Joseph und seine Brüder I
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Besprechung
Moritz T.
„Wie sahen diese Tiere aus, und worin unterschieden sie sich von denen, die wir halten und hüten? In gar nichts.“
Joseph der Hirte, unser Zeitgenosse. Der Autor bringt die Zeitverhältnisse in Perspektive.
„Es musste so sein, weil man einem Gotte diente, dessen Wesen nicht Ruhe und wohnendes Behagen war, einem Gotte der Zukunftspläne, in dessen Wille undeutliche und grosse, weitreichende Dinge im Werden waren, der eigentlich selbst, zusammen mit seinen brütenden Willens- und Weltplänen, erst im Werden und darum ein Gott der Beunruhigung war, ein Sorgengott, der gesucht sein wollte und für den man sich auf alle Fälle frei, beweglich und in Bereitschaft halten musste.“
Der Geist des jungen, im Aufbruch begriffenen Gottes färbt ab auf Jaakob. Schönes Wort vom Sorgengott. Hat der göttliche Aufbruch aber auch etwas imperialistisches?
Die Geschichten Jaakobs
Markanter Kontrast: Behäbiger, fabel-hafter Ton, Erzählung aus der Tiefe der Vergangenheit – und zugleich verstörende Konzepte: Die Auflösung der Ich-Grenzen, das Ineinanderfliessen von Gegenwart und Vergangenheit, beispielsweise, oder der jüdische Gott als ein noch in Entstehung begriffenes Wesen.
Die Erzählung bewegt sich mal in grösseren, mal in kleineren Schritten vorwärts, durchaus nicht chronologisch. Wir erfahren zunächst von der innigen Liebe Jaakobs zu seinem Sohn Joseph, der sich bei seinen Brüdern unbeliebt macht. Wir lesen, wie Jaakob sich mit seiner Sippe bei Schekem niederlässt, und seine älteren Söhne die Entführung ihrer Schwester Dina durch den «Burgsohn» Schekems, Sichem, zum Anlass für ein Gemetzel an der Bevölkerung der Stadt nehmen. Jaakob lässt das geschehen; der Patriarch gibt das Heft aus der Hand.
Erst danach nimmt sich der Autor Zeit für eine ausführliche Rückblende in die Jugendzeit Jaakobs, in ausgesuchten Details seine Segnung durch Vater Isaak schildernd, und wie der Bruder Esau um eben diese Segnung betrogen wird, in Sätzen satt mit Sinn und Sinnlichkeit. Jaakob muss die Rache Esaus fürchten und flieht mit Hilfe der Mutter Rebekka, bei deren Bruder Laban er Asyl findet.
Der mittellos angekommene Jaakob erarbeitet sich mit Fleiss und Geschick eine Stellung an Labans Hof, die es ihm erlaubt, um die Hand der schwarzäugigen Rahel, seiner Cousine und jüngeren Tochter Labans, anzuhalten. Laban aber stellt langwierige Bedingungen und schiebt dann Jaakob zunächst die ältere, hässliche Tochter Lea unter. – Als er nach 25 Jahren wieder heimlich abzieht, nimmt Jaakob eine Grossfamilie und viel Vieh mit. Seine Liebe gilt aber fast ausschliesslich seiner zweiten Frau Rahel und seinem elften Sohn Joseph, den Rahel nach vielen unfruchtbaren Jahren unter grossen Schmerzen geboren hat.
Der Roman führt Konfliktszenarien zwischen den Generationen vor, aber vor allem zeigt er die Rivalität zwischen den Geschwistern, wobei der Startvorteil des Erstgeborenen wichtig, aber nicht immer entscheidend ist.
Der Gott Jaakobs, der Gott seines Vorfahren Abrahams, ist ein Gott einer kleinen Minderheit. Jaakob baut auf ihn, und schreibt ihm seine Fortune zu. Seine Ehefrauen Lea und Rahel schwanken noch im Glauben; die alten Hausgötter ihres Vaters Laban sind greifbar, man kann vor ihnen niederknien. Jaakobs Gott dagegen ist unsichtbar.
„(…) und ausserdem müssen wir, gerade was die Lippenbildung betrifft, den Blickwinkel von Land und Leuten wahren.“
Detaillierte, aparte Schilderung von Josephs Gesicht im Mondlicht.
