Graue Bienen
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Besprechung
bheym
Moritz T.
„Stille ist natürlich etwas Relatives, und als persönliche Klangerscheinung stimmt jeder Mensch sie nach sich selbst“
Dieser schon eher philosophische, etwas prätentiös formulierte Satz steht im Kontrast zu den Gedanken des zwar reflektierten, aber doch bodenständigen Helden Sergejitsch mit seiner einfachen unprätentiösen Sprache.
„Die Gedanken an seine Bienen versetzten Sergejitsch in friedliche Stimmung und brachten den Schlaf schon näher.“
Trostlose Szenerie im vom Krieg versehrten und weitgehend verlassenen Dorf. Ausser Sergejitsch harrt nur noch sein „Kindheitsfeind“ Paschka aus. – Nur die Bienen (auch wenn sie im Winterschlaf sind), der Honig und die Kerzen aus Bienenwachs spenden etwas Zuversicht.
„Und empfand gerade hier besonders schwer und deutlich seine Einsamkeit.“
Einsamkeit ist das grosse Thema, auch wenn es bis anhin nicht explizit verhandelt wurde. Sergejitsch hatte im Dorf die Spuren eines Scharfschützen entdeckt und war davon gerannt. Jetzt hat er nur zwei Optionen: Zu Paschka zu gehen, oder nach hause. – Man glaubt die Einsamkeit in diesem Moment nachempfinden zu können, geschickt gemacht.
„Da begriff Sergejitsch, dass er nicht einfach nur am Tisch sass, sondern auf den Soldaten wartete.“
Die Einsamkeit wird spürbar in solchen verzögerten inneren Dialogen. Sergejitsch muss sich auf alles selbst einen Reim machen.
Gratulation zum Tag der „Roten Armee“, der 23. Februar. Schöne Anspielung auf den Feiertagskult der Sowjetunion insbesondere hinsichtlich der kollektiven Errungenschaften der sowjetischen Gesellschaft, von denen die Rote Armee eines der Aushängeschilder ist.
„Das Ende von Paschkas Straße hatte etwas Unklares, wie das der gesamten sowjetischen Geschichte“.
Ein grandioser Satz á la Kurkov, der den großen Bogen von der Beschaffenheit einer einfachen Dorfstraße zu gesamten sowjetischen Geschichte schlägt.
„5 Tage flogen vorbei …“.
In der öden Gleichförmigkeit des Lebens von Sergejtisch scheint dem Autor selbst ein wenig das Gefühl für die Zeit verloren zu gehen. Gemäß der vorherigen Ereignisse müssen es mehr als 5 Tage gewesen sein.
Sergejitsch bricht gerade noch rechtzeitig in das Haus seines Feind-Freunds Paschka ein, um die Standuhr aufzuziehen, damit sie nicht stehen bleibt.
Für Sergejtisch ist es von hoher Bedeutung, in seiner Einsamkeit und Abgeschiedenheit nicht auch noch die Tageszeit zu verlieren. An einer anderen Stelle überlegt er, ob er seinen Feind-Freund Paschka bitten soll, zu Sergejitschs Haus zu kommen und dort den Wecker aufzuziehen, damit die einzige Uhr im Haus und damit der einzige genaue Hinweisgeber auf die Zeit weiter seine Funktion erfüllen kann.
„Das alles, die Bäume, die Tore, die Türen und Fenster, hatte ihn früher wie eine Festung, wie eine kugelsichere Weste geschützt. Dabei hatte er gedacht, es sei umgekehrt gewesen und er habe sein Haus, seinen Hof, seine Welt geschützt.“
Die Kriegs-Einschläge kommen näher. Sergejitsch verlässt sein Zuhause, seine Welt, die ihn bislang geborgen hatte.
„Die Zeit spielte dort eine Rolle, wo jemand auf sie achtete und von ihr abhing. Wenn so jemand aber nicht mehr da war, dann starb auch die Zeit und verschwand.“
Sergejitsch hat das Dorf verlassen; er hat den Wecker aber zuhause gelassen. „Dann gab es im Haus keine lebendige Zeit mehr (…)“. Er überlegt, ob er Paschka anrufen und ihn bitten soll, den Wecker aufzuziehen.
„Jede Dienstreise hatte also einen bitteren und einen süßen Beigeschmack gehabt. Alle betrogen einander und umarmten einander …“
Wieder so ein wunderbar lakonischer Satz, der die Widersprüchlichkeiten und Unmöglichkeiten des sowjetischen Alltags auf den Punkt bringt.
