Kopfkissenbuch
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Besprechung
Moritz T.
„Monate“
Zu Beginn Aufