Entangled Life
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Besprechung
Moritz T.
Prolog
Unser Blick geht nach oben, wie hier der Blick des Autors im Dschungel, den Baum und die Blätter in den Blick nehmend, das Geschrei der Affen im Ohr. Unter unseren Füssen ist der Boden, das Selbstverständliche, auf dem wir stehen. Jetzt aber wendet der Autor den Blick nach unten, zum Grund und Untergrund, hübscher Auftakt für die Entdeckungsreise.
„Today over 90 per cent of plants depend on mycorrhizal fungi (…)“
Verbindung von Pflanzen und Pilzen in einen Netzwerk. Worin genau die Abhängigkeit besteht, wird an dieser Stelle nicht erläutert.
„To this day, new ecosystems on land are founded by fungi.“
Pilze als Pioniere, mit Bakterien, Beispiele: Vulkaninseln, oder die Besiedlung nach einem Gletscherrückzug.
„(…) implying knowledge of its antibiotic properties.“
Nachweis zur Verwendung von Pilzen zu medizinischen Zwecken bereits bei den Neandertalern, vor 50’000 Jahren.
LSD – Experiment
Phantasie, Imagination, Spekulation (zur Not auch mit Drogenunterstützung) als wissenschaftliche Hilfsmittel.
„Whether in the homing response of hyphae within a mycelial network, the sexual attraction between two hyphae in separate mycelial networks, the vital fascination between a mycorrhizal hypha and a plant root, or the fatal attraction of a nemoatode to a fungal toxic droplet, fungy actively sense and interpret their worlds, even if we have no way of knowing what it is like for a hypha to sense or interpret.“
Wie können wir ausdrücken, wie sich Pilze verhalten, was sie antreibt? Wir wissen, dass sie auf vielfältige Weise mit ihrer Umwelt interagieren – die Vielfalt ist bei den Trüffeln so gross, dass es den Menschen bis heute kaum gelingt, die Bedingungen für das Gedeihen in einer Zuchtumgebung zu reproduzieren. Vielleicht etwas fragwürdig, von „Interpretation“ zu reden, aber das zeigt die Schwierigkeit, uns in ein fremdartiges Wesen ohne zentrale Hirnfunktion hineinzuversetzen.
„When faced with a forked path, fungal hyphae don’t have to choose one or the other. They can branch and take both routes.“
Kein „entweder – oder“ für den Pilz, sondern bei Bedarf ein „sowohl als auch“.
„Objects within a few millimetres cause the fruiting body of Phycomyces to bend away withoout ever making contact.“
Wie die Pilze ein Objekt wahrnehmen ohne in direkten Kontakt zu treten bleibt rätselhaft. Pilze können sich in alle Richtungen gleichzeitig ausdehnen, und Informationen über Wahrnehmungen an einem Ort werden im Pilznetzwerk weitergegeben.
„Hyphal tips may be the places where data streams come together to determine the speed and direction of growth, but how do tips in one part of the network ‚know‘ what tips are doing in other, more distant parts of the network?“
Kein zentrales Gehirn organisiert das Pilzleben, aber Informationen fliessen in diesem Organismus hin und her, und zwar in beträchtlicher Geschwindigkeit. Wie? Experimente legen nahe, dass Pilze elektrische Impulse im Netzwerk generieren können (p. 69). Naheliegende Analogie zu Gehirnen.
„Fungi could report changes in soil quality, water purity, pollution or any other features of the environment that they are sensitive to.“
Eine Art Biocomputer – zurzeit noch utopisch, aber vielleicht im Bereich des Möglichen, wenn wir besser verstehen, wie grosse Pilznetzwerke Informationen verarbeiten.
„‚There are just so many things.'“
Die Forscherin Lynne Boddy auf die Frage, welche Aspekte des Pilzlebens wir nicht verstehen – viele…
„Together, these taxonomically remote organisms build composite life forms capable of entirely new possibilities.“
Nicht nur Verzweigung ist eine Methode der Evolution, sondern auch Zusammenschluss – Beispiel der Flechten, die aus Pilzen und Algen bestehen.
„Lichens‘ identities splintered into even smaller shards.“
Entdeckung erst 2016, dass Flechten nicht nur die Symbiose eines Pilzes mit einer Alge sein können – mehrere Partner können als Flechte koexistieren.
„In physiological, behavioural and evolutionary terms, the ant becomes fungus.“
Ophiocordyceps steuern Ameisen mit pharmakologischen Mitteln, der Pilz nutzt die Ameise zur Fortpflanzung, zerstört die Ameise in dem Prozess. – Kapitel über pharmakologische Wirkung von Pilzen, bis hin zur (als solche gekennzeichnete) Spekulation eines Enthusiasten, dass das Konsumieren von psychoaktiven Pilzen am Anfang menschlicher Kultur und Religion gestanden habe (p. 113).
