Die Scholems
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Besprechung
Moritz T.
Ursprünge
Im letzten Abschnitt des 2. Kapitels beschreibt Geller, was sich in nur innerhalb von 100 Jahren verändert hat. Von der Agrargesellschaft zur Konsumgesellschaft. Dank Industrialisierung, und dem Aufstieg des Dienstleistungssektors.
Die Veränderung im Leben der jüdischen Bevölkerung wird hier natürlich speziell herausgehoben, weil es um die Scholems geht. Aber ich bin überzeugt, dass die selbe Geschichte auch auf andere Gruppen anwendbar ist, z.B. auf Bauern, deren Söhne sich von der Agrargesellschaft verabschiedeten.
Um die preussische Staatsbürgerschaft zu erlangen, mussten Juden einen festen Nachnamen annehmen.
Das war nicht nur in Preussen so – auch anderswo war das Anfang des 19. Jahrhundert der Fall, auch wegen besserer Mobilität für benötigte Reisepapiere. Wie es zu den Namensgebungen kam, darüber gibt es viele Geschichten und Theorien.
Scholems Sohn Marcus, der zwischen 1789 und 1800 geboren worden war…
Ein weitere 1796 geborener Sohn namens Matthias…
und ein dritter Sohn namens Lazarus…
Auffallend ist, dass die Vornamen alle überhaupt nicht jüdisch sind, im Gegenteil. Marcus und Matthias, resp. Matthäus sind doch Apostel, Lazarus wurde von Jesus von den Toten erweckt. Das also schon 100 Jahre vor den vier Brüdern, Reinhold, Erich, Werner und Gerhard, die zwar nicht christlich anmuten, aber ganz klar deutsch.
„(…) wo ihr gemeinsamer jüngerer Bruder lebte.“
Übersetzungsproblem? Marcus, Urgossvater von Gerhard Scholem, heiratet Esther Holländer in Berlin; beide haben wohl einen jüngeren Bruder in Breslau, aber doch keinen „gemeinsamen“ jüngeren Bruder dort (noch sonstwo).
Es war durchaus üblich, dass jüdische Ehepaare in ihrem Familienbetrieb Seite an Seite arbeiteten:
Geller hebt das hier hervor. Gerade bei Gastwirtschaften war das aber überhaupt üblich – auch bei nichtjüdischen.
In anderen Wirtschaftszweigen – im vorhin erwähnten Handel war es aber zu dieser Zeit, Anfang 19 Jh. wirklich eine jüdische Eigenheit.
Siegfrieds erster Arbeitgeber war der Verlag Julius Sittenfeld, der sich mit medizinischer Fachliteratur… einen Namen machte.
Noch nie gehört von Sittenfeld – und finde auch nichts Wissenswertes im Netz…
„1886-1887 besuchten 22 Prozent der jüdischen Jungen in Preussen höhere Schulen, während dies auf weniger als fünf Prozent der nichtjüdischen Jungen zutraf.“
Versuch der von aussen kommenden jüdischen Familien rasch den Anschluss an das deutsche Bürgertum zu finden; Bildung, beruflicher Aufstieg als Ambition der jüdischen Minderheit.
Es kam auch vor, das ältere Söhne die akademischen und beruflichen Ziele des jüngsten Bruders unterstützen…
Parallele: Samuel Karger hat Max bei seinem Medizinstudium ermöglicht.
…vor allem unterstützen jüdische Mäzene die Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“, die ab 1946 als „Max-Planck-Gesellschaft“ fortgeführt wurde…
Ich wusste nicht, dass die Max-Planck-Gesellschaft diesen Ursprung hat!
„Theodor Fontane, der Chronist der Berliner Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert, der selber Antisemit war, schrieb, dass ‚alle unsere Freiheit und feinere Kultur, wenigstens hier in Berlin, vorwiegend durch die reiche Judenschaft vermittelt wird.‘ „
Die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der hier Fontane als Antisemit bezeichnet wird, lässt einem doch kurz stocken. Ist der Fall so eindeutig? Das Zitat oben wäre ja nicht grad ein eindeutiger Beleg. Reich-Ranicki hatte sich zu der Frage differenziert geäussert: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/marcel-reich-ranicki-in-der-frankfurter-anthologie-an-meinem-fuenfundsiebzigsten-12752884.html
Interessant aber in jedem Fall diese Feststellung Fontanes, die den Juden eine wichtige Rolle im Kulturleben Berlins Ende des 19. Jahrhunderts einräumt; diese Stellung hatten sie sich innert weniger Generationen erarbeitet.
„(…) das heutige Zentrum von B’nai B’rith befindet sich seither in den USA.“
Leichte Unschärfen in der Übersetzung
Aber auch Arthur Scholem war ein kaufmännischer Pionier:
Schallplattenetiketten nette Idee – und dank Geschwindigkeit (Donnerstag rein, Sonntag raus) auch erfolgreich.
Vorgedruckte Formulare führten zum „Formular-Veralg“, das Potential, das die wachsende Bürokratisierung bot (siehe weiter unten auf der Seite). Auf diese Weise wurden die Scholems… zu Vertretern der Standardisierung.
Hat die deutsche Gründlichkeit hier ihren Anfang genommen? Schon verrückt, wenn man auch an die Bürokratie der Nazis denkt.
