Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen
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Besprechung
Moritz T.
„Da, wo die Seele alles Begrenztsein ganz von sich abstreift und (…) in die Tiefen des Nichts steigt, da gerade begegnet sie Gott. Das ‚Nichts‘ nämlich ist ein Nichts voll mystischer Fülle, wenn es auch in keine menschliche Bestimmung gefasst werden kann.“
Scholem hier erstaunlich undistanziert.
„(das mystische Symbol) steht für etwas, was aus einer Schicht kommt und ihr zugehört, die ihr Gesicht, uns abgewandt, nach innen kehrt. Ein verborgenes Leben, das keinen Ausdruck hat, findet ihn im Symbol.“
Grosse Bedeutung des (mystischen) Symbols; Abgrenzung von der Allegorie. „Dies kennzeichnet den tiefen Unterschied zwischen der allegorischen Religionsauffassung der Philosophen und der symbolischen der Mystiker.“ (p. 30)
„Sie betrachten vielmehr (…) die Übung der Gebote als geheime Mysterienhandlung.“
Das Judentum kennt eine Vielzahl von Geboten (s. Halacha – Wikipedia), die rational (nicht mehr) zu begründen sind. Der jüdischen Philosophie sind diese Gebote im Grunde fremd geblieben, sie konnte sie nicht integrieren. Für die Kabbalisten dagegen sind sie von zentraler Bedeutung. – Ähnlich verhält es sich mit der Agada (s. hier: Aggada – Wikipedia), aus biblischen Stoffen abgeleiteten Legenden, die die Kabbalisten „lebendig fortentwickeln“ (p. 33), während die Philosophen ihnen eher mit Distanz begegnen.
„(…) Gebet nicht als freier Erguss der Seele, sondern wirklich im strengen Verstande als eine mystische Aktion aufgefasst wurde, die mit dem inneren Weltgeschehen unmittelbar zusammenhängt (…).“
Wichtigkeit des Gebets für die Kabbalisten, von Scholem affirmativ reflektiert, in der merkwürdigen Formulierung vom „inneren Weltgeschehen“. Scholem beklagt dann aber, dass die meditative Gebetsmystik (Kawwana) zu einer allzu dominanten Strömung der Kabbala geworden sei, die andere Elemente verdrängt habe.
„Auf alle Fälle ist die Existenz des Bösen für die meisten Kabbalisten – als echte Siegelbewahrer der mythischen Welt – einer der hauptsächlichsten Motoren ihres Denkens, die sie immer wieder zu einer Lösung des Problems antreibt.“
Wieder im Unterschied zu den Philosophen (Frage: welche Stellung nimmt das rabbinische Judentum ein? Scholem unterscheidet hier immer zwischen Mystikern und Philosophen). Das Böse als Problem, das einer Lösung harrt. Kann es denn gelöst werden? – Die Philosophie dagegen behauptet, das Böse sein ein Scheinproblem. Schwierige Position nach dem Holocaust.
„Wer sich tiefer in das Denken grosser Kabbalisten zu versenken sucht, wird die Zwiespältigkeit der Empfindung zwischen Bewunderung und Abscheu selten los.“
Distanzierung von gewissen obskurantischen Tendenzen der Kabbala.
„(…) die älteste jüdische Mystik ist Thronmystik.“
Verweis auf das (apokalyptische) Buch Henoch, nur im Kanon der äthiopischen Kirche, älteste Thronschilderung.
„Die Idee der sieben Himmel, durch die die Seele in ihre Urheimat aufsteigt, sei es nach dem Tode, sei es in der Ekstase noch in diesem Leben, ist sehr alt.“
Im siebten Himmel warten dann die Paläste und der Thron = Merkaba. Auf dem Weg zum Thron hatten die Mystiker Gefahren zu bestehen, mussten feindlich gesinnte Türwächter hinter sich lassen und Passwörter kennen; und nicht alle waren geeignet, den Weg zum Thron hinaus (später: hinab) anzutreten. Offenbar gab es physiognomische und chiromantische Kriterien, die einen (dis-) qualifizierten.
„(…) Chasside Aschkenas, die ‚Frommen Deutschlands.'“
Aschkenas = Deutschland. Deutscher Chassidismus einzige religionsgeschichtlich bedeutende Bewegung im deutschen Judentum, vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert.
„(…) und aufs seltsamste verbinden sich nun altjüdische Magie, hellenistischer Okkultismus und die ganze Fülle altdeutschen Zauber- und Dämonenglaubens (…)“
Mischung diverser Elemente im deutschen Chassidismus, oder eben keine Mischung: die Elemente bestanden nebeneinander, es wurde keine Synthese versucht. Kein „philosophischer Unterbau“.
„Drei Dinge machen vor allem den wahren Chassid aus, wie er uns im ‚Buch der Frommen‘ entgegentritt: die asketische Abwendung von den Dingen dieser Welt, der vollkommene seelische Gleichmut und ein ins Extreme getriebener prinzipieller Altruismus.“
Kernelemente des deutschen Chassidismus, weit weg von der Merkaba-Mystik.
chassidische Gebetsmystik
Gematria= Zahlenwert von Worten oder Sätzen, Notarikon = Buchstaben eines Wortes als Abkürzung für einen ganzen Satz, Temura = Vertauschung der Buchstaben gegen andere. Die Techniken kommen bei traditionellen Gebeten zur Anwendung, die aber dann neuen Sinn generieren, wobei Scholem einräumt, dass die Intention dieser Techniken sich nicht mehr klar erschliessen lässt. Deutsche Chassidisten aber waren sehr wort-orientiert, und fixiert auf vorgegebene Zeilen, während die Merkaba-Mystiker gern im Überschwang neue Worte aneinanderreihen.
Scholem verwendet den Begriff „Gebetsmagie“ (p. 110).
Busssystem
Chassidim pflegten Bussrituale, zum ersten Mal im Judentum. Christlicher Einfluss.
„Wenig verbindet diese alten Chassidim des 13. Jahrhunderts mit der im 18. Jahrhundert in den polnischen und ukrainischen Landen aufgekommenen chassidischen Bewegung (…)“
Dazwischen liegen „die wesentlichsten Entwicklungen kabbalistischen Denkens“. Verbindendes Element aber: „soziale Wirksamkeit“.
«Tradition und Intuition sind also verkoppelt, und das erklärt, warum die Kabbala streng konservativ oder höchst revolutionär sein konnte.»
Die prophetische Kabbala, ab ca 1200 (zu Beginn seiner akademischen Karriere neigte Scholem zur Auffassung, dass es die Kabbala «seit Urzeiten» gab, korrigierte sich dann aber: die Kabbala trat erstmals im Mittelalter in Erscheinung). – Zwei höchst unterschiedliche Quellen, die für die Kabbalisten als «autoritativ» galten, wobei sich die Intuition oder Inspiration auch aus Träumen speisen konnte.
«(…) Abulafia, der zweifellos ein moralisch hochstehender und unbeugsamer Charakter war (…)»
Doch etwas überraschende Charakterisierung einer tief historischen Figur. Vergleiche auch p. 141: «Sein sittlicher Charakter ist (…) sehr hoch zu stellen.»
«(…) die er Chochmath ha-Zeruf nennt, das heisst die ’Wissenschaft von der Kombination der Buchstaben’.»
Abulafia hat eine Anleitung zur Versenkung in die Welt des Alphabets verfasst, «Wissenschaft von der mystischen Meditation über die Buchstaben und ihre Kombination als Elemente des Namens Gottes» (p. 144). Die Buchstaben sollen gerade keine Bedeutung aufweisen, es geht dem Mystiker um Abstraktion von sinnlicher Welt und primärer Bedeutung. Vergleich mit der Musik (p. 145) – Buchstaben-Kombination als Komposition, als Annäherung zu Gott, unio mystica, Ekstase. Abulafia hat in der Kabbala-Geschichte (an deren Anfang er steht) mit diesem Akzent eine Sonderstellung; zwar gibt es auch anderweitig Bezüge zur Ekstase, aber so explizit im Vordergrund ist sie selten.
Abulafia war stark von der Philosophie und insbesondere Maimonides beeinflusst (Parallele zu Meister Eckhardt), weniger vom rabbinischen Judentum. «Zugleich schwärmerisch und rational», p. 142
„‚ In Wirklichkeit aber sind es die Buchstaben, die, von seinem Denken und seiner Phantasie ergriffen, ihn in ihrer Bewegung beeinflussen, seinem Grübeln schwierige Themen eine zentrale Richtung geben, ohne dass er dessen gewahr wird.'“
Scholem zitiert hier ausführlich einen Schüler Abulafias, der 1295 einen Text verfasste mit einem autobiographischen Anhang, der nur in zwei von vier überlieferten Manuskripten zu finden sind. Dieser faszinierende autobiografische Teil, so mutmasst Scholem, fiel in den anderen Versionen der „kabbalistischen Selbstzensur zum Opfer“. Er gibt Einblicke in die mystisch-buchstabenkombinatorischen Erfahrungen.
„“Vielmehr ist dies der ‚Pfad der Namen‘: je unverständlicher sie sind, um so höher ist ihr Rang, bis Du zur Wirksamkeit einer Kraft gelangst, die nicht mehr Deiner Kontrolle untersteht, sondern vielmehr ist dein Verstand und dein Denken unter ihrer Kontrolle.““
Ziel ist ein Kontrollverlust… dies (unter anderem) erklärt auch, warum das Wissen um diese Methodik nicht in unbefugte Hände kommen, esoterisch bleiben sollte.
Warnung vor magischen Praktiken
Der Schüler Abulafias erklärt, warum er seine Erfahrungen weitergibt, die nicht zu beweisen sind, auch wenn er weiss, dass er sich damit bei den Kabbalisten unbeliebt macht. Er kann es nicht ertragen, „Anderen nicht zu übermitteln, was Gott mir verliehen hat“. Zugleich warnt er davor, die mystische Methode zu missbrauchen und „den Namen Gottes“ zu entweihen.
„(…) jahrehundertelang schien dieses Werk dessen geheimste Seele auszudrücken.“
Superlativ für den Einfluss des Buches „Sohar“ auf das „ganze jüdische Volk“.
Erörterung der Frage, wer den Sohar geschrieben hat.
Detaillierte Schilderung, warum Scholem von seiner ursprünglichen Meinung abrückt, der Sohar sei im 2./3. Jahrhundert geschrieben worden. Stattdessen vertritt er die These, dass Moshe de Leon den Sohar im 13. Jahrhundert geschrieben hat.
„Immer wieder versinkt der Autor auf Strecken hin in mystische Allegorisationen und nicht selten auch Abstrusitäten, aber immer wieder bricht eine manchmal schauerliche und verborgene Tiefe aus seinen Worten.“
Systematik keine Stärke des Sohars (gemäss Scholem entspricht der Mangel an Systematik einer tiefverwurzelten Tradition des jüdischen Denkens), dafür aber tiefschürfende, überraschende und zugleich einleuchtende Interpretationen von Torastellen.
„Viele Gedanken sind nicht so sehr in das Wort der Bibel hineingelesen, sondern wirklich aus einem mystischen Überdenken desselben erst hervorgewachsen. Durch diese Form des Kommentars bleibt der Sohar tief an jüdische Denkgewohnheiten gebunden. Ist doch der Kommentar sozusagen die autochthone Form echt jüdischen Denkens und die Systematisierung ihm (…) eigentlich fremd.“
Scholem hier ohne (wissenschaftliche) Distanz: kein Zweifel, dass es so etwas wie „mystisches Überdenken“ gibt. – Nochmals betont er das Unsystematische (und damit implizit auch das Offene, Unabschliessbare) des jüdischen Denkens.
