Elizabeth Finch
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Besprechung
Moritz T.
„Natürlich litt sie unter Migräneanfällen.“
Puzzleteil zum Portrait von Elizabeth Finch, zusammengesetzt vom Ich-Erzähler.
„Diese Fantasien waren sicher fehlgeleitet, aber Elizabeth Finch hatte tatsächlich etwas Feuriges an sich. Wenn nicht greifbar und präsent, so doch sicher potenziell.“
EF beschäftigt die Studenten, auch wenn die Faszination offenbar schwer zu fassen ist, wie die tastenden, etwas ungelenken Sätze verraten.
Epiktet – Zitat
Zentrale Stelle für EFs Geisteshaltung, gemäss Neil: es gibt Dinge, die ich beeinflussen kann, wo ich meinen Willen walten lassen kann; und dann gibt es Bereiche, die nicht in meiner Macht stehen. Es ist essentiell, das eine von dem anderen zu unterscheiden, und Handlungen und Erwartungshaltung danach auszurichten. Dann gelingt es die Fassung zu bewahren und Schaden abzuwenden.
EFs Denken scheint ganz in Prinzipien verankert, was Neil dazu veranlasst, sie als den „erwachsensten Menschen“ zu bezeichnen, den er je gekannt hat (p. 33).
„‚Die Unterstellung, dass die Religion, in die man hineingeboren wurde oder die man aus eigenem Entschluss angenommen hat, gerade die eine wahre Religionsgemeinschaft unter Hunderten von heidnischen Glaubensformen und Apostasien auf der Welt ist.'“
EF verhandelt hier ein Renan-Zitat „Es gehört zum Wesen einer Nation, dass sie ihre Geschichte missversteht.“
Der Satz leuchtet ein; statt „missversteht“ vielleicht auch „auf ihre eigene Weise interpretiert / verfälscht“.
EF weitet nun die Diskussion auf das Selbstverständnis aus, mit der wir von unserer Religion als der „wahren“ ausgehen. Natürlich tun wir das implizit, aber kaum je explizit. Man wird, oder vielleicht besser: wurde in eine Religion hineingeboren, wie man in eine Muttersprache hineingeboren wird.
Zugegeben, von aussen betrachtet ist die Frage faszinierend. Aber ein frommer Muslim oder Christ nimmt eben diese „Aussen“-Position kaum je ein.
Interessanterweise weitet EF das Argument auch aus auf diejenigen, die „aus eigenem Entschluss“ einer Religionsgemeinschaft beitreteten.
„(…) weil wir in gewisser Weise spürten, dass sie der Welt nicht gewachsen war und dass ihre hochgeistige Art sie womöglich verletztlich machte.“
Zuvor eine Bemerkung, dass EF quasi über den Zeiten stand. Hier ein anderer Aspekt des Abseitsseins.
„Ich persönlich habe zwei Scheidungen hinter mir und drei Kinder von verschiedenen Frauen.“
Neil gibt wenig von sich preis. Dieser Satz kommt nicht ganz unvermittelt, er hatte das schon angedeutet, aber er wirkt ein wenig wie eine Behauptung. – Etwas später schreibt er, er lebe jetzt allein. „Wahrscheinlich haben Sie das schon gedacht.“ (p. 85). Erwischt! Und: „(…) dies ist (…) nicht meine Geschichte.“
Schon. Aber man macht sich Gedanken zum Erzähler. Seine drei Kinder beispielsweise bleiben Schatten, oder eben: Behauptungen.
Teil Zwei
Der Ich-Erzähler Neil findet im Nachlass von EF, den er auswerten soll, Hinweise auf den letzten nicht-christlichen römischen Kaiser Julian, der das Christentum auf ganz eigene, milde Art bekämpfte.
Neil recherchiert zu Julian und fördert zutage, wer sich über die Jahrhunderte alles mit Julian beschäftigt hat, bis hin zu Adolf Hitler, der in Julian einen frühen Genossen im Kampf gegen das Christentum erkannte. Neil verbittet sich diese Aneignung; Hitler habe Julian jedenfalls nicht verstanden. Prominenter, und Neil offenbar eher genehmer Fürsprecher Julians ist auch Voltaire.
Das liest sich einigermassen flott, wobei Neil selbst kleine Ermüdungserscheinungen erkennen lässt im Forschungseifer, wenn er dann noch einem vergessenen Drama nachsteigen soll, in dem Julian eine Rolle spielte.
Der Leser fragt sich vorerst etwas ratlos: was genau ist die Funktion dieser immerhin 60 Seiten (ein Viertel des Gesamtumfangs) im Buchganzen?
„Was passiert (in den Köpfen von Männern und Frauen), wenn ein Gott nicht mehr angebetet wird? Existiert er dann nicht mehr? Oder kreist er weiter um die Erde wie ein Stück Weltraumschrott und funkt hoffnungsvoll auf einer toten Frequenz?“
Warum die Klammer – geht es nicht gerade darum, dass der Gott aus den Köpfen verschwunden ist? – Vergleiche Sloterdijks Metapher für obsolete Glaubenspartikel: Plastikabfall, der sich auf den Weltmeeren sammelt.
„Also war Julian, der Philosophenherrscher und das Muster der Toleranz, mit seinem letzten heldenhaften (oder fehlgeleiteten) Versuch, den Vormarsch des Christentums aufzuhalten, keineswegs eine kurze historische Verirrung, sondern kann jetzt als glanzvoller Vorläufer der Aufklärung präsentiert werden.“
Schon Voltaire war offenbar ein Bewunderer Julians. Versuch an einen Traditionsstrang anzuknüpfen.