„Sieh nun einmal an, ich werde dir eine kleine Rechnung aufmachen.“
Schön knapp am Rande der Satire gehalten das dann folgende Beispiel für Zahlenmystik, mit der Joseph seine vielleicht doch etwas heidnische Zuneigung zu den Gestirnen zu verwedeln sucht.
„(…) und ist etwa des Menschen Ich überhaupt ein handfest in sich geschlossen und streng in seine zeitlich-fleischliche Grenzen abgedichtetes Ding?“
„Des Menschen Ich“: Der Genitiv bringt das „Ich“ in eine relative Perspektive. Anlass für die Überlegung ist die Erzählung Eliezers, an der Joseph keinen Anstoss nimmt, auch wenn „des Alten Ich sich nicht als ganz fest umzirkt erwies, sondern gleichsam nach hinten offenstand, ins Frühere (…).“ – Kontinuum statt Individuum.
„Die Strecke hat kein Geheimnis. Das Geheimnis ist in der Sphäre.“
Die zeitliche Abfolge der Ereignisse bildet die Strecke. Rund um die Ereignisse bilden sich für die Menschen aber Sphären: sie verändern Aspekte, sie vergessen, sie verdichten, sie verwechseln. Aus der Strecke entsteht ein Kugel-Raum, indem sich alt und neu, Göttliches und Menschliches mischen. Die Menschen eignen sich die Vergangenheit, die Geschichte an, sie machen sie bewohnbar.
„Da schrak Esau zusammen, dass er beinah die ganze Tracht hätte fallen lassen und die Rahmbrühe überschwang aus dem Topf vom Zucken und Zutappen und ihn besudelte.“
Schöner Satz, mit der prächtigen „Tracht“ in alter Bedeutung.
„Er verkannte keinen Augenblick, dass er einen Gesegneten zum Mitarbeiter vortrefflich brauchen konnte.“
Laban, ein „düsterer Mann, den Göttern nicht wohlgefällig“, nimmt seinen Neffen Jaakob bei sich auf, Arbeit gegen Kost und Logis. Wie wichtig es ist, „gesegnet“ zu sein! Und es scheint keine Rolle zu spielen, dass Jaakob sich die Segnung auf betrügerische Weise erschlichen hat.
„Er hatte Heimweh nach den Weiden von Beerscheba; aber die Anmassungen der Stadt, die seinen Hirtensinn bedrückten, liessen ihn jetzt beinahe schon Labans Hof als Heimat empfinden, wo er übrigens ein paar schwarzer Augen zurückgelassen, die ihm in eigentümlichster Bereitschaft entgegengeblickt hatten und mit denen es, wie ihm schien, höchst Wichtiges auszumachen gab.“
Laban präsentiert Jaakob mit Stolz die Stadt Charran, aber Jaakob steht nicht der Sinn danach. Vor dem Ganz-Fremden, der Stadt, wird wird für den Flüchtling das Halb-Fremde, der Hof seines Onkels, zum Orientierungspunkt, nicht zuletzt, weil dort Cousine Rahel wartet. – Fremd ist die Stadt ihm aber auch, weil dort fremde Götter herrschen.
„‚Aber das Grösste und Heiligste ist ohne Zweifel die Zukunft, und sie tröstet das bedrückte Herz dessen, dem sie verheissen ist.'“
Jaakob sinniert über die niederrangige Stellung seines Gottes in der gegenwärtigen Götter-Welt. Aber sein Gott hat Grosses vor, auch mit ihm. Ein Gott der Zukunft.
„Zur anderen Hälfte aber und im geheimen Herzen war sie noch götzendienerisch und dachte zum mindesten: Sicher ist sicher.“
Jaakobs Lage an Labans Hof wird zunehmend unhaltbar. Labans Söhne trachten dem reichgewordenen Flüchtling nach dem Leben. Jaakob bereitet mit seinen Frauen Lea und Rahel die Flucht vor. Rahel stiehlt dem Vater die Götzen, damit sie nicht ihm nicht helfen können, den Reisenden auf die Spur zu kommen, und vielmehr ihnen Schutz auf dem Weg gewähren. So legt der Autor 1. Mose 31, 19 aus: „Und Rahel stahl ihres Vaters Hausgott.“ Die „Stuttgarter Erklärungsbibel“ vermag diese Stelle nicht so recht zu erklären.
