Erinnerungen an ferne Berge
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Besprechung
Moritz T.
„Warum fotografieren Sie immer vorbeifahrende Schiffe? Warum malen Sie immer Landschaften? Die Antwort lautet immer gleich…. ES GEHT JETZT DARUM, DIE LANDSCHAFT WIE EINEN TRAUM ZU SEHEN UND ZU LESEN.“
Der Eintrag beginnt mit einer Traumerzählung. Die Skizze zeigt eine Landschaft mit Meer und Inseln im Regen. – Die Landschaft wie einen Traum sehen: vielleicht als etwas das uns angehört, als etwas das uns aber zugleich auch fremd ist?
„Schreib über die Landschaft!“
Ob das im Türkischen auch so gut funktioniert? Pamuk schreibt ja buchstäblich über die Landschaft, hier wieder das Meer mit fernen Bergen. Im Vordergrund ein Baum, dessen Blätter man versucht ist wie Buchstaben zu lesen, die auf der linken Seite dicht gedrängt davon berichten, dass der Autor sich Gedanken macht zur Veröffentlichung des Skizzenbuchs. „Veröffentliche nichts sehr Persönliches, sagt A.“, steht am Fuss der Seite.
Auskunft über die Entstehung des Skizzenbuchs
Manchmal folgen die Sätze lange nach den Skizzen, manchmal ist es umgekehrt. Der Autor hält programmatisch fest: „An allem Anfang steht die LANDSCHAFT.“ (p. 27)
„Wenn ich hier ins Leben eintauche, es ganz nahe spüre, erinnert mich das an meine Kindheit, an unsere Grossfamilie, an das Glück, das vom Gewimmel einer Gemeinschaft ausgeht, wo man einander freundlich zugetan ist. Anderseits bin ich solcher Gemeinschaft entwöhnt. Bin zu einem einsamen Menschen geworden, der sich nur noch mit einem Leibwächter auf die Strasse wagt…“
Schatten über der Idylle in Cihangir. Pamuk latent bedroht in Erdogans Türkei.
„Dann werde ich ein Schiff sein. Den ganzen Tag über denke ich falsche Sachen. Also bin ich ein Schiff, das falsche Sachen denkt. (…) Ich möchte eine Welle sein. Ja.“
Pamuks unendliche Variationen von Wellen und Schiffen, eine Obsession, ja Identifikation; aber nicht (nur) im Sinn eines Eskapismus, er nimmt die schlechten Gewohnheiten oder Eigenschaften mit in die Verwandlung. Interessanter Gedanke.
„Am liebsten würde ich jahrelang an einem Roman schreiben, ohne irgendjemanden zu sehen. (…) Einen Roman zu schreiben bedeutet – für mich -, die Welt tiefer zu empfinden, als es ein Bild je zeigen könnte.“
Vergleich Malerei / Schriftstellerei, hier etwas schief, beim Roman redet Pamuk von der Produktion, beim Bild (vermutlich) von der Rezeption. Ob im Prozess des Malens nicht eine ähnliche Tiefe der Welt-Empfindung möglich ist wie beim Schreiben?
Skizze
Tausendundeine Art, Wellen darzustellen. Hier geht die waagrechte Meermasse nahtlos in die vertikal aufsteigende Landmasse über. Man kann sich das gut im verhohlenen Licht vor Sonnenaufgang an einem Morgen vorstellen, in dem die Farben sich angleichen.
Skizze
Graue (Januar-) Landschaft, wie fast immer Meer und ferne Berge, ohne Schiff für einmal. Statt Vögel an den Himmel zu zeichnen, schreibt Pamuk über den Horizont verteilt mehrfach das Wort „Vogel“, oder „ein Vogel“. Am Himmel aber auch das Wort „Wörter“. Wort und Bild gehen ineinander über. – Und ziemlich prominent platziert eine Abrechnung für Essen und Taxifahrt (?).
„Der Grossmeister der Autoren, die über Bilder schreiben bzw. TEXT und BILD zusammendenken, ist natürlich William Blake. Ich weiss nicht, ob ich so schreiben wollte wie er, bestimmt aber würde ich gern, so wie er, mein Leben lang Texte und Bilder auf derselben Seite denken und sehen.“
Pamuk nennt dann auf der nächsten Seite noch Raymond Pettibon und Cy Twombly. Nicht genannt wird hier Günter Grass, den Pamuk kennt; vielleicht weil er Wort und Bild eher getrennt hält. Aus dem deutschen Sprachraum kommen einem sonst noch Horst Janssen oder Robert Gernhardt in den Sinn. – Auch wenn die Ästhetik eine ganz andere ist: Pamuk hebt die Verbundenheit mit der traditionellen chinesischen Malerei immer wieder hervor, die Texte und Landschaftsmotive kombiniert (vgl p. 342 – 347).
Skizzen
140 Seiten lang haben wir fast ausschliesslich das Meer, ein Schiff, die Berge gesehen, in allen möglichen Variationen, Istanbul; dann unvermittelt eine italienische Stadt (kein Meer! kein Schiff! keine Landschaft!) – kleiner Schock für den Leser. Pamuk auf Reisen.
