Grenzfahrt
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Besprechung
bheym
Daniel
Moritz T.
Kapitel 1
Beginn der Erzählung, es ist Nacht. Ein Mann bringt mit seinem Boot jemanden auf die andere Flussseite, klandestine Aktion. Es ist Krieg. Deutsche Besatzer sind im Dorf. Der Fährmann verkauft ihnen Fische, und legitimiert damit auch seinen frühmorgendlichen Aufenthalt am Fluss. – Eindringliche Beschreibung der Flusslandschaft, Farben, Formen, Gerüche, Geräusche.
„Intuitiv bewegte er das Ruder stärker, obwohl er wusste, dass die Rakete ein paar Kilometer flussaufwärts abgeschossen worden war (…)“
Würde man hier nicht statt „intuitiv“ nicht eher „instinktiv“ erwarten? Problem der Übersetzung?
„Sie versuchte, über ihre Köpfe hinweg oder zur Erde zu schauen, weil sie dachte, dann würde sie unsichtbar.“
Das jüdische Mädchen, mit seinem Bruder auf der Flucht vor den Deutschen, hat sich am Strassenrand im falschen Moment erhoben: eine Kompanie deutscher Soldaten zieht vorbei. Abwenden, davonlaufen geht nicht, das würde die Soldaten vielleicht misstrauisch machen. Wie gebannt stehen sie am Rand der Parade. Erst am Schluss spricht sie ein Motorradfahrer an, und fragt, was sie da machen. „Urlaub“, sagt der Bruder. Der Motorradfahrer empfiehlt ihnen, sich „zu verpissen“: „Auf uns folgt die SS.“ (p. 37). – Grandiose Szene.
Kapitel 5
Perspektiven- und Zeitenwechsel. Ein Ich-Erzähler besucht mit einem „Er“ den Schauplatz an der russisch-polnischen Grenze, Jahre nach dem Krieg. Beide scheinen aus der Gegend zu stammen – es sind Sohn und Vater, wie dann in Kapitel 14 deutlich wird. Verschlafene Provinz. „Nur der Fluss da unten schien lebendig. Schlamm und Fische trug er mit sich und manchmal vermodertes Holz.“, p. 44
„Eine Feuertrasse war durch das Reich meiner Kindheit gegangen.“
Auf den Spuren des Krieges.
Kapitel 11
Es ist (wie häufig in der Geschichte) Nacht, das junge jüdische Geschwisterpaar auf der Flucht liegt unter einer Pferdedecke. Sie wollen weg von den Deutschen, auf die andere Flussseite, hin zu den Russen. Dorthin schweift auch kurz die Erzählung hin, dann für einen etwas längeren Moment wieder auf diese Flussseite zu einem jungen deutschen Soldaten, der sich vorstellt, mit seiner Familie das weite Land zu besiedeln. – Alle im selben Flussraum, mit sehr unterschiedlichen Perspektiven. Aber das Animalische dominiert die Szenerie: Pferdeschweiss, Fischgeplätscher, Hundegebell, der Geruch der Kühe, ein geschlachtetes Schwein, das Rascheln der Maus. Die Menschen sind in diese Landschaft genauso eingebettet. Das Geschwisterpaar, allein in dieser Nacht, mit ungewissen Aussichten, hegt inzestuöse Phantasien.
Kapitel 17
Der junge polnische Partisan versucht sich einen Reim zu machen auf den Krieg. Woher kommen alle die Deutschen? Warum wollen sie weiter nach Osten? Ihn beeindrucken die Spuren der Panzer. Er begegnet dem jüdischen Geschwisterpaar. Ahnung einer Freundschaft, von Nähe, in feindlicher Umgebung.
„Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als der Krieg.“
Der Ich-Erzähler, ein kleiner Junge, hört im polnischen Dorf der 1960er Jahre Vater, Onkel und Grossvater über den längst vergangenen Krieg reden, der aber präsent bleibt.
Kapitel 19
Der Fährmann führt die polnischen Partisanen auf die russische Seite des Flusses. Kleine Stadt, Markt, Armut, Gestank. Die Partisanen sollen einen Hauptmann an einen „Verbindungsmann“ übergeben. Warum? Das interessiert nicht, vielleicht nicht mal den Hauptmann selbst, der sich in einer zweifelhaften Kneipe („das beste Lokal in der Stadt“) nach dem Verzehr einer übel riechenden Suppe so stark betrinkt, dass die Partisanen ihn in den Händen des Wirtes zurücklassen müssen. Es kommt zur Konfrontation mit russischen Soldaten. Stimmungsvolle, dichte Erzählung, die von den lakonischen Dialogen lebt.
„‚Ein kleines Auto und ein Lastwagen.'“
Drei Partisanen – eher noch Buben als Männer – haben den Auftrag, Beobachtungen anzustellen, und selbst unsichtbar zu bleiben. Sie gehen gebückt im Schutz von Hecken, liegen auf dem Boden wie „grosse, schmutzige Echsen“. Sie erzählen sich Geschichten, bleiben aber aufmerksam. Sie nehmen ihren Auftrag und das Krieg-Spielen sehr ernst, obwohl sie von Hunger und den Mücken geplagt werden. Die Tages-Beobachtungsausbeute: ein kleines Auto und ein Lastwagen, die vorbeibrausen.
„Sie war barfuss, und ihm wurde kalt, als er ihre braunen Füsse sah. Der Rand des Rockes war dunkel und schwer von Tau.“
Schöner Kapitelanfang. Erotisch aufgeladen.
„Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich ein Geist. Ich irre umher, von niemandem gebraucht, völlig nutzlos. Die Leute wenden eine Weile den Blick von ihren Beschäftigungen ab, dann kehren sie zu ihnen zurück und vergessen mich. Ich hinterlasse ein wenig Neugier und sicher ein bisschen Unruhe. Wie jeder Fremde.“
Eingeschmuggeltes Selbstporträt des Autors.
„Lubko hatte die Augen zu, schlief aber nicht. Er wartete, bis die Uhr schlagen würde, um sie aufzumachen. Das hatte er beschlossen.“
Der Fährmann Lubko ist mit dem Partisanenführer knapp dem Tod entronnen. Sie haben Zuflucht in einem Pfarrhaus gesucht, den Hausherr unter den Tisch gesoffen. Sie müssen dringend über den Fluss auf die polnische Seite, die Russen werden sie suchen. Spät in der Nacht, übermüdet. Lubko hält sich auf seine eigene Art wach.
Kapitel 27
Stasiuk führt die Plotfäden zusammen, die Handlung kulminiert in einer Gewaltszene. Professionell erzählt, und geschickt aufgebaut in einem Spannungsbogen. Man vermisst dennoch ein wenig die in den Hintergrund rückenden Landschaftsimpressionen.