Hard Land
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Besprechung
Gaby K.
In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.
Der erste Satz des Buches, stark! (Diese werden später im Roman auch noch eine wichtige Rolle spielen).
Komischerweise denke ich oft daran, wie ich damals hinter dem Haus stand und mit einem Schlauch den Garten besprengte. Es war der Anfang der Sommerferien, und von dem Berg an Langeweile, der vor mir aufragte, hatte ich noch nicht mal die Spitze abgetragen.
Gutes Bild, der „Berg der Langeweile“.
Der Ich-Erzähler erinnert sich an die Begebenheiten ein Jahr zuvor. Als Leser ist man erstaunt, dass er sich an so ein Detail erinnert, an ein eigentlich idyllisches Bild, in dem nichts passiert.
Und Mom sagte: „Schatz, ich weiss, dass die Situation mit mir … schwierig für dich ist. Aber gerade deshalb ist es gut, wenn du nicht so allein bist. Vielleicht findest du in Wichtia ja auch ein paar Freunde.“
Das war’s also, diese Freundesache war schon seit Monaten ihr grosses Thema. Ich war fast sechzehn, und sie behandelten mich wie ein Kind.
„Stevie war mein Freund!“ Ich starrte sie an. „Wenn er noch hier wäre, würden wir diese bescheuerte Unterhaltung gar nicht führen.“
Beeindruckend, wie diese Sätze ein so klares Bild des Ich-Erzählers und der Situation, in der er steckt, beschreibt.
Mit der Mutter scheint etwas nicht in Ordnung zu sein – das ihn auch betrifft.
Er ist einsam und hat keine Freunde, das bekümmert seine Eltern.
Sein bester Freund ist nicht mehr da – er scheint weggezogen zu sein, sonst wäre diese Stelle anders formuliert.
Also, ein fast 16 jähriger Junge, der Sommerferien hat, alleine und einsam zu sein schein und sich darüber ärgert, dass seine Eltern ihn wie ein Kind behandeln.
Wie immer, wenn sie nicht da war, hatte sich die Atmosphäre im Haus verändert. Ich spürte sofort: Er war noch da. Es gab zwei Sorten von Stille, die neutrale Sorte, und dan noch die Stille meines Vaters. Ein brütendes Schweigen, das ich selbst noch von hier oben hören konnte.
Eine hörbare Stille!
Aus diesen wenigen Sätzen lässt sich die Beziehung ablesen, die Vater und Sohn miteinander haben. Stark.
METROPOLIS
Aushilfe gesucht!
…
Ich schaute noch mal hoch zu dem weissen Schild mit den roten Lettern M-E-T-R-O-P-O-L-/-S (das „I“ hing herunter, als wäre es gestolpert) und ging nach Hause.
Aus dem Klappentext weiss man, dass dieses Kino eine wichtige Rolle spielen wird. Es wird eine Spannung aufgebaut – Aushilfe gesucht – die aber nicht eingelöst wird.
Metropolis, Assoziation zu Futurismus, Expressionismus und Zweiklassengesellschaft – dem berühmten Stummfilm aus den 1920er Jahren – die aber stolpert 🙂
…schöne, aber nutzlose Worte wie „Verblendung“ und „Schurwolle“…
schön, aber nutzlos? Über die Verbindung dieser beiden Worte mit diesen beiden Adjektiven stolpert man.
Dann war es jedes Mal, als wäre mein Verstand eine Lagerhalle mit unzähligen Lichtern, und plötzlich fiel ein Licht nach dem anderen aus, bis ich in vollkommener Dunkelheit stand. Das fühlte sich immer an wie Sterben.
Mit dieser Beschreibung sind die Panikattacken fast nachvollziehbar…
Am liebsten dachte ich mir kurze Lebensläufe für die Toten aus: CARL ROTHENSTEINER, 12. APRIL 1901 – 21. FEBRUAR 1973: Solider Handwerker, viele Krisen überstanden, nie darüber geklagt. Schlechter Pokerspieler, St. Louis-Rams-Fanatiker, wortkarg, manchmal im Kino geweint. Plötzlicher Herzinfarkttod, wenige Tage zuvor noch eine Aussprache mit seinem Sohn nach zwölf Jahren Streit…
Creepy – aber recht fantasievoll. Man hat sofort ein Bild von diesem Carl Rothensteiner – kein sehr glücklicher Mensch – Hinweis auf seinen Vater – Beziehung zwischen Vater und Sohn?
Ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand einen Eiswürfel ins T-Shirt gesteckt.
Fühlt man gleich auch beim Lesen – iiih.
Der 4. Juni war ein Tag, der einen daran erinnerte, wie gut ein Tag sein kann: Der Himmel endlos blau, die Sonne ergoss sich über Missouri, der Sommer hing schwer in der Luft
Wells schafft es mit wenigen Worten, etwas zu beschreiben, das man sofort nachvollziehen kann. Wie diese Szene und auch sonst – mit ebenfalls wenigen Worten stellt er die Protagonisten vor,
Es roch nach Öl und Zucker und irgendwie wie nach zu Staub zerfallener Nostalgie.
Wieder so eine Beschreibung, die einem die Szene bildlich rüberbringt.
Bisher hatte ich immer gedacht, Zahnspangen wären etwas Schlimmes, aber ihre mochte ich wirklich sofort.
Auf Seite 24 beschreibt Sam: überhaupt hatte ich das Gefühl, ein Paar neue Augen verpasst bekommen zu haben. Das passt gut zusammen.
Gebannt schaute ich zu ihr. Ich finde es übrigens immer bescheuert, wenn Leute in Bücher oder Filmen sagen, wie für sie in solchen Momenten die „Zeit stillsteht“. Das Problem ist ja, dass sie das gerade nicht tut – und dass es deshalb umso peinlicher ist, wenn es einem ewig lang die Sprach verschlägt.
Stimmt!
Deine Mom ist mein Dealer… Lesestoff
Hihi – so kann man eine gute Buchhändlerin auch beschreiben.
Dauernd nahm ich mir vor, mehr „aus mir herauszugehen“, denn das hatte schon die Schulpsychologin oft von mir gefordert. Nur, wenn man darüber nachdenkt, ist es ja eine Bankrotterklärung an das eigene Ich, wenn man besser dran ist, da rauszuschlüpfen und es wie eine kaputte Hülle zurückzulassen. Doch das hatte die Schulpsychologin nicht lustig gefunden. Und vielleicht war es auch nicht lustig, sondern die Wahrheit.
Kein Kommentar…
Und Kirstie konnte derbere Sprüche machen als jeder Junge und sagte Sätze wie: „Tja, Wahrheit hat eben scharfe Kanten.“ Oder „Da war ich noch tot“ statt: „Da war ich noch nicht geboren“.
Coole Sprüche. Kirstie kommt dadurch sehr differenziert rüber.
Die Wut fing da an, wo meine Gedanken aufhörten.
Ist leider oft so.
Wie sie aus Angst erst kneifen wollte und sich dann überwunden hatte. Weil ja am College niemand wusste, dass sie eigentlich eher schüchtern war.
Ein Bild, dass man oft erhält, wenn es um das amerikanische Schulsystem geht. Ist es gut, wenn man mit 18 Jahren von zu Hause weg muss und sich selbst erst einmal behaupten muss? Wohl nicht für alle, aber sicher doch für viele.
„Nur für kurze Zeit“. Sie kräuselte die Oberlippe. „Ich glaube nicht, dass man sich komplett ändern kann, aber ich würde schon sagen, dass ich jetzt offener und entspannter bin als in deinem Alter, beides hatte ich mir immer gewünscht.
Das hat aber nicht nur mit der College-Zeit zu tun, was die Mutter hier sagt. Sondern auch mit dem Alter – das nennt man Resilienz 😉
Und da schloss ich mit mir eine Wette: Wenn ich’s jetzt schaffe, zwölft Minuten am Stück zu rennen, dann bleibt meine Mutter noch jahrelang stabil.“ … Und dann schafft Sam es nur
Der erste Satz des Buches weist schon darauf hin: die Mutter stirbt. Ob diese Wette für Sam eine Vorahnung ist?
Eine Weile blickten wir stumm in die Nacht. Das war gut, schweigen konnte ich.