„‚Berliner Kindheit um 1900′“
Mit dem Kapiteltitel werden hohe Erwartungen geweckt, die dann enttäuscht werden; gern hätte man, bevor mit dem ersten Weltkrieg „alles zerfällt“, mehr über den Alltag der Familie Scholem erfahren. Danach gab es ja nur noch den Ausnahmezustand. Wie lebten die Scholems im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts? Immerhin, man erfährt von der Theaterleidenschaft (sehr hübsch die Fotografie auf Seite 63 mit den vier verkleideten Scholemsöhnen), und von einem Sinn für „sorgfältig geplanten Frohsinn“, der sich in ausladenden Familienfeiern zeigte.
5. Kapitel „Die goldenen Zwanziger und danach“
Farbige Schilderung der Familiegeschichte, eingebettet in die Geschichte der Weimarer Republik und der Entwicklung der jüdischen Milieus und der jüdischen Organisationen in den 20er Jahren. In diesem Kapitel stehen die prominenten Familienmitglieder Werner und Gershom etwas weniger im Vordergrund, kommt dem Buch zugute, ebenso dass etwas weniger als zuvor mit trockenen Statistiken argumentiert wird. Viele Details schaffen ein Gefühl für die Atmosphäre jener Zeit.
„Das Klischee, dass die deutschen Juden dieser Zeit sich ihres Judentums entledigen und sich so rasch wie möglich assimilieren wollten, trifft also in weiten Teilen nicht zu. Es mag sein, dass sie die koscheren Speisevorschriften nicht einhielten und selten den Fuss in eine Synagoge setzten, aber sie suchten ihre jüdische Identität verschieden und neu auszudrücken.“
Vielfältige Aktivitäten deutscher Juden in Verbänden und Gruppierungen in den 1920er Jahren.
„In ihrem Briefwechsel mit Gershom und vermutlich auch in ihren alltäglichen Äusserungen verwendete Betty den Begriff ‚Gojim naches‘, das deutsche Juden normalerweise mit ‚G.N.‘ abkürzten. Der Ausdruck bedeutet wörtlich gojische Vergnügungen und bezeichnet etwas, das Nichtjuden als unterhaltsam empfinden und Juden kalt lässt. Diese Einstellung hatte sich aus der Erfahrung vieler Generationen gebildet und entsprach einem defensiven Snobismus (…).“
Betty Scholem tut sich schwer mit ihrer nicht-jüdischen Schwiegertochter Emmy, Werners Frau. Die jüdische Identität impliziert eine Abgrenzung von Nicht-Juden. „Gemischte Ehen blieben umstritten, sogar bei Juden wie den Scholems, die sich selbst als Bestandteil der deutschen Gesellschaft sahen.“ (p. 177). Assimilation bei gleichzeitiger Wahrung oder auch (nicht religiöser) Entwicklung der eigenen Identität. Gut beschriebene Ambivalenz auf diesen Seiten, vor dem Hintergrund eines nicht nur latenten Antisemitismus‘.
„Obgleich Max der Druckerei Siegfried Scholem einen ihrer besten Kunden abgeluchst hatte, blühte seine Firma nicht auf.“
Die Brüder Theobald und Max (Brüder Arthurs, Vater von Gershom) hatten schon länger im Streit gelegen, was der gemeinsamen Führung der Druckerei nicht förderlich war. Der Streit eskalierte, Theobald entzog Max die Prokura; Max gründete seine eigene Druckerei, und warb den Neffen Reinhold und Erich und ihrer separaren Druckerei einen guten Kunden ab, den (jüdischen) Verlag Ullstein. – Ziemliche Intrige… Max begeht dann Selbstmord, mit dem er schon zuvor gedroht hatte.
„… schrieb Werner mit enormen und vermutlich ungewolltem Scharfblick: ‚Der Zerfall der jüdischen Bourgeoisie schreitet fort (…) Der Abstieg der Familie vollzieht sich sehr rasch.'“
„ungewolltem Scharfblick“ – Übersetzungsproblem? Unwittingly, oder unwillingly?
Zusammenlegung der Druckereien Arthur und Sigefried Scholem 1932, aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschärfen sich.
„Letztlich war er weder in landläufiger Weise religiös noch war er säkular.“
Gershom Scholem in Jerusalem, kein regelmässiger Besucher der Synagoge, aber Anhänger von jüdischen Traditionen. Gern würde man diese Haltung noch etwas besser erläutert haben…
7. Kapitel, Der Mahlstrom. Jüdisches Leben in Nazideutschland
Anhand von Einzelschicksalen wird eindrücklich geschildert, wie die Nazis in kleinen, aber wirkungsvollen Schritten bis hin zur offenen physischen Verfolgung den Juden in Deutschland das Leben zunehmend verunmöglichten. Die nüchterne, fast buchhalterische Aufzählung der Nazi-Massnahmen und ihre Auswirkungen führen einen wieder die ungeheure sadistische Energie vor Augen, die hier am Werk war, und die nach und nach eine neue Wirklichkeit schuf, die für viele Juden selbst lange unfassbar gewesen sein muss.
„Tel Aviv vergrösserte sich rasant: 1919 hatte es 2000, Ende der zwanziger Jahre 40 000 und Ende der dreissiger Jahre 160 000 Einwohner.“
Vor hundert Jahren Tel Aviv ein Dorf. Heute schwer vorstellbar, auch weil die Stadt organisch gewachsen zu sein scheint.
„‚Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?'“
„Scherz“ in Palästina in den 1930er Jahren, aber mit schrecklichem Hintergrund. Auch Gershom Scholem, der aus Überzeugung und aus Deutschland gekommen war, stand deutschen Migranten skeptisch gegenüber.