„The scans revealed that psilocybin didn’t increase the activity of the brain as one might expect, given its dramatic effects on people’s minds and cognition. Rather, it reduced the activity of certain key areas.“
Das Gehirn geht durch die psychoaktive Pilz-Chemikalie in einen anderen Modus über. Im neuronalen Netzwerk werden die dominanten Pfade (die zur Alltagsbewältigung dienen) weniger wichtig, neue Verbindungen entstehen, mit überraschenden, manchmal überwältigenden Einsichten und Gefühlen („mystical experiences“).
Die Abbildungen im (leider unpaginierten) Mittelteil zeigen aber schon eine deutliche Zunahme der Hirnaktivitäten („interconnections“) unter Psilocybin-Einfluss.
„Patients‘ psychedelic experiences themselves appear to be the cure.“
Wirkung über den Umweg des Erlebnisses (sonst wirken Medikamente ohne „conscious mind“ (wobei hier „conscious“ noch zu definieren wäre).
„It seems probable that the evolutionary value of psilocybin lay in its ability to influence animal behaviour.“
So wie die Pilze mit psychoaktiven Substanzen heute die Menschen beeinflussen, die aber natürlich erst spät in der Geschichte der Evolution aufgetreten sind (Zucht der Pilze, beispielsweise). Warum entwickelten Pilze überhaupt psychoaktive Substanzen? Psilocybin-Gene wurden auch via Horizontalem Gen-Transfer weitergegeben – Indiz für den evolutionären Nutzen.
Von Sheldrake selbst als etwas müssig bezeichnete Diskussion, ob das Psilocybin-induzierte Menschenverhalten zum Phänotyp der Pilze gehört (sowie ein Damm zum Phänotyp des Bibers, nach Dawkins), p. 133/4.
„Plants‘ actions are informed by what is happening in the sensory world of their fungal partners. Similarly, fungal behaviours are informed by what is happening in the sensory world of their plant partners.“
Die Partnerschaft zwischen Pflanzen und Pilzen ist uralt, und eher die Regel als die Ausnahme. Mehr als 90% aller Pflanzenarten kooperieren mit Pilzen, die Symbiose wird Mykorrhiza genannt (p. 138). Mykorrhiza – Wikipedia
Pilze sind überall.
Die Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle bei der CO2-Regulierung (p. 145).
„By doing so, the fungus was able to transfer a greater proportion of its phosphorus to the plant at the more favourable ‚exchange rate‘, thus receiving larger quantities of carbon in return.“
Experiment: Die Forscher platzieren am Ort A) eines Pilznetzwerkes einen grossen Vorrat an Phosphor, am Ort B) einen kleinen. Am Ort B) liefert die Pflanze eine grössere Menge von Kohlenstoff an den Pilz im Austausch für Phosphor als am Ort A).
Gesetz von Angebot und Nachfrage. Natürlich bleiben viele Fragen: „Weiss“ die Pflanze um den Phosphor-Vorrat, oder kann der Pilz eine Verknappung vorspielen? Transportiert der Pilz immer Phosphor in seinem Netzwerk, oder eben nur bei einem Ungleichgewicht?
Der Pilz erscheint hier als scharf rechnender Kaufmann; vermutlich hat er auch die Transportkosten in seinem System mit kalkuliert…
„Involution“ statt „evolution“
Die Fähigkeit sich zu entwickeln, sich zu verändern, ist wesentlich eine Fähigkeit, sich (mit anderen Species) zu involvieren, exemplarisch vorgeführt von Fungi, und von homo sapiens (Heranzüchten von Mais, oder Pferden).
Parallele von Medizin und Landwirtschaft im 20. Jahrhundert.
Medizin: Mikroben als gefährliche Keime, die es zu beseitigen gilt; Landwirtschaft: Einsatz von Pestiziden zur Beseitigung von Schädlingen.
„However, fungal networks form physical connections between plants.“
Pilznetzwerke kollaborieren mit verschiedenen Pflanzen, und verbinden sie – Kohlenstoff kann von einer Pflanze zu einer anderen transportiert werden, durch die Pilze. Wenn wir durch einen Wald gehen, bewegen wir uns durch ein riesiges Geflecht, nicht nur metaphorisch, es gibt physische Verbindungen zwischen den Pflanzen, und den Pilzen. Würde auch bedeuten, dass eine lokale Kontamination sich weitherum auswirkt, anderseits die Konzentration von Giftstoffen am Ort der Kontamination abgemildert wird.
Bedeutung der Netzwerke in der Forschung noch umstritten, s. p. 172. Sheldrake allerdings überzeugt von der (ökologischen) Wichtigkeit.