Mit jemandem Schweigen können ist ein grossartige Sache – auch wenn das hier etwas aus dem Zusammenhang gerissen ist, macht es doch klar, dass Kirstie sehr einfühlsam ist, was man bisher nur vermuten konnte.
…schlug ich von der Grösse her leider nach Mom und schien vom Stamm der Mäuse zu kommen.
Jöh – nettes Bild mit den Mäusen.
Ich wusste, dass meine Eltern sich wünschten, dass ich bereit war, falls Mom wirklich starb. Sie sagten es nie, aber ich spürte es. Doch ein Teil von mir wollte gar nicht bereits sein, denn wenn man es war, passierte es auch.
…
„Hard Land“ – der Gedichte Zyklus wird eingeführt, der dem Buch den Namen gegeben hat und dessen Pointe wohl das bestgehütete der neunundvierzig Geheimnisse von Grady ist.
Immer wieder die Nennung der Geheimnisse, das macht den Leser neugierig und trägt einem mit durchs Buch.
Dann stiess ich auf diese Zeilen:
…Fort mit dem Traum!
Fort mit dem Idyll!
Jugend überdeckt die Risse, doch nun sehe ich die Lügen meiner Eltern.
Die Lügen meiner Freunde.
Die Lügen meiner Stadt.
Ode an das „Coming-of-Age“?
Mein Vater war mit oft wie eine heruntergelassene Jalousie vorgekommen. Doch an jenem Mittag konnte ich zumindest durch die Ritze spähen.
Wieder ein tolle Charakter- und Situationsbeschreibung.
Ich zähle jetzt langsam von zehn runter, und bei null bist du in mich verliebt…
Kirstie spielt mit Sam, obwohl sie wohl merken musste, dass er wirklich daran war, sich in sie zu verlieben.
Allerdings hatte er im Profil eine fast prähistorisch flache Stirn, als hätte man ihm als Kind immer wieder mit der Bratpfanne eins drübergezogen.
Eine der Beschreibung von Chuck Bannister, dem Quäler. Und auch hier wieder: man kann ihn sich gut vorstellen und erhält auch gleich ein Gefühl, dass dem wirklich so war mit der Bratpfanne und dass er sich mit seiner groben Art dafür revanchierte.
„Mach ich sofort“, antwortete sie, „der ist eh ziemlich süss“… Doch dann lachte sich nur und streichelte mir über den Kopf. So wie man den Hund des Nachbarn streichelt.
Kirstie spielt schon wieder mit Sam – siehe auch oben.
Und ich weiss nicht, ob das übertrieben klingt, aber als ich in meinen neuen Klamotten vor dem Spiegel stand, fühlte ich mich wie ein anderer Mensch.
Das kann man sehr gut nachvollziehen.
Das Gute an Cameron war, dass es mir bei ihm nie schwer fiel zu reden; als hätte er eine Art Gegengift für unsicheres Schweigen entwickelt.
Ja, es gibt so Leute, die dieses Gegengift mitbringen.
„Ich freue mich so, dass Sam Freunde gefunden hat. Das bedeutet uns viel.“ (Mutter)
…
Am Ende tat Cameron das, was er in peinlichen Situationen immer tat: Er machte einen Spruch und raunte meinem Vater zu: „Sie bezahlen uns für den Escort des Jungen wie immer danach, Sir, oder“?
Nachdem seine Eltern am Festival am See Sam’s Freunden begegnet sind und es Sam verständlicherweise peinlich war, dass seine Mutter ihm vor allen über die Wange strich.
…
Ich finde den Spruch von Cameron sehr gut.
Und mehr redeten wir nicht, weil wir nicht wussten, was wir sagen sollten. Nur war dieses Schweigen überhaupt nicht peinlich, es stand nicht wie sonst zwischen mir und anderen, sondern war mehr etwas, das wir gemeinsam taten.
Das klingt gut – gemeinsam Schweigen. Das kann man nicht mit vielen Leuten.
„Jetzt lasst ihn endlich mal in Ruhe“ sagte er (Hightower) und trat vor mich. „Ist eh mutiger, zuzugeben, dass man Schiss hat, als diesem bescheuerten Gruppenzwang zu folgen“.