Als dann Laban Jaakobs Zug eingeholt hat, stehen die gestohlenen Götzen im Mittelpunkt des Streites. Guten Gewissens sagt Jaakob, dass er sie nicht habe, er weiss nichts von Rahels Diebstahl, die auf den Figuren sitzt während Labans Suchaktion, und behauptet, sie könne nicht aufstehen – sie habe ihre Tage. So erzählt es auch die Bibel, 1. Mose 31, 35.
„Die Angaben aber, exakt wie sie sind, bedürfen eine nach der anderen der Erläuterung, damit die Sachlage deutlich werde und recht aufgehe, was eng zusammengeschrumpft durch Gewesenheit.“
„Durch Gewesenheit“: allein durch diesen Tempus-Modus werden Ereignisse komprimiert, und die Anstrengung der Erzählung wird benötigt, um sie und ihre Potentiale versuchsweise wieder zu entfalten; hier die Geschichte von Josephs Jugend.
„Der junge Joseph“
Joseph wächst als verwöhnter Liebling seines Vaters Jaakob heran, der den Sohn seiner geliebten, verstorbenen Zweitfrau Rahel über alle Massen begünstigt, und damit den Boden bereitet für den Streit zwischen den Brüdern, der eskaliert, als Joseph ohne Hemmung den Brüdern von seinen Träumen erzählt, die ihn über sie erheben. Die Brüder werfen Joseph in eine Zisterne und wollen ihn sterben lassen. In den drei Tagen in der Grube kommt Joseph zur Besinnung und gesteht sich eine Mitschuld an seinem Schicksal ein. Kaufleute retten Joseph und nehmen ihn als Sklaven mit. Die Brüder tauchen das eigentlich für den Erstgeborenen bestimmte Erb-Kleid, das der spätgeborene Joseph Jaakob «abgelistet» hatte, in Tierblut und senden es dem Vater zu, der prompt den Tod Josephs beklagt.
Die Trauer Jaakobs ist fundamental. Er hadert mit seinem Gott, Knecht Elizier muss ihn ermahnen, nicht zu sündigen. Jaakob überlegt, wie er selbst in eine Gottes-Rolle schlüpfen könnte, um Joseph neu zu erschaffen. Die Grenzen Mensch/Gott, aber auch die Grenzen Mann/Frau werden in den Monologen Jaakobs aufgelöst. Endlich richtet sich seine Energie gegen die zurückgekehrten Bruder; Jaakob ahnt dunkel, dass sie am Verschwinden seines Lieblings schuld sind; zugleich weiss er um seine Mitschuld am Verhängnis. Grossartige Schilderung dieser vergifteten Atmosphäre.
„Es war gut, das Notwendige einzusehen und Gottes Gemütsart dabei zu durchdringen. Denn sein Zahlenwunder war nicht ganz tadellos, und der Mensch musste es verständig ins gleiche bringen (…).“
Der junge Joseph übt sich unter Anleitung Eliezers in Zahlenmystik. Das System ist nicht ganz perfekt, des Menschen Phantasie und Kreativität erst vollenden das Werk und machen es stimmig.
„Der Mensch denkt sich nichts aus.“
Überlieferungen haben einen wahren Kern; aber können sie darum quasi zum Beweis für darum herum gesponnene Geschichten werden? – Elizier erzählt Joseph vom Urvater Abr(ah)am, der „Gott entdeckte“, und zum grossen Rivalen des Herrschers Nimrod wurde, der ihn in einem Ofen oder auf einem Scheiterhaufen verbrennen wollte. Das traditionelle „Fest des Scheiterhaufens“ belegt für Joseph die Fabel.
„‚Du vergisst allzu leicht den Unterschied zwischen einem Knirps und einem Gimpel, obgleich er einer der wichtigsten ist. Nicht einmal im Traume will ich mir einfallen lassen, auszuplaudern, auch nur für einen Deut, von dem was Du Dir hast einfallen lassen im Traum.'“
Joseph erzählt seinem kleinen Bruder Benjamin vom Traum seiner Himmelsfahrt und der göttlichen „Gnadenwahl“. Erstaunlich, wie der pausbäckige Achtjährige das alles aufnimmt und kommentiert. Er sichert hier Joseph Verschwiegenheit zu.