„Die Tora ist für (den Sohar) ein grosses corpus symbolicum, in dem sich jenes verborgene Leben Gottes darstellt, das die Lehre von den Sefiroth zu beschreiben sucht.“
Scholem setzt sich mit der Sefiroth, „den zehn Sphären göttlicher Manifestationen“, ausführlich auseinander auf den Seiten 232 ff., verkürzt::
- höchste Krone
- Weisheit
- Intelligenz
- Liebe oder Gnade
- Macht (strafend oder richtend)
- Barmherzigkeit
- beständige Dauer
- Majestät
- Grund
- Reich Gottes
„Sie sind jene zehn Namen, mit denen Gott genannt wird (…) die Aspekte, unter denen er erscheint“ (p. 233). Baumsymbolik.
„Nur allzu leicht wird der immanente Gott auch eine unpersönliche Gottheit.*
Nicht bei den Kabbalisten; dort begegnet in der Immanenz das menschliche Ich dem göttlichen Ich.
„Dieses geheimnisvolle Nichts, das die Kabbalisten als erste Sefira, auch als die ‚höchste Krone‘ der Gottheit bezeichnen, ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, der Abgrund, der in den Lücken alles Seienden sichtbar ist. (…) Kein Ding kann sich verwandeln, das nicht diesen Bereich des Beziehungslosen, des puren Seins, das der Mystiker eben ‚Nichts‘ nennt, berührt hat.“
Das pure Sein ist das Nichts. Dunkle, paradoxe, dialektische Rede… Faszinierend aber, dass die Kabbalisten das Nichts mitdenken, ja ihm eine zentrale Rolle zuerkennen.
„Im Schoss der Bina, der ‚mystischen Mutter‘ aller Dinge, existiert, was vorher in der göttlichen Sophia ungeschieden war, als die ‚reine Totalität aller Individuationen.'“
Beispiel für das Ineinandergreifen der Sefiroth: Bina, Intelligenz, aber auch „das, was zwischen den Dingen scheidet“, entfaltet (sich?) aus der Weisheit, dem „idealen Punkt“, „dem mystischen Samen“ (p. 239)
Verborgene pantheistische Tendenz der theosophischen Kabbala.
Scholem redet von einem Rest, „der in keiner rationalen Rechnung aufgeht“, selbst wenn die Theoretiker der Kabbala die mystischen Erfahrungen monotheistisch zu deuten suchen.
„Das Mysterium der Geschlechter ist für den Kabbalisten von wahrhaft schauerlicher Tiefe.“
Zwar wird im Sohar – anders als später in der Kabbala, oder bei den christlichen Mystikern – die Liebe zu Gott nicht erotisch aufgeladen. Aber um so mehr beherrscht die „Sprache des Sexus“ die Schilderungen der „inneren Beziehungen der Gottheit zu sich selbst“. –
Sündenfall Adams: „Das Geheimnis müsse innerhalb des Kreises der Eingeweihten bleiben.“
Im Sohar (anders als in anderen kabbalistischen Werken) wird dem Sündenfall Adams nicht viel Raum gewidmet – Begründung siehe oben. Aber es gibt dann doch Andeutungen: Adam habe die Schechina (die Immanenz/Präsenz Gottes unter den Menschen Schechina – Wikipedia) gegenüber den anderen Sefiroth (Emanationen Gottes, s. oben, Anmerkung zu p. 229; die 10. Sefira, ‚Reich‘ Gottes wird auch als Schechina bezeichnet) bevorzugt und damit „Trennung und Vereinzelung in die Welt“ gebracht.
Seither geht ein Riss durch die Welt, der erst in der Erlösung geheilt wird. Unterwegs aber: „Freilich, in der unerlösten Welt wird jener Riss, der eine ständige Verbindung Gottes mit der Schechina verhindert, durch die religiöse Tat Israels, durch die Tora, Gebot und Gebet überwunden, ausgebessert.“ (p. 253)
„Der höchste religiöse Wert, den die spanische Kabbala, und damit auch der Sohar, ins Zentrum der Ethik stellt, ist die debekuth, die ständige Liebe, das ständige Verbundensein mit Gott, der unmittelbare Rapport, der (…) hier fast ganz an die Stelle des eigentlich ekstatischen Erlebnisses getreten ist.“
Das Böse – eine Manifestation (Sefira) Gottes?