Das macht Hightower sehr sympathisch – und zudem hat er natürlich sehr recht!
Ich dachte an den herrlichen Sommer, der vor mir lag, und dass nun endlich alles anfangen würde, und statt das Gartentor zu benützen, hüpfte ich über den Zaun
Dieses Hochgefühl nach dem Festival am See und dem Ausflug zu den 5 Wellen – ist sehr gut beschrieben – und nachvollziehbar.
Der Ball in der Luft, Nummer 11.
Hätte ich das alles letztes Jahr erzählt, hätte ich nicht wohl auf das konzentriert, was an meinem Geburtstag geschah.
Cleverer Spannungsaufbau – und auch gut daran erinnert zu werden, dass es eine Rückschau von Sam auf den Sommer im Jahr zuvor ist.
(in Grady hiessen fast alle Strassen nach Leuten, die nie freiwillig einen Fuss in diese Stadt gesetzt hätten)
Das ist in vielen Städten so – aber es beschreibt einmal mehr, dass Grady ein Kaff ist.
(In Basel benennt man dagegen die komischsten Ecken nach Leuten, die das eben getan haben. Wie der „Hermann Hesse-Platz“ im Kleinbasel an der Rheingasse / Ecke Reverenzgässlein)
Sie erzählte, dass sie früher aus Langeweile oft ein Buch nach dem anderen aus dem Regal gezogen und sich immer nur die ersten Sätze angeschaut habe…
Und dann kommen ein paar nette Beispiel – wie das: Alle Kinder, ausser einem, werden erwachsen (Peter Pan).
Aber auch dieses Buch fängt mit einem herausragenden Satz an, das scheint Wells also auch zu machen: berühmte erste Sätze!
„Das mag ich eh: Wenn Menschen ihre eigene Welt haben und nicht sofort alles von sich preisgeben. Wenn man sie selbst entdecken kann…“
Sagt Kirstie zu Sam (nachdem sie von ihrem autistischen Cousin erzählt hat). Nimmt man das Kirstie ab? Irgendwie schon. Und für Sam muss das Balsam gewesen sein, auch wenn er es hier nicht sagt.
Die Missouri Textil, kurz M-Tex, hatte über hundert Jahre lang existiert.
Und dann beschreibt Wells den Niedergang von Grady, nachdem die Fabrik geschlossen wurde.
Dieses Schicksal ereilt viele Orte – mir kam da ein Bild von Schönewerd (Bally) in den Sinn.
Nach dem Festival hatte ich mit Cameron über Kirstie geredet.
Und dann zeichnet Wells durch dieses Gespräch ein Charakterbild von Kirstie. Gute Taktik. Allerdings fragt man sich, ob Jungs in dem Alter wirklich so miteinander reden?
„Ich meine, was soll das, Sex als Sünde zu verdammen? Als ob’s was Schlimmes wäre! Wenn, dann sind Waffen was Schlimmes, denn die töten und sich menschengemacht. Sex dagegen macht Spass und ist gottgegeben.“
Richtig, Kirstie. „Make love, not war!“
Sie erzählte, dass sie seit ihrer Kindheit die interessantesten und wichtigsten Dinge aufschrieb, die jemand in ihrer Gegenwart sagte,
…
„Ich habe total Angst, so zu werden, wie ich bin“. (Mitschüler in der 1. Klasse)
„Früher war alles schwerer, trotzdem fühlte ich mich damals leichter“. (Vater)
„Das Leben ist nicht einfach, es ist hart und schnell. Die meisten Menschen machen eine Menge durch und denken dabei kaum nach… Ich weiss bis heute nicht, wer ich eigentlich war. (Grossmutter)
Gute Idee! Und wow, was für Sätze!
„Neues Wort. Mischung aus Euphorie und Melancholie.“
…
„Es sollte echt ein Wort für dieses Gefühl geben“, sagte sie. „So was wie Euphancholie“. Einerseits zerreisst’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird. Dass alles mal vorbei sein wird.“
Dieses Gefühl kennt man – und dieses neue Wort wäre eine gute Sache.
Kirstie gab mir eine Zigarette ab. Sie sagte, sie käme manchmal hierher, wenn sie ihre Grossmutter vermisse. „Oder wenn ich die schwarzen Tasten auf dem Klavier spiele…“ Sie sah meine fragenden Blicke. „Also, wenn ich mich beschissen fühle.“
Die schwarzen Tasten auf dem Klavier spielen für „beschissen fühlen“. Wieder so ein Spruch von Kirstie. Dabei braucht es die schwarzen Tasten am Klavier, um Melodien auch harmonisch klingen zu lassen 😉
Ein ernstes Problem, denn in ihrer Abwesenheit gab es für mich inzwischen nur noch einen Zustand, den ich DUWOK nannte (depressiv und wahnsinnig ohne Kirstie). In seiner schwächsten Form ein sanftes ziehen im Mager, gerade noch aushaltbar. Nahm DUWOK jedoch zu, schaltete sich ein Grossteil meines Hirns ab und ein Verrückter übernahm das Steuer und zwang mich, peinliche Tagebucheinträge zu schreiben oder manisch durch die Stadt zu laufen und nach ihr zu suchen.
Die Beschreibung von „bis über beide Ohren verliebt sein“ – herrlich!
„In deinem Alter war ich nachts oft unterwegs…“ Dads Worte schnitten in unser Schweigen. „Mein Vater hat mich dafür bestraft, er hat nicht verstanden, wie wichtig das für mich war. Ich will nicht das Gleiche machen. Wer bin ich, dir vorzuschreiben, wie du dich in einer Situation wir mit deiner Mutter verhalten sollst?“
Er betrachtete mich lange: Wenn Blicke ein Gewicht hatten, dann wog dieser hier so viel wie ein Kleinwagen.
…
„Ich will dir nur zwei Fragen stellen.“ Er schob sich wieder einen Löffel Müsli in den Mund. „Sind das gute Leute, mit denen du dich abgibst? Und geht’s dir gut?“
…
„Übrigens…“ er schaute wieder zum Fernseher, „den Geruch von Marihuana riecht man zehn Meilen gegen den Wind, pass beim nächsten Mal auf. Nicht dass deine Mutter es mitkriegt.“
Das erste ‚richtige‘ Gespräch zwischen Vater und Sohn. Bisher hatte man das Gefühl, der Vater sei immer abwesend in Sams Leben und kriegte gar nichts mit. Dem scheint aber nicht so zu sein. Als Leser – von aussen – hat das etwas Tröstliches, denn das Damokles-Schwert, dass Sam und sein Vater mal alleine sein werden, wenn die Mutter gestorben ist, schwebt ja immer mit im Buch.
Beim Essen beobachteten wir dann, dass an einigen Tischen die Gruppen auf fast schon klischeehafte Weise zusammensassen: die Sportler, die Aussenseiter, die Streber, die Cheerleader, die Leute aus dem Theaterkurs. Cameron behauptete, nichts davon sei wirklich echt und sie würden letztlich alle nur eine Rolle spielen. Und Hightower entgegnete, dass würde man sowieso, und zwar auch von sich selber.
Und Kirstie frage, ob es dann letztlich gar kein richtiges Ich gäbe, wenn man auch vor sich selbst nur eine Rolle spiele.
Und ich sagte, dass ich nicht mal wisse, welche mein Ich sei: Sam, der hier am Tisch sass und gerade diese Worte sprach. Oder das unsichtbare Wesen in meinem Kopf, das Sam dabei beobachtete und alles innerlich kommentierte.
Aber was, wenn auch das falsch war? Wenn das wahre Ich eben nicht die eigenen Gedanken, Gefühle und innere Stimmen war, sondern etwas dahinter; das man nur erahnen, aber nie ganz erwischen konnte?
Gute Fragen…!
Er machte ein Gesicht, als hätte man ihm in einem Nebensatz mitgeteilt, Vater von Drillingen zu sein.
Das Gesicht kann man sich echt vorstellen 🙂
In diesem Moment kamen wir am Schild mit Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady vorbei, und da kapierte ich, wie Morris das in seinem Gedichtband gemeint haben musste. Und dass es nicht die gleichen neunundvierzig Geheimnisse für alle gab, sondern jeder seine eigenen hatte.
