
Empusion
Fügen Sie Ihre Bewertungen hinzu
Besprechung
Moritz T.
Anmerkungen zu einzelnen Stellen
„Helle Punkte einer nicht näher zu bestimmenden Verschmutzung sind zu erkennen – Spelzen der Welt.“
Das Jackett des Ankömmlings weist Spuren auf, Spuren des Lebens, der Welt. Der Reisende ist gezeichnet.
„Als sässe er in einem Schützengraben.“
Wojnicz im Untersuchungszimmer von Dr. Semperweiss. Er befürchtet, dass die Anweisung zum Ausziehen erfolgen wird. Aber er kann sich an den Schreibtisch setzen, und fühlt sich zunächst sicher.
Kapitel 2 «Die Schwärmerei»
Wojnicz ist nach der Untersuchung bei Dr. Semperweiss guten Mutes und voller Energie. Als er aber ins «Gästehaus für Herren» zurückkehrt, entdeckt er die Leiche der Gattin seines Gastgebers Opitz. Er erfährt, dass sie sich erhängt hat. Die Unterhaltung der reinen Männerrunde beim Abendessen nimmt den Suizid zum Ausgangspunkt für grotesk-misogyne Dialoge. Die Frau, das fremde, irrationale Wesen. Nur einmal wird insistiert und nach den Gründen im konkreten Fall gefragt. Der frisch verwitwete Opitz gibt sich ratlos, vielleicht habe sie sich nach ihrer Familie gesehnt, sie stamme aus Böhmen.
„Er sah nur noch die schwarz glänzenden Röcke in der Sonne flattern.“
Zwei ältere Frauen hatte Wojnicz beim Bohnen-Rüsten offensichtlich aufgeschreckt, dabei wollte er ihnen nur eine zu Boden gefallene Bohne reichen. Die Frauen verschwinden aber. Sie erscheinen in dieser Welt als flüchtige Wesen.
„‚Was die Frauen wollen – wir werden es nie erfahren.'“
Die Männerrunde verarbeitet, könnte man sagen, den Suizid der Gattin des Hausherren, und flüchtet sich ins Allgemeine.
„Scheinbar nahm er teil an dem, was von ihm verlangt wurde, und wusste sich zugleich zu entziehen.“
Wojnicz hat gelernt, Teilnahme zu simulieren, wenn das von ihm verlangt wird.
„Görbersdorf hatte also noch nie eine Beerdigung gesehen. Ein solcher Anblick könnte die Moral der Kursoldaten untergraben, die um die Gesundheit ihrer Lungen kämpften.“
Es wird viel gestorben im Luftkurort, naturgemäss. Aber den Tod hat man gleichsam aus dem Dorf verbannt.
Kapitel 5 „Löcher in der Erde“
Der Ausflug der von Opitz angeführten Wandergruppe führt zu einer Gruppe etwas verwahrloster Köhler. Opitz erklärt deren Handwerk. Als sie weitergehen, beobachtet Wojnicz wie Opitz einen Köhler heimlich auf den schwer atmenden Thilo hinweist. Er macht sich dazu keine weiteren Gedanken. Ein Hinweis, dass das stattdessen vielleicht der Leser tun sollte? Das kurzatmige, teilweise erregt geführte Gespräch wendet sich immer wieder dem Lieblingsgegenstand der Männer zu – den Frauen. Wieder werden allerlei misogyne Ansichten feilgeboten, eine erhitzte Diskussion gilt der Mona Lisa und der modernen Kunst. Von der Hexenverfolgung ist die Rede, und dass zahlreiche Frauen damals Zuflucht in die Wälder der Gegend genommen haben, und viele gar nie zurückgekehrt seien. Zielpunkt der Wanderung ist ein „Hexenmund“ oder auch „Hexenarsch“, ein Loch im Waldboden, durch den Luft und Geräusche entweichen. Mutig steckt Wojnicz seine Hand ins dunkle, feuchte Loch. Dick aufgetragene Symbolik.
„Manchmal gestattete er Tolek, in seiner hölzernen Federschatulle zu stöbern, und dann nahm der Freund behutsam Bleistift um Bleistift zwischen seine langen Finger, berührte mit den Fingerkuppen die gespitzten graphitenen Minen, und Mieczys überlief ein wohliger Schauer (…)“
Wojnicz erinnert sich an einen Jugendfreund. Bleistift als (homo-) erotisches Symbol aus dem „Zauberberg“ entlehnt.
„Bei jeder Gelegenheit wiederholte Opitz, dass er eigentlich Schweizer sei.“
Ein Schweizer Hotelier, wie er im Buche steht.
„Wir sehen sie, wie immer von unten. (…) Nachdem die Füsse sich weiterbewegt haben, erzittert noch eine Weile das Pilzgespinst in der weichen Humusschicht des Waldes, das weitverzweigte, urmütterliche Geflecht, durch das jetzt die Botschaften fliessen – wo die Eindringlinge sich befinden, in welche Schritte sie ihre Schritte lenken.“
Die Rede ist von den Hirten im Gebirge. Wer ist es, die da spricht? – Deutlich wird noch einmal der Gegensatz männliche Eindringlinge und weibliche Landschaft. Die ausschliesslich männliche Wandergruppe, die die Natur ausbeutenden Köhler.
