Im Menschen muss alles herrlich sein
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Besprechung
luzia.boeni
Moritz T.
„Steinehüpfen“
Das einzige, kurze Kapitel, das die vier Frauen zusammenführt, aus deren Perspektiven das Buch erzählt wird: Mutter Lena und Tochter Edita, entfremdet, und Mutter Tatjana und Tochter Nina, noch entfremdeter. Chronologisch ist die etwas gespenstische Szene (fast) am Ende anzusiedeln, hat im Buch aber die Funktion eines Prologs.
„Sozialistische Manieren: Wenn man Gefühle hat, zeigt man der ganzen Welt, dass man verletzt ist, aber versucht, sich zu beherrschen.“
Interessante Definition „sozialistischer Manieren“.
„Es war sinnlos, mit ihm zu reden.“
Die kleine Lena kann ihrem Vater nicht begreiflich machen, warum sie nach Sotschi und zur Grossmutter muss in den Ferien. Gekonnt dargestellte kindliche Perspektive, ausgeliefert den Plänen der Erwachsenen.
„(…) aber er beachtete weder sie noch den am Boden liegenden Koffer, aufgerissen, wie ein Mund, der stumm AAAAAHHHH! schreit.“
Lena wird für sechs Wochen ins Pionierlager verreisen (statt mit der Grossmutter nach Sotschi zu den Haselnüssen). Ihr Vater „irrte ziellos durch die Wohnung“.
„Lena beschloss, erst zuhause eindeutig begeistert oder verzweifelt zu klingen (…)“
Lena kehrt nach 6 Wochen Pionierlager zurück nach hause. Auch der Leser weiss nicht so recht, wie der Sommer für Lena war. Wenige, immerhin hübsch skizzierte Momentaufnahmen müssen genügen. Näher scheint sie nur mit der älteren, hinkenden Aljona in Berührung gekommen zu sein.
„‚Kein Mensch braucht diese Sprache. Sie ist ein Relikt. Wir müssen vorwärtskommen.'“
Die Mutter erklärt Lena, dass sie nicht mehr länger Ukrainisch-Unterricht bekommen würde. Lena hatte sich damit schwer getan.
Kapitel „Die Achtziger: Allee der Helden“
Trostloses Jahrzehnt des Erwachsenwerdens: die Mutter verdämmert und stirbt, vermutlich weil eine Ärztin ihr eine falsche Diagnose gestellt hatte, um sich an den teuren Medikamenten zu bereichern, die sie der Patientin verabreichte. Der Vater hat nicht den Mumm, dieser schleichenden Tragödie entgegenzutreten.
Lena lässt die Verlobung mit Wassili und seine sexuellen Avancen über sich ergehen. Sie scheint kaum etwas für ihn zu empfinden, und als Wassili sich aus praktischen Gründen von ihr trennt, nimmt sie das kommentarlos hin.
Sie schafft die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium nur dank der erkauften Fürsprache eines Klinikchefs – eine Demütigung. Auf Anweisung einer Professorin muss sie von ihrem Wunschfach Neurologie in die Dermatologie wechseln. Lena hat keine engen Freunde. Sie hat auch kaum je Freude an irgendetwas. Und sie erfährt, dass ihre Freundin aus dem Pionierlager, Aljona, in die Psychiatrie gesteckt worden ist.
Im Hintergrund die raschen Wechsel an der Spitze der KPdSU, die aber zunächst keinen Einfluss auf den grauen Alltag der späten Sowjetzeit haben.
„‚Jetzt müssen wir deinem Chefarzt in der Klinik nochmal danke sagen.'“
Die euphorische Lena ruft ihre Mutter an: sie hat die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium bestanden. Die Antwort der Mutter „ist ein Hieb in den Unterleib“: nicht ihre Prüfungsleistung führte zum Ziel, sondern der Einfluss ihres Chefs in der Klinik, in der sie das Jahr als Sekretärin überbrückt hatte, nachdem sie beim ersten Mal (ohne Fürsprache) die Prüfung nicht bestanden hatte.
„Sie sah auf die glänzenden blauen Lider vor ihr, die schwer herunterhingen unter dem Gewicht der Farbe oder vielleicht aus Müdigkeit (…).“
Von ganzen Jahren in Lenas Leben erfahren wir nichts; dann aber nehmen wir an einem Augenblick teil in grosser Detaillierung, die Nähe zu der Mutter ihrer Freundin Swetlana ist „ihr zu viel“, unmittelbar nachdem sie vom Erfolg bei der Aufnahmeprüfung fürs Medizinstudium erfahren hat.
„Sie verstanden nur, was sie ohnehin schon wussten. Die Menschen hatte keine Kapazitäten für neue Informationen.“
Lena erzählt ihrer Grossmutter nichts aus ihrem Leben. Zu viel Aufwand, ihr verständlich zu machen, wie sie lebte, dass sie mit Edil einen muslimischen Tschetschenen liebte. Selbst wenn die Grossmutter – als einzige – vermutlich dagegen keine Einwände gehabt hätte. – Passivität Lenas von klein auf ein Merkmal.
„Ihre Augen fuhren im Zickzack über Lenas weissen Mantel und das gelbe Kleid.“
Lena hatte sich nicht mehr umgezogen, bevor sie an die Beerdigung der Grossmutter fuhr. Die Nachbarinnen registrieren das.
„Warum sie dann schon in seinem Wagen auf seinen Schoss geklettert war und ihm die Hose aufgeknöpft hatte, war ihr bis heute nicht ganz klar, vielleicht hatte sie nicht gewollt, dass er hoch in ihre Wohnung kam und das Bett berührte, das für sie und Edil bestimmt war (…).“
Sie lässt sich von Freundin Inna auf eine Party mit- und von Daniel abschleppen, der in Innas Augen eine gute Partie ist, im Gegensatz zu Lenas Geliebten, dem Tschetschenen Edil. Lena ergreift in dieser Szene die Initiative, aber es ist eine schlafwandlerische Aktivität, eher gegen ihren Willen offenbar, sie will vielleicht auch nur einer Erwartung genügen.
„‚Alles ging nach Moskau. Alles Leben verschwand, die Felder waren leer, nur Ausgucktürme standen auf den brachen Feldern, von denen aus die Kinder ihre eigenen Eltern überwachen sollten.'“
Eine alte Patientin kommt in die Praxis und erinnert Lena an den Holodomor, als Stalin die Ukrainer massenhaft in den Hungertod trieb. – Im Pionierlager, das die kleine Lena zu Sowjetzeiten absolvierte, erinnerte eine Statue an ein Kind, das seine Eltern verraten hatte – Vorbild für alle Pioniere…
„Ciguapa“
Zum Ende des ersten Teils ein Zeit- und Perspektivenwechsel: es erzählt eine namenslose Ich-Erzählerin (später wird klar: Nina) von „Tante Lena“, die damals ihre ebenfalls aus der Ex-Sowjetunion emigrierte Mutter (mit der Ich-Erzählerin als Baby) in Deutschland aufgenommen hat. Die Ich-Erzählerin scheint sich aber sowohl ihrer Mutter wie auch „Tante Lena“ entfremdet zu haben, auch der jüdischen Gemeinschaft, der „Tante Lena“ und „Onkel Lew“, der sie besucht, um eine „Versöhnung“ herbeizuführen. Vielleicht auch gleich der ganzen Welt, sicher aber der Welt der früheren Sowjetunion, von der die Älteren widersprüchlich erzählen. – Ciguapa ist eine Fantasyfigur mit verdrehten Füssen, „weil sie in die Vergangenheit weisen (…). Sie steckt fest in der Zwischenzeit.“ (p. 214)
„Klar liebt man seine Kinder, aber das heisst noch lange nicht, dass man sie mag.“
Die (neue) Ich-Erzählerin, die die Hauptfigur Lena aus dem ersten Teil „Tante“ nennt, über ihre Mutter, wenig beeindruckt über Onkel Lews Geschichten, wie ihre Mutter sich für sie aufgeopfert habe.
„Edi“
Die Erzählung aus Editas Perspektive wirkt lebendiger, als hätte man den Grauschleier weggezogen, durch den man im ersten Teil auf Lenas Leben geblickt hatte. Die Autorin arbeitet mit vielen, aber meist originellen und gelungenen Metaphern. – Nur wird der Gegensatz dort jüdische Mischpoche aus der Ex-Sowjetunion, hier entfremdete lesbische Tochter und Berlinerin mit weissblond gefärbten Haaren etwas gar stark ausgespielt.
„(…) dann hatte sie eine entsetzliche Müdigkeit überfallen, eine, die ihr wie Teer übers Gesicht lief (…)“
Originelle Metapher. Vergleiche auch „der Himmel bröselig wie feuchtes Mehl“, p. 227, oder „flog“ eine Frage „aus Edi raus wie ein Tennisball aus einer Wurfmaschine“, p. 228.
Israel als Streitpunkt in den Wohngemeinschaften
Etwas plakativ: Einmal fliegt Edi aus einer WG, weil sie einem Israelhasser das Bett anzündet, das andere mal, weil sie einem Israelfan („die ganze Welt sollte wie Israel sein“) Waschpulver über den Kopf leert.
„Sie konnte nicht mit einer Muslima bei ihrer Familie (…) aufkreuzen (…)“
Das Drama von Editas Mutter Lena, die den Geliebten Edil nicht zuhause vorstellen wollte, wiederholt sich in der nächsten Generation.
„Kein Mensch würde sie dazu kriegen, mit diesen diktaturgeschädigten Jammerlappen, diesen Perestroika-Zombies ein Wochenende in Thüringen zu verbringen (…)“
Edi auf Distanz zu ihrer Herkunft und ihrer Sippe…
„Sie lachte wieder los, und sie lachte so lange, bis Edi aus Ratlosigkeit mitlachen musste.“
Mutet eher unwahrscheinlich an. Tatjana besteht darauf, Edis blonde Haare „zurückzufärben“, weil sie sonst Edis Mutter Lena mit der „Geburtstagstorte bewirft“. Ratlosigkeit, wie diese Szene im Krankenhaus zu beenden ist…?
„Da wie dort roch es schlecht, man atmete flach und schaute zu Boden.“
Hübscher Satz. Tatjana erinnert sich an die Zeit vor der Emigration nach Deutschland, an eine inner-ukrainische Emigration, von Mariupol nach Kriwoj Rog, wo die Familie sich im (illegalen) Spirituosenhandel betätigt und danach strebt, „wie die Amerikaner zu leben“. Aber das Lebensgefühl ist nicht viel anders in Mariupol.