„Seine Vertrauensseligkeit war eine Art von Verwöhnung, die ihn trotz unzweideutigster Gegenzeichen beredete, dass alle Menschen ihn mehr liebten denn sich selbst und dass er also keine Rücksicht auf sie zu nehmen brauche.“
Joseph zeigt sich im wunderbaren Kleid, das sein Grossvater einst quasi als Mitgift seiner Tochter Lea mitgegeben hatte, und das Jaakob gehütet hatte, um es dem würdigen Erstgeborenen weiter zu schenken. Joseph hat mit Schmeichelworten den Vater dazu gebracht, das Kleid ihm zu schenken, obwohl einiges dagegen spricht, ihn als Erstgeborenen zu anerkennen. Sofort stolziert er im Lager umher, sich nicht darum kümmernd, dass er Neid und Hass erregen wird. – Microsoft Word kreidet dem Autor die Verwendung des Superlativs „unzweideutigst“ in diesem schönen Satz an.
„(…) allgemeine Schicksalbetrachtsamkeit (…)“
Eliziers schwer zu deutendes Nicken, als er Joseph im herrlichen Kleid sieht, dem bedeutsamen Erbstück, dem Vater „abgelistet“.
„Dan und einige andere, auch Ruben, vertraten die These, ‚Sich neigen‘ führe eine geringere Bedeutung als ‚Sich beugen‘.“
Joseph hatte den Brüdern seinen Traum erzählt, in der Mittagspause beim Ernten; rund um seine geradestehende Garbe in der Mitte neigten sich die Garben der Brüder. Sie beraten, welche Strafe für die Anmassung angemessen wäre, und die eher grobschlächtigen Männer verlieren sich dabei in hermeneutischen, vom Autor genüsslich ausgewalzten Subtilitäten, bis Sebulun sie unterbricht: jetzt täten sie gerade das, was Joseph von ihnen verlangt habe, nämlich den Traum zu deuten. Dazu hatten sie sich aber nicht herablassen wollen.
„In der Höhle“
Der Streit zwischen den Brüdern eskaliert, als sich Joseph den zehn anderen im Erb-Kleid nähert. Die Bande verprügelt und wirft ihn in den Brunnen, auf dass er verrecke. Drei Tage verbringt Joseph ohne Aussicht auf Rettung im Brunnen, „in der Höhle“. 14 Seiten der Selbst-Reflexion. Joseph ist auf sich zurückgeworfen, und der Eitle und Verwöhnte gesteht sich ein, dass er den Wurf in die Grube provoziert hatte. Zum ersten Mal versetzt er sich in die anderen. Warum hatte er den eifersüchtigen Brüdern von seinen Träumen erzählt? Warum sich im Glitzerkleid gezeigt? Obwohl er im Grunde wusste, dass er damit die Brüder aufs Blut reizen würde. Folgt er einer höheren Fügung?
Der Autor lädt diese Szene mit viel Bedeutung auf; in Mose 37, 18-33 wird nur knapp geschildert, dass Joseph von den Brüdern des Kleides beraubt und in die Grube geworfen wird.
Bei Thomas Mann ist die Gewalt, die die Brüder Joseph antun, ausführlich geschildert, mit deutlichen Hinweisen auf eine Vergewaltigung (s. auch den Kommentarband, p. 897 / p. 902). Nach drei Tagen verlässt Joseph die Grube wieder, eine Analogie zur der Auferstehung von Jesus. – Die Kaufleute holen ihn aus der Grube, wie durch einen Geburtskanal, Joseph ist durch die Tage im Dunkel und in Todesnähe geläutert und wie neu geboren.
„‚Er halte sich an meine Lippen! Was ich denke in meinem Herzen, ist meine Sache.'“
Jaakob hadert mit Gott, nachdem ihm das blutige und zerrissene Kleid Josephs überreicht worden ist. Sein Knecht Elizier mahnt ihn, nicht zu sündigen. Jaakob verteidigt sich: er wolle gern mit den Lippen den Herrn loben; dass der Herr auch „im Herzen“ liest, sei nicht seine Schuld, er hätte den Menschen besser diese Zuflucht gelassen.