Skizze
Am unteren Seitenrand Skizze des riesigen Mumbai-Slum Dharavi: darüber ist die Buchstabendichte des Textes hoch wie die Dächer-Dichte im Slum darunter.
Goa
Natürlich ist Pamuk Tourist. Und er ist mit den Gedanken immer auch anderswo, in seinen Romanen (Mevlut!), in der Türkei (politische Verwerfungen), beim arabischen Frühling. Aber die Kombination von Miniaturen und Text bringt einem Goa auf unvergleichliche Weise nahe.
„Am Freitagabend Bilder anzuschauen ist für mich das Schönste in New York. Monet (Étretat!), van Gogh, die chinesischen Landschaften, Pissarro, Cézanne kann ich jederzeit betrachten und stundenlang allein mit ihnen bleiben. Dann will ich immer rasch nach Haus und selbst malen. Bis ich wieder merke, dass diese Euphorie schnell vergeht, da ich nicht genug Potential in mir habe.“
Intensiv in der jeweiligen Umgebung / Landschaft leben, und zugleich in der Kunst und Literatur (auf der vorherigen Seite schreibt Pamuk, dass er so gern in der Welt von Montaigne, Dostojewski, Tolstoi und van Gogh (Briefe) lebe). – Nicht genug Potential als Maler: auf dieser Seite immerhin eine hübsche New Yorker Strassen-Skizze, die an Pissarro gemahnt; es regnet von oben aus der Textpartie in die Skizze hinein.
„Talentiert, klug, gebildet… Erfolgsgewiss, und dennoch… die Einsamkeit, Türke zu sein.“
Man hätte bestimmt auch noch „weltgewandt“ hinzufügen können. Das kommt überraschend, Pamuk in Frankreich unterwegs, in Lyon Ehrengast der Stadt bei einer Zeremonie. Verwurzelt in der (west-) europäischen Kultur, und als Türke dennoch fremd?
„Diese romantische Gefühl, die Euphorie beim Anblick einer Landschaft verspüre ich ganz tief im Herzen. (…) Der Anblick einer Landschaft macht mich glücklich.“
Davon erzählen auch die Skizzen in diesem Buch. Es muss offensichtlich nicht einmal eine bestimmte Landschaft sein. Woher kommt dieses Gefühl? Vielleicht weil wir als einzige Lebewesen in die Ferne sehen und Nähe imaginieren können? Die Horizontlinie spendet Geborgenheit, und wir sehen den Raum davor als Potential. Die Formen der Landschaft haben etwas Abstraktes, aber darin können wir uns die Vielfalt des Lebendigen vorstellen. Pamuk redet auch davon, dass ihn eine Landschaft vergessen lasse, „wie schlecht die Welt und Menschen sein können.“ – Schwierig, bei diesem Thema nicht ins Esoterische abzugleiten. Siehe auch den Eintrag p. 267, Gedanken beim Blick aufs Meer.
„EIN WUNDERSCHÖNER TAG: Die vielen Türken in Berlin. Glücklich über die Gesellschaft, die Zuneigung und alles.“
Erfrischend anderer Blick auf Kreuzberg etc.
Wechsel des Schauplatzes
… von Griechenland (gem. Kalender August 2010) nach New York (Oktober 2010). New Yorker Einträge gab es schon zuvor; wieso sind sie nicht gebündelt wie die Seiten zu Goa? Undurchsichtige Anordnung der Tagebuchseiten für dieses Buch. Stört das?
„Meine Kleider, mein ganzer Zustand, alles desolat.“
Unterwegs im eisigen New York. Spiegelt sich der desolate Zustand nicht im Schriftbild? Teil des ästhetischen Reizes dieses Buches, das man sich solche Fragen stellen kann.
„Diese von der CHINESISCHEN Landschaftsmalerei inspirierte Doppelseite habe ich bewusst ganz genau an dieser Stelle von ERINNERUNGEN AN FERNE BERGE gesetzt.“
Pamuk geht in eine Metaebene: er erklärt auf p. 263, dass er sich im Herbst 2011 von seiner Freundin Kiran getrennt hat. – Auf der Doppelseite eine braun-graue, eher trist anmutende Landschaft. Auf den folgenden Seiten dann wieder – wie zu Beginn des nicht-chronologischen Buches – Asli die Partnerin.
Tolstoi
Doppelseite für den „grössten Romanautor“, mit einer winterlichen Waldskizze des Grabes in Jasnaja Poljana, das er 2016 „voller Ehrfurcht“ besuchte. Selbstanklägerische Zitate aus Tolstois Tagebuch (hier von 1855), dominierendes Motiv, im Alter dann erst recht.
William Blake
Landschaft-Doppelseite im flamboyanten Stile Blakes, mit einem bescheidenen Selbstportrait (?) Pamuks im Vordergrund. Er erklärt, warum er sich mit dem romantischen Maler und Schriftstelle identifiziert. – „damals waren Worte Bilder und Bilder Worte.“