Scholem unterstellt der Philosophie, das Böse zu eskamotieren, verschwinden zu lassen als ein Scheinproblem; nicht so die Kabbala, die den Grund für das Böse in einer „hypertrophen“ Manifestation einer Gottesqualität (der Macht? Gebura/Din?) sieht (Verweis auf verwandtes Gedankengut beim christlichen Mystiker Jakob Boehme, p. 259). – Tendenziell im Sohar das Böse nicht durch den (Sündenfall des) Menschen verursacht, sondern aus der „Weltstruktur“ (p. 260) zu verstehen.
„Dieser Prozess führte zu einer immer stärker anwachsenden Verbindung der messianischen und apokalyptischen Elemente des Judentums mit jenen der alten Kabbala.“
1492 mussten die Juden Spanien verlassen (mehr als 100’000 taten das), oder zum Christentum konvertieren, nach dem Alhambra-Edikt. Scholem bringt dieses Trauma mit der Entwicklung der Kabbala hin zu messianischen und apokalyptischen Akzenten in Verbindung, in einem offenbar allmählichen Prozess. Etwas mechanistisch anmutende Erklärung, alternativlos präsentiert. – Die ältere Kabbala hatte sich mehr für den Anfang, den Ursprung, die Schöpfung der Welt interessiert; jetzt steht das Ende, die Erlösung im Vordergrund.
„Viel weniger harmlos ist die Auffassung Lurias. An der Spitze seines Gedankenganges steht die Lehre vom Zimzum (…).“
Im Sohar entfaltet sich die Welt, in den Emanationen. „eingleisiger und einfacher Weg“, wie Scholem schreibt. Bei Luria aber zieht sich Gott zurück, um die Existenz des Weltalls zu ermöglichen. Das scheint ein durchaus neuer, innovativer Gedanke gewesen zu sein; Zimzum als Begriff ist zwar alt, aber Luria gibt ihm diese neue Bedeutung. – Zimzum als „tiefstes Symbol des Exils“, p. 287. Aber… Zimzum ist keine Einbahnstrasse: Sich ausbreitendes und sich zurückziehendes Prinzip, Ein- und Ausatmen, p. 289.
„So wie das Samenkorn platzen muss, um treiben und Frucht bringen zu können, so mussten die ersten Gefässe, wenn das göttliche Licht in ihnen, die Weltensaat, sein Gesetz erfüllen sollte, ebenfalls zerbrechen. Jedenfalls ist dieser Bruch der Gefässe, den die lurianischen Schriften sehr eingehend beschreiben, der entscheidende Vorgang im Weltgeschehen.“
Der Sohar berichtet von einer Welt, in denen ausschliesslich die Sefira des strengen Gerichts, Gebura herrschte – diese Welt zerbrach, weil die Schöpfung nur in Harmonie von Strenge und Gnade Bestand haben kann. Der Sohar bringt das in Zusammenhang mit 1. Mose, 36, in dem die Könige Edoms aufgelistet werden; sonst erfährt man in der Bibel wenig von diesem Reich. Isaak Luria aber identifiziert das Sterben dieser „Urkönige“ mit dem Bruch der Gefässe, mit dem auch das Böse in die Welt kam, aus den Scherben dieser Gefässe „entstanden die dämonischen Gegenwelten des Bösen“. An den Scherben hafteten auch noch einige Funken „des heiligen Lichts der göttlichen Essenz“, genau genommen: 288. – Im Vergleich zum Zimzum-Konzept schwierig zu verstehender Aspekt der Lurianischen Kabbala. Offenbar geht es darum zu erklären, wie das Böse in die Welt kommt, und dass es um eine Wiederherstellung eines idealen Zustandes geht, Prozess des Tikkun Tohu and Tikun – Wikipedia (der ideale Zustand ist allerdings zunächst hier auch nicht so klar erkennbar: vor dem Zerbrechen der Gefässe gab es ja auch die Disharmonie von Edom?).