„‚Ich hätte besser Witalina angerufen‘, dachte Sergejitsch nach einer Weile. Aber das Telefon steckte schon in der Jackentasche, und wieder herausholen wollte er es nicht.“
Sergejitsch – mit seinen Bienen im Exil – hatte Paschka, den letzten verbliebenen Bewohner seines Heimatdorfes, angerufen. Irgendwie hatte das Handy-Gespräch ihn enttäuscht. Hübsch, wie er anschliessend überlegt, dass es besser gewesen wäre, seine Ex-Frau anzurufen. So als wäre der Gedanke primär, einen Anruf zu tätigen, und erst sekundär die Frage, wen man anruft. Sergejitsch tut sich schwer mit diesem Gerät.
„Er seufzte und tauschte das Denken gegen den Fernseher ein.“
Sergejitsch vergleicht seine neue Freundin Galja, mit der ihm das Leben „zu einfach“ zu werden scheint, mit seiner kapriziöseren Ex-Frau Witalina. Weit kommt er aber nicht beim Nachdenken.
Kapitel 41
Sergejitsch war zu Beginn des Frühlings aus der „grauen Zone“, dem Niemandsland zwischen den Fronten in die Ukraine geflohen, damit seine Bienen unbehelligt von Bomben und Granaten ihrer Arbeit nachgehen können. Im Krieg aber gibt es kein Grau, nur Schwarz oder Weiss. Für die Ukrainer kommt Sergejitsch aus (pro-russischem) Feindesgebiet; die nur sehr latent angespannte Stimmung eskaliert, als Sergejitsch einem in Donezk gefallenen Einheimischen nicht die gebührende Ehre erweisen mag. – Die gewalttätige Szene ist mit leiser Komik geschildert, der Held und die Leser werden nur Ohrenzeugen; ein kriegsgeschädigter Ex-Soldat demoliert Sergejitschs Auto, während er von einem zweiten Einheimischen fürsorglich in seinem Zelt festgehalten wird. – Sergejitsch hatte sich bei einem Wäldchen mit dem Zelt und den Bienen heimisch gemacht, und mit seinem versteckten Charme und Honig sogleich eine einheimische Verkäuferin erobert; das hatte seinen Teil zur Spannung beigetragen.
„Diese Menschen hatten die russische Armee selbst gerufen, und die war gekommen und sicherte dort jetzt die Ruhe. War das nicht das Paradies für die Bienen, und auch für ihn?“
Sergejitsch hat ein neues Ziel für sich und das Bienenvolk: die Krim, dort sollte es ruhig sein. Die Welt aus der Bienenperspektive.
Szene mit den russischen Journalisten an der Grenze zur Krim, die das von einem ukrainischen Soldaten ramponierte Auto von Sergejitsch propagandistisch ausschlachten wollen.
Nicht nur im Westen sind Journalisten penetrant, geradezu unverschämt, um an irgendwelche für sie wichtige Informationen zu kommen und ihre Story zu machen, im Osten scheint es genauso zu sein, wenn auch unter anderen Vorzeichen: Letztere agieren ganz im Sinne der Propaganda eines riesigen Staatsapparats.
„Er fühlte sich ebenfalls hilflos, als würde auch in seinem eigenen Leben nichts von ihm selbst abhängen.“
Fremden Mächten und Einflüssen ausgeliefert.
„(…) im Einklang mit den Bienen, also auch im Einklang mit der Natur.“
Sergejitsch glaubt in der Krim im „Paradies“ gelandet zu sein.
„Bei allem, was weiter folgte, fühlte sich Sergejitsch aufs Neue wie eine Biene in einem fremden Bienenstock.“
Trauerzug für den Tataren Achtem, den Sergejitsch vor Jahren auf einem Bienenzüchter-Kongress kennengelernt hatte. Er war lange verschollen, vermutlich vom russischen Geheimdienst entführt und ermordet worden.
„‚Diese Träume haben eine Bedeutung! Gott sagt einem durch die Träume, was man tun soll.'“
Träume, zuvor gut eingebettet, werden gegen Ende zunehmend prominenter, und beginnen das Geschehen zu diktieren.
„Und wieder wirkten sie grau auf ihn!“
Der Bienenstock, den der russische Geheimdienst für einige Tage beschlagnahmt hatte, erregt immer wieder Sergejitschs Aufmerksamkeit. Sind die Bienen krank? Sie scheinen ihm von grauer Farbe zu sein. Wurden sie absichtlich mit einer Krankheit infiziert?
vgl auch p. 406: „Auch ihre kräftige Farbe hatte sie verloren und war grau geworden.“ Eine Drohne wird aus dem Bienenstock verstossen und stirbt. –