„Ja, Wojnicz war bereits aufgefallen, dass jede Debatte (…) unweigerlich bei den Frauen endete.“
Uns allerdings auch.
„Ein Mann zu sein heisst, zu lernen, alles zu ignorieren, was Probleme bereitet.“
Der kleine Miesczys zwingt sich unter dem kritischen Blick von Vater und Onkel, von der widerwärtigen Entenblut-Suppe zu essen, einer polnischen Spezialität.
„Das arme Tier war Opfer seiner inneren sexuellen Mächte, die das Leben selbst überragten – der grenzenlose Trieb, aus sich selbst hinauszutreten, die Gattung zu vermehren, und sei es auf Kosten des eigenen Lebens.“
Ein röhrender Hirsch verstört Wojnicz.
„und ohne Unterlass würden sie alle beobachtet von der Landschaft.“
Thilo, der an einer Dissertation über die Bedeutung der Landschaft in der Kunst arbeitet, teilt seine Faszination für die Landschaft mit Wojnicz, und weiht ihn anhand eines Gemäldes des flämischen Meisters Herri met de Bles in die Kunst des „transparenten Schauens“ ein, das sich nicht von Details ablenken lässt, sondern zu den „Fundamenten einer Ansicht“ vorstösst. – Die Landschaft ihrerseits aber schaut zurück.
Kapitel „Herr Hüpf“
Wir erfahren mehr von Wojnicz, der offensichtlich an Selbstbewusstsein zugelegt hat. Er gibt dem betont rationalistisch-wissenschaftlich argumentierenden Dr. Semperweiss ein überraschendes Widerwort: «Aber damit erliegen Sie ebenfalls Vorurteilen.» – Nach einem Rückblick in seine Kindheit und seine Karriere als Patient verstehen wir jetzt auch genauer seine Weigerung sich auszuziehen.
Titelgebend für dieses Kapitel ist eine von Wojnicz als Kind erfundene Figur, die ihn auf Zugreisen begleitet: Herr Hüpf durfte entlang der Zuglinie niemals zu Boden fallen, stets musste er von einer höher gelegenen Stelle (einem Kamin) zur nächsten (einem Baum) hüpfen. Das Ziel war es, so die ganze Reise zu bestreiten, dann würde Wojnicz (bei der nächsten ärztlichen Untersuchung) nicht unter Scham und Schuld leiden. «Doch es gelang ihm nie.» Es sind diese schön eingeflochtenen Nebenstränge, die «Empusion» Kolorit und Lebendigkeit verleihen.
„Wojnicz hatte das Gefühl, als drängten ganze Nebenarme an Zeit mit allen möglichen Säumen oder Taschen in seine Wirklichkeit eines Sanatoriumspatienten.“
Der Opitzsche Likör „Schwärmerei“ mit schweren Nebenwirkungen. Das Dachgeschoss des Gästehaus für Herren ein Rätsel, mit einem Moosboden, auf dem Butterpilze wuchsen, ein Raum, der Wojnicz in eine animalische Verzückung versetzte. Ist wirklich der Likör daran schuld? Jedenfalls will Wojnicz den Konsum beenden. – Bruno Schulz im Hintergrund, mit „den Nebenarmen der Zeit“. Vielleicht auch schon in Kapitel 8, der Hustensymphonie? Bei Schulz allerdings eine Schnarchsymphonie.
„Thilos Fieberkurve und die Linie der Berge waren einander sehr ähnlich. Um nicht zu sagen, sie verliefen gleich.“
Brillanter Einfall der Autorin. – Thilo fühlt sich von dieser Landschaft bedroht, umzingelt. Er meint, dass sie „uns langsam tötet, in Stücke reisst.“ Oder kurz: „Diese Landschaft ist eine Mörderin.“ (p. 327)
„‚Die Menschen haben ihre Fiktionen und glauben an das, was sie miteinander vereinbart haben. (…) Ich möchte Ihnen zuraten, sich Ihre eigene Fiktion zu schaffen, zum Beispiel die, dass Sie vollkommen sind, so wie Sie sind.'“
Der zunächst eher unsympathische Dr. Semperweiss mit einer Botschaft an Wojnicz, nachdem er endlich das Geheimnis der Zweigeschlechtlichkeit seines Patienten entdeckt hat. Zugleich vermutlich auch eine Botschaft der Autorin.
„Er griff nach den Schnürstiefeln, die im untersten Fach standen. Sie passten.“
Bei Aschenputtel wird ein passender Fuss für einen Schuh gesucht, hier läuft es umgekehrt: Nach dem Verlust eines Schuhes findet Wojnicz das für seine Füsse passende Paar. Aber der Match ist auch in „Empusion“ ein Zeichen dafür, dass die Geschichte ins Lot kommt und sich dem Ende nähert. – Schon die Auftaktszene am Bahnhof Dittersbach hatte die Schuhe in den Fokus gerückt.