„Die Theorie des Tikkun läuft darauf hinaus, dass aber nach dem Bruch der Gefässe aus dem Urstrahl des En-Sof, der in die Welten brach, ein neuer Lichtstrom aus der Stirn des Adam Kadmon quoll, der die ungeordneten Elemente von neuem zusammenfasste.“
Etwas unvermittelte Einführung des Adam Kadmon Adam Qadmon – Wikipedia. Scholem hier allzu knapp; anderseits stellt das Konzept der lurianischen Mystik wohl auch einen didaktischen Meister wie Scholem vor sehr grosse Schwierigkeiten…
„‚Nicht En-Sof selbst verbreitet sich in den unteren Welten, sondern nur ein [von seiner Substanz verschiedenes] Strahlen, Ha’ara, das von ihm ausgeht.'“
Luria-Zitat. Luria nimmt (ältere Quellen aufnehmend) vier Welten an, durch die Gott hindurchwirkt, in einer „stetigen Evolution der Schöpfung“ – ist dann aber Gott in allem, nicht nur im Kern des En-Sof? Nein, in den unteren Welten findet sich nur so etwas wie ein Abglanz der Substanz Gottes, nicht diese selbst. Mit dieser Argumentation sucht gemäss Scholem Luria der Gefahr des Pantheismus zu begegnen.
„Der Mensch soll in jeder Handlung seine innere Absicht darauf richten, die ursprüngliche Einheit wieder herzustellen, die durch den Urmakel – den Bruch der Gefässe – und jene von dort herkommenden Mächte des Bösen und der Sünde in der Welt gestört worden ist.“
Mitverantwortung des Menschen im Tikkun. Die Erlösung kommt nicht von selbst, Gott hat dem Menschen eine Aufgabe übertragen. Umgekehrt dürfte dann gelten: indem er sündigt, hält der Mensch den Tikkun auf… Die Ursünde Adams hat den „ewigen Sabbath“, die endgültige Erlösung, knapp verhindert (p. 302). Welche Funktion aber hat der Messias in diesem Geschehen? Das Erscheinen des Messias sieht Luria (nur) als „Siegel“ auf den Prozess des Tikkun (p. 300/1).
Gebet – Mystik oder Magie?
Im Gebet kann der Gläubige auch versuchen, Gott und die Dinge in seinem Sinne zu beeinflussen, Magie walten zu lassen. Scholem berichtet von eigenen Erfahrungen mit „Meistern des mystischen Gebets“, von denen er glaubt, dass sie diese Gefahr bewältigen (p. 305; 1937 habe es in Jerusalem etwa 30 bis 40 solche Meister gegeben).
Die Ursünde wiederholt den Bruch der Gefässe auf einer niederen Ebene. Die Wirkung ist wieder, dass nichts bleibt, wo es sein sollte, und nichts, wie es sein sollte: nichts ist daher auf seinem richtigen Platz. Alles ist im Exil.“
Radikale (aber vielleicht gerade deswegen in diesen Formulierungen hier auch etwas nichtssagende) Botschaft der Lurianischen Kabbala. Vermischung von Gut und Böse, die wieder aufgehoben werden muss.
„(…) und man suchte gerade in Safed bei der Ausarbeitung der einzelnen Stadien der Seelenwanderung von vornherein auch Platz für die ‚altmodische Hölle‘ zu lassen.“
Seelenwanderung als wichtiger Aspekt der Lurianischen Mystik, Begründung resp. Vergeltung für Ungerechtigkeiten im Diesseits. Tendenziell in Konkurrenz zum Konzept der Hölle.
„Und so ist es begreiflich, dass die tiefe Faszination, die von dem Bild des sich den Dämonen ausliefernden, hilflosen Erlösers im Sabbatianismus ausgeht, direkt zum Nihilismus führte.“
Unnachahmlich, wie Scholem hier Sabbatai Zwi porträtiert: als Manisch-Depressiven, der seine Messiasrolle eher widerstrebend annahm, nachdem sein Prophet Nathan ihn quasi eingeweiht hatte, und der am Ende zum Islam konvertierte. Diese unfassbare Volte erzeugte erst einen tiefen Glauben an den Messias und verhalf dem Sabbatianismus zu grossem Einfluss im Judentum. Scholem vergleicht Sabbatai Zwi mit Jesus Christus, natürlich unter Betonung der Unterschiede: Aber Apostasie und Kreuzestod wirkten paradoxerweise als Brandbeschleuniger für die Ausbreitung der Sekten, weil sie die Gläubigen vor eine absolute Wahl stellten.
