“ darlegt.
„Immer tückischer werden die Fragen des Priesters Sliwicki (…)“
Von der Disputation zur Gerichtsverhandlung, die Stimmung dreht sich gegen die „Neophyten“; Verdüsterung. Befragung Jakob Franks durch den Jesuiten: Woher die Motivation, sich taufen zu lassen? Haben die Contratalmudisten verstanden, dass Jesus Christus der (wiederkehrende) Messias ist? Was hat es mit der Verehrung für den wunderwirkenden Anführer Jakob Frank genau auf sich? – Den Bischöfen geht es mehr um Seelen- und Machtzuwachs, die kritischen Priester schauen aber genauer hin, wen die Heilige Kirche hier in ihren Schoss aufnimmt. Moliwda als Dolmetscher, der Prozess wird aus seiner Sicht geschildert, wir sitzen und schwitzen quasi mit auf der Anklagebank.
„Nachman soll dabei bleiben. Jakob will es so. Steif und mit einem Ächzen legt er sich auf Wajgele. Vollzieht den Akt. Wajgele schaut er nicht einmal an dabei. Am Ende stösst sie ein tiefes Stöhnen aus.“
Jakob hatte unter den Anhängern Frauen ausgewählt, mit denen er schlafen will. Nachmans Frau Wajgele sträubt sich lange. Sie hat Angst vor dem Sektenführer; Nachman überredet sie. – Jakob schläft auch vor aller Augen mit seiner Frau Chana.
Aber auch drei Anhänger Jakobs schlafen mit Chana vor einer Mission (p. 314). „So werden sie noch inniger Jakobs Brüder und Verwandte, als sie es ohnehin schon sind.“
„‚Ich wurde hierhergebracht, weil hier die Schechina gefangen ist, auf diesem neuen Sinai, verborgen unter dem bemalten Holz, dem Bildnis der Madonna.'“
Jakob macht sich seinen Reim, warum er im Tschenstochauer Kloster gefangen gehalten wird. Die Schechina, die Gegenwart Gottes, ist dort in einem Marienbild eingesperrt. Er wird sie befreien. Das erzählt er seinem Schwiegervater, der darob entsetzt ist. Jakobs Anhänger aber glauben ihm, genauso wie der Fabel von den Höhlen, die unter Tschenstochau mit allen anderen Höhlen der Welt verbunden sind, und die ungeahnte Goldschätze bergen. Für einen Aussenstehenden wie seinen Schwiegervater sieht es wohl so aus, als sei Jakob wahnsinnig geworden. Er sinnt danach, seine Tochter aus den Klauen des Sektenführers zu befreien.
„Dabei erinnerte ich mich, dass ich einst bei Jakob hatte sein wollen, wie Nathan von Gaza an der Seite Sabbatai Zwis gewesen war, der ihn erhöhte und ihm zeigte, dass er der Messias war, hatte doch Sabbatai dies selbst nicht gewusst.“
Aus den Aufzeichnungen Jakubowskis, respektive Nachmans. Er hat Mühe, sich in der vornehmen Brünner Umgebung des „Herrn“ zurecht zu finden, und es scheint ihm, dass „eine unsichtbare Wand“ zwischen ihnen stände. Nachman rapportiert Gerüchte, wonach Jakob nicht der echte Jakob sei, der sei in Tschenstochau verstorben. – Jetzt erlaubt Jakob, dass seine Reden niedergeschrieben werden: er träumt von einem kommenden Krieg, der den Rechtgläubigen die Chance auf eigenes Land eröffnen könnte. Jakob sammelt eine kleine kriegerische Truppe um sich.
„‚Aber sie sollen doch nicht aus Vergnügen zusammen sein‘, erklärt ihr der Herr, ’sie sollen sich überwinden, sich zusammenraufen. Ein Ganzes zu bilden, das ist der Sinn.'“
Jakob verfügt immer wieder, wer mit wem zu schlafen habe in der Gruppe der Anhängerschaft. Hier erklärt er Wittel Matuszewska, warum er das tut. Sie hat auch nicht prinzipiell etwas dagegen; nur sind die angeordneten Paarungen nicht immer im Sinn der Frauen, die „fühlen sich schrecklich hinterher.“
„Seltsam, wie dieser Traum sich einnistet im Tageslicht.“
Jakob erzählt am Morgen den Anhängern seine Träume, die diskutiert und gedeutet werden; auch andere, allen voran Eva, dürfen ihre Träume erzählen, die sich dann verzahnen, in den Träumen der anderen nächste Nacht eine Fortsetzung finden. – Stärkung des Gruppengefühls, Optionen für Jakob, für die Gruppe Perspektiven zu entwerfen, die „von aussen“ initiiert scheinen.
„Sie befreite die grosse, welke Brust aus ihrer Kleidung, schob sie dem Herrn an die Lippen. Und er begann, daran zu saugen. Auch wenn sie leer war. Dann verliessen ihn die Kräfte, sein Atem setzte aus.“
Jakob stirbt. Muttermilch seiner Anhängerinnen hatte er früher schon gern getrunken, wenn er krank war, als Medizin.
Der Rest ist Abgesang, die Anhänger sterben nach und nach, die Tochter Ewa muss das von einem Gönner zur Verfügung gestellte Schloss in Offenbach aufgeben und zieht in eine Stadtwohnung, sich vor den Gläubigern versteckend.
Der Messias stirbt und hinterlässt seiner Tochter einen Schuldenberg.