Gibt es diesen Gedichtband eigentlich von William Morris?
Wie auch immer, diese Erkenntnis könnte eine weitere Schlüsselstelle im Roman zu sein.
„Grady ist wie ein Popsong, den man aber dauernd heimlich hört.“
Und Cameron seufzte und sagte: „Du hast das Spiel nicht verstanden, alter Knabe, du sollst auf Grady schimpfen!“. Ich zuckte nur mit den Schultern. Die anderen hatten leicht reden, ich würde noch mindestens zwei Jahre hierbleiben müssen.
Ist etwas Klischeehaft: alle amerikanischen Jugendlichen wollen von zu Hause weg aufs College und machen ihren Heimatort schlecht. Aber die Jüngeren, die noch bleiben müssen, sehen das anders?
In ein paar Tagen würde man Mom bereits begraben, die Leute würden traurige Dinge sagen, aber schon beim Essen danach würden ein paar von ihnen über Anekdoten lachen, und sei es auch nur, weil sie erleichtert waren, am Leben zu sein.
Das ist nicht der Grund, warum nach Beerdigungen auch gelacht wird. Sondern es sind die schönen Erinnerungen, die den Verlust lindern – vor allem, wenn man über lustige Geschichten lachen kann.
Allerdings schien mein Vater sein Schweigen inzwischen an Verstärkerboxen angeschlossen zu haben, denn ich konnte es selbst von hier oben hören.
Was für ein Bild…
„…Du hast früher fast nie was mit mir gemacht, und jetzt schaust Du hier wie irgendeine Tante einmal im Jahr an Weihnachten vorbei; du hast keine verdammte Ahnung, wie ich mich fühle oder wer ich bin.“
Jean antwortete nicht. Sie kaute auf einem Nagel, und man konnte fast sehen, wie hinter ihrem Blick in Windeseile Aktenordner aufgerissen oder neu sortiert wurden.
Schliesslich seufzte sie. „Gerade das hat mich an Mom manchmal genervt…“
„Was?“, fragte ich ungeduldig.
„Dass sie dachte, sie weiss genau, wer ich bin.“
(Aktenordner – cooles Bild).
Eltern müssen das denken, sie müssen glauben, genau zu wissen, wer ihre Kinder sind, oder?
„Sein Vater hat ihn die ganze Kindheit über geschlagen. Und noch mehr…“
Sehr gut, dass das „und noch mehr…“ nicht weiter ausgeführt wird. Das reicht vollkommen.
Daran dachte ich und da vermisste ich sie so sehr, dass ich vermutlich nie die richtigen Worte dafür haben werde. Denn inzwischen glaube ich, dass es die gar nicht gibt.
Wie wahr.
„Und falls ihr euch fragt, was mit mir passiert ist: Ihr solltet mal den anderen sehen.“
Keine Ahnung, wieso ich das sagte, ich glaube, den Spruch hatte ich immer gemocht.
Ich finde das mit der Schlägerei vor der Beerdigung komplett unnötig, aber der Spruch ist gut – vor allem, da der Leser ja weiss, dass es nicht so ist…
Dad erzählte, dass Mom beim Umschalten mit der Fernbedienung den Tick gehabt hätte, die Nachrichtensprecher aus Höflichkeit immer erst aussprechen zu lassen, selbst wenn sie es langweilig fand.
Wie nett 🙂
„Mom hatte immer gleich Vorschläge und Erwartungen an mich. Dad dagegen nimmt die Leute so, wie sie sind.“
Der Blick der Schwester, Jean, auf die Eltern. Passt das zum Bild, das Sam bei seinen Beschreibungen gibt?
„…Ich meine, es ist in den letzten Jahren fast alles wahr geworden, was ich mir damals erträumt habe. Aber es war trotzdem nie so schön, wie davon zu träumen.“
…
Ich musste nie mutig sein, weil ich nie Angst vor irgendetwas hatte.
Interessanter Gedanke.