In seinen manischen Phasen hatte Sabbatai Zwi antinomistische Züge gezeigt, gegen das rabbinische Judentum verstossen. Sicher liegen darin anarchische Züge; inwieweit aber führte die Apostasie des Messias „direkt zum Nihilismus“? s. Stelle p. 349
Marranen, sephardische Juden fühlten sich durch die Apostasie besonders angezogen – viele von ihnen hatten unter Gewaltandrohung zum Christentum konvertiert, ohne ihr Judentum abzulegen. Tat es ihnen jetzt nicht sogar der Messias gleich?
„(…) denn wer in die tiefsten Tiefen gesunken war, schien der Berufenste, das Licht zu schauen.“
Der „radikale Flügel“ des Sabbatianismus sah in der Sünde den Heilsweg. Denkfigur: wer durch die Sünde geht, kann die Welt wieder ganz machen. Aber auch: kurz vor der Erlösung gelten die jüdischen Gesetze nicht mehr, sie werden ausser Kraft gesetzt. Oder: der Messias steht ausserhalb des Gesetzes (und darum kann er auch zum Islam konvertieren, ohne dass ihn dies in seiner Rolle entgleisen lässt). Figur des Jakob Frank Jakob Joseph Frank – Wikipedia
„Und die Leidenschaft, mit der das alte Judentum und auch die orthodoxe Kabbala sich dagegen gewehrt haben, sich den Gott der ratio und den der Offenbarung auseinanderreissen zu lassen, ist nur allzu begreiflich.“
Die Sabbatianer zeigten Geringschätzung für den Gott der ersten Ursache, den Gott der Philosophen, den verborgenen Gott; sie setzten auf den Gott der Offenbarung, den Gott Israels, den „Judengott“, der wiederum von den früher Gnostikern des 2. und 3. Jahrhunderts gering geschätzt wurde. Scholem nennt das „metaphysischen Antisemitismus“ (p. 354). – Widerstand des rabbinischen Judentums und der orthodoxen Kabbala gegen diese sabbatianische Präferenz des Gottes der Offenbarung (Ende 17., Beginn des 18. Jahrhundert). – Müsste man vielleicht formulieren: Präferenz für diesen Aspekt Gottes?
„Dieser Enthusiasmus der unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen, der in seiner radikalen Betonung von der Immanenz Gottes in allen Dingen seine Begründung ebensosehr wie seinen Ausdruck fand, beherrscht die ersten fünfzig Jahre, die eigentlich heroische Zeit des Chassidismus. Dieser Enthusiasmus nahm aber keineswegs messianische Formen an.“
… und unterschied sich darin deutlich vom Sabbatianismus, aus dem der Chassidismus mindestens in Teilen hervorgegangen war (frühe Chassidisten waren mutmasslich Kryptosabbatianer).
„Das verwandelnde Element ist also nicht auf der lehrmässigen oder literarischen Ebene zu suchen. Es liegt vielmehr in der Erweckung, in der Spontaneität des Gefühls, die die Begegnung mit den lebendigen Verkörperungen der Mystik hervorruft.“
Der Chassidismus zeichnet sich kaum durch neue Erkenntnisse oder Denkfiguren aus, sondern durch die Emphase der mystischen Erlebnisse.
Zusammenfassende Charakteristik des Chassidismus
Scholem listet vier Merkmale auf
- Erweckungsbewegung, wichtig sind Laien (weniger die Gelehrten), aber…
- Zaddikismus, der Rabbi (Zaddik) als Zentrum der Gemeinde, s. Admor – Wikipedia
- kabbalistisch-traditionelle Motive, aber Popularisierung der Begriffe
- das persönliche Leben ist entscheidend
„(…) dass der Zaddik ’selber Tora geworden ist‘. Nicht mehr sein Wissen, sondern sein Dasein verleiht ihm religiösen Wert. Seine Person ist ganz und gar lebendig gewordene Tora.“ (p. 378)