
Die letzte Fahrt des Zaren
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Besprechung
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„(…) dass die Versorgunsgkrise eigentlich eine Glaubwürdigkeitskrise ist (…)“
Der Innenminister versucht die Bevölkerung zu beruhigen, informiert die Bäcker und lässt auch Plakate drucken: die Bäckereien werden auch künftig mit Mehl beliefert werden. Das bewirkt aber keine Beruhigung, die Leute glauben den Zusicherungen nicht und stürmen die Bäckereien. Der Aufruhr verstärkt sich in dem in Petrograd umbenannten St. Petersburg im Februar 1917.
„Zu Beginn der Unruhen wäre es für die Regierung noch möglich gewesen, die Oberhand zu behalten. Der Innenminister hätte nichts weiter tun müssen als Aufwiegler aus der Stadt auszuweisen, die Polizei im Zentrum der Stadt zu konzentrieren und Ansammlungen von Menschen auf den Strassen aufzulösen.“
Unentschlossenheit auf Seiten der Regierung in Anbetracht der Unruhen. Der Innenminister Protopopow völlig überfordert. Der Zar aus der Hauptstadt abgereist. Aufstände und Unruhen sind nichts neues, sie werden sich auch diesmal vorübergehen.
„Im Grunde wissen weder die Meuterer, noch die Verteidiger, was sie tun, weil sie keinen Überblick über die Situation haben und deshalb panisch, ohne Sinn und Verstand um sich schiessen.“
Ende Februar 1917 schwemmt die Revolte die alte Ordnung weg. Allerdings scheinen die meuternden Soldaten kein klares Ziel zu haben. Nachdem sie ihre Offiziere vertrieben oder ermordet haben, gibt es für sie kein Zurück. Vorwärts aber heisst: weitere Offiziere, Polizisten und wohlhabende Bürger berauben und töten.
„Das Ende der alten Ordnung kommt nicht, weil sich gegen die Volksmassen gegen sie erheben, sondern weil die herrschenden Eliten sie nicht mehr verteidigen wollen.“
Vielleicht nicht einmal der Zar selbst, der schlechte Nachrichten lange ignoriert, und zu keinen strategischen Entscheiden fähig ist.
Abbildung „Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates in Petrograd“
Eindrückliche Fotographie und Beschreibung des Arbeiter- und Soldatenrates in der Duma (Ende Februar 1917), quasi der Gebärsaal der Revolution. Hier geht es chaotisch und stürmisch zu, Redner folgt auf Redner, Soldaten campieren im Saal oder in den Fluren der Duma.
Die Beschreibung der Tage zuvor wirkte etwas papieren, mit der langen Aufzählung von verpassten Chancen des Zarenregimes und den sich jagenden Sitzungen der Ratlosigkeit mitten im Aufruhr.
Jetzt aber werden Baberowskis Beschreibungen anschaulich und vermitteln ein detailliertes Bild davon, was es heisst, eine Revolution zu machen. Die Herrschaft des Zaren ist faktisch zuende, aber wer ergreift nun die Macht, und wie macht man das konkret? Wie übernimmt man die Infrastruktur, wie organisiert man sich?
„Nur Bublikow, Lomonossow, Kosyrew und Rulewski sind unermüdlich, rufen den Angestellten in den angrenzenden Büros Befehle zu, und schicken Soldaten mit Depeschen auf die Strasse.“
Das Verkehrsministerium ist eine wichtige Zentrale der Revolution. Es gilt beispielsweise zu verhindern, dass zarentreue Truppen von der Front die Hauptstadt erreichen könnten. – Geschichtsschreibung, wie sie der Autor betreibt, soll anschaulich sein, aber zugleich die kritische Distanz wahren, keine einfache Gratwanderung. Hier wird die Grenze ins Roman- oder Legendenhafte überschritten… Die Helden sind unermüdlich, während die einfachen Wasserträger der Revolution schlafen vor Erschöpfung auf dem Fussboden ein.
„Nabokov, der im Auftrag der Provisorischen Regierung die Verzichtserklärung des Grossfürsten formuliert, sieht klarer als andere, was die zweifache Abdankung bedeutet. Sie löst eine fundamentale Staatskrise aus.“
Der liberale Jurist Nabokov, der Vater des Schriftstellers, in vertrakter Lage:
– Zar Nikolai II hätte erstens nicht abdanken dürfen, weil das Zarenthronfolgegesetz das nicht vorsieht
– Und schon gar nicht hätte der Zar seinen Bruder zu seinem Nachfolger bestimmen können, wie der Zar das aus einer emotionalen Regung heraus gemacht hatte. Wenn sein Sohn Zar geworden wäre, hätte sich sein Vater von ihm trennen müssen.
– Und jetzt verzichtet der Bruder des Zaren unter dem Druck des Arbeiter- und Soldatenrats auf den Thron, überträgt aber die Fülle der Macht auf die Provisorische Regierung der Februar Revolution.
– Aber wie kann jemand auf etwas verzichten, auf das er keinen Anspruch hat, und im Verricht die Macht weiter delegieren an ein Organ, das sonst keine Legitimität hat?
Nabokov orchestriert dieses Kunststück.
„Nabokov, der liberale und elegante Jurist aus altem Adel, empfindet in diesen Stunden eine, wie er sagt, ’nie wiederkehrende seelische Hochstimmung‘. Als ob das Volk seine Ketten abgeworfen habe, als ob etwas ‚Heiliges‘ geschehen sei – das ist der unmittelbare Eindruck, der sich ihm aufdrängt, obgleich er, der stilsichere Kosmopolit, für eine Revolution eigentlich nicht gemacht ist.“
Nach dem Sturz des Zaren.
„Am 23. März verkündet Miljukow auf einer Pressekonferenz, dass auch die revolutionäre Regierung an den Kriegszielen des alten Regimes festhalten und im Falle eines Sieges Russland sich die Kontrolle über die Dardanellen sichern müsse.“
Der Aussenminister der Provisorischen Regierung, durchaus mit imperialistischen Ambitionen, die aber in den Revolutionswirren keinen Anklang finden.
„Kerenski überlässt nichts dem Zufall, er inszeniert seine Auftritte en détail, und am Ende fällt er stets in Ohnmacht.“
Der Kriegsminister der Provisorischen Regierung, eine Figur wie aus einem Roman. Grosser Rhetor, der sich in einen Furor steigert, mit dem er sein Publikum mitzureissen vermag, und der stets in einer theatralisch inszenierten Ohnmacht mündet. Aber es ist mehr Show als Strategie, und die Wirkung seiner Reden verpufft allmählich.