„Ich hoffe, es wird besser, aber wahrscheinlich gibt es am Ende wieder nur diese vier Texte. Einer hat falsch geheiratet und ist geschieden oder Alkoholiker. Einer ist nie rausgekommen, hat Familie und macht was Langweiliges. Eine hat Erfolg mit irgendetwas Künstlerischem oder Sportlichem… Und einer stirbt zu früh bei einem Unfall oder an einer Krankheit. Es ist immer das Gleiche, die einzige Frage ist nur, wer von uns welchen Text bekommt.“
Und genau das fragt man sich in diesem Moment auch. Welcher der vier Freunde kriegt welchen Text im Abspann der Geschichte?
Mir kam ein Satz in den Sinn, den Jean mal dem Alten in Georgetown in den Mund gelegt hatte: „Freundschaften in der Schule sind wie Freundschaften im Knast: Man weiss erst draussen im richtigen Leben, was sie wert sind.“
Das hat was!
Du wirst zurückkehren zu diesen Jahren, doch betreten wirst du sie nie mehr…
Jugend ist der Ort, den du verlassen hast.
No comment
Wobei sich einer besonders stark in mir einbrannte, aus Salzwasser von Charles Simmons: „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“
Benedict Wells hat auch „geklaut“, wie das der Lehrer von William Morris sagte, der vor allem bei Walter Whitman geklaut hat – denn: siehe erster Satz dieses Romans.
(Es geht um die Parabel des Königs, der im Sterben liegt und seinem Sohn den Ring mit der Inschrift: „Auch das geht vorbei“ gibt.)
Schliesslich fragte ich: „Aber stimmt das denn? Geht es wirklich vorbei?“
…
Denn in Wahrheit ist das alles nicht vorbeigegangen, sondern ich selbst habe mich davon entfernt.“
…
Trauern ist eine Reise ohne Ziel und ohne Ende.
…
„Sir, eine Frage noch. Wenn man seinen Glauebn verliert… Nehmen wir an, es gibt keinen G“tt oder eine ausgleichende Gerechtigkeit oder so was, was bleibt einem dann noch in so einer Situation?“
Der Inspektor überlegte.
„Das Trotzdem„, sagte er schliesslich.
Beeindruckendes Gespräch mit dem Lehrer, mit vielen schönen Gedanken zum Thema Trauern und weitermachen…
Ohnehin spielten wir unsere Gefühle eher über Bande. Unser Trick war der blaue Holzlöwe, den Mom von all ihren kleinen Tieren am liebsten gemocht hatte. Wir versteckten ihn an den unmöglichsten Orten so, wie sie es oft getan hatte…
So konnten wir zeigen, dass wir aneinander dachten, aber auch an Mom.
Das hat etwas sehr Tröstliches. Es würde nicht passen, wenn Sam und sein Vater plötzlich ein sehr gutes Verhältnis gehabt hätten, aber so – über die Bande – kann man schon glauben, dass sie einigermassen gut durch die Zeit kamen.
Wie ihr wisst, hat sich William Morris wie viele amerikanische Autoren den drei Ws zugewandt: „Whiskey, Weed and Women“.
Hihi – und wohl nicht nur amerikanische… Und nicht nur Autoren!
„Bis hinaus über die Zeit, denn zurückkehren kann ich nur als Mann“, sagte der Inspector, „das ist klassisches Coming of Age.
…
Kind sein ist wie ein Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt.
Schlüsselstelle des Romans, des Genres, mit treffenden Beschreibungen von „Coming of Age“ oder Erwachsenwerden.
„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln.“ L.P. Hartley, The Go-Between).
Viele der ersten Sätze sind wirklich super!
Und ich dachte daran, wie ich Dad gefragt hatte, ob wir jemals über Moms Tod hinwegkommen würden. Er hatte gesagt, sie würde vermutlich die Antwort kennen, und inzwischen glaubte ich zu wissen, wie die Antwort lautete:
Es gab keine, sie veränderte sich jeden Tag.
Wow! Sam hat das wirklich rasch begriffen.
Der Horizont war mit immer wie das Ende der Welt vorgekommen. Nun spürte ich, dass mir dieser Blick eines Tages nicht mehr weit genug sein würde.
Auch wenn der Schluss des Buches wirklich hübsch ist – das wäre auch ein guter Schlusssatz gewesen – vor allem bei all den guten ersten Sätzen, die im Buch zitiert werden.