„Why might it benefit a fungus to pass a warning between the multiple plants that it lives with?“
Pflanzen tauschen sich aus, über sogenannte infochemicals, die bespielsweise bei der Attacke durch einen Schädling ausgeschüttet werden und durch die Luft transportiert werden, aber offenbar auch via Pilznetzwerke im Boden.
Viele ungeklärte Fragen: senden Pflanzen Botschaften, oder ist das eine Stressreaktion ohne Adressat? Warum würden Pflanzen in ersten Fall andere Pflanzen warnen? Wo liegt der (evolutionäre) Vorteil bei diesem Verhalten? Und erst recht: warum sollen Pilze den Botschafter spielen?
Netzwerk-Karte eines Waldes
Es gibt erst wenige Versuche, Karten eines Wood Wide Webs zu zeichnen, ein Beispiel findet sich auf der letzten Seite des Bilderteils in der Mitte des Buches. Es gibt (ältere) Bäume, die als wichtige Knotenpunkte im Netzwerk dienen, andere Bäume scheinen weniger stark eingebunden zu sein. Die Regeln und Muster der Netzwerkbildung sind noch weitgehend unbekannt, Frage auch, ob sich Erkenntnisse von einem Waldstück auf einen ganzen Wald, und auf andere Wälder extrapolieren lassen.
Zigarettenstummel als Pilznahrung
Pilze bauen Zigarettenstummel ab, wenn man sie gezielt darauf ansetzt.
„Most are ingenious low tech solutions developed by kitchen-sink magic mushroom growers.“
An den meisten Unis gibt es keine eigenständigen Mykologie-Departments. Und auch die Industrie ist recht zurückhaltend, wenn es beispielsweise um Forschung für den Einsatz von Pilzen zum Abbau von Umweltgiften geht (Mycoremediation – Wikipedia). Sheldrake anfangs eher skeptisch gegen die Grassroots-Philosophie, die der Pilzenthusiast McCoy predigt (p. 207). Aber die Umstände sprechen eher für einen solchen Ansatz. – Die Szenen, die der Autor in diesem Kapitel „Radical Mycology“ beschreibt, könnten als Grundlage für einen Pynchon-Roman dienen: in kleinen Labors wird an Pilzen getüftelt, mitunter im eigenen psychogenen Interesse, zuweilen um die Welt zu retten. Ein Untergrundnetzwerk von Pilzfreaks, eine zweite Realitätsebene bildend, die die erste allmählich überwuchert.
„Termites deploy white rot fungi just as a radical mycologist might enlist Pleurotus to break down crude oil or cigarette butts.“
Die Menschen züchten Pilze erst seit 2000 Jahren, und erst seit kurzem zu anderen denn Konsumzwecken. Termiten kooperieren mit Pilzen, die für sie Holz chemisch verbrennen und damit verdaubar machen.
„Instead of a rigid dichotomy, researchers describe a mutualism-to-parasitism continuum.“
Schwierigkeit der Forschung, die Koexistenz von Pflanzen und Pilzen zu beschreiben. Wir tendieren dazu, eine solche Beziehung fest zu schreiben, beispielsweise als parasitär, die eine Seite zieht Nutzen aus der Verbindung, der anderen Seite schadet sie. Das mag in einem bestimmten Augenblick zutreffen, aber im übernächsten schon nicht mehr. „The narrative possibilities are richer.“ (p. 237)
„Symbiotic interactions reach across species boundaries; studies of symbiotic interactions must reach across disciplinary boundaries.“
Plädoyer für Interdisziplinarität, die quasi der Natur der Natur entspricht…
„The ability to metabolise alcohol, they speculate, played a crucial role in the ability to of primates to make a living on the forest floor by opening up a new dietary niche: overripe, fermented fruit that had fallen from the trees.“
Hefe quasi als Geburtshelfer des aufrechten Ganges… Beispiel für die Überhöhung der Bedeutung von Pilzen in der Menschheitsgeschichte, immerhin als Spekulation dargestellt. In diesem Kapitel „Making Sense of Fungi“ geht es um die lange, vielfältige Koexistenz von Mensch und Pilz, der der Autor ganz am Schluss mit dem Trinken von im Selbstverfahren vergärtem Saft nachspürt, aus Äpfeln, die von einem Baum stammen, der aus einem Baum geklont wurde, der in Newtons Garten stand (p. 247). Erst belegen die Äpfel, indem sie fallen, die Schwerkraft, dann helfen sie – in Zusammenarbeit mit den Hefepilzen, die sie auf der Haut schon mit sich tragen – dem Menschen bei der zeitweisen Überwindung der (Gedanken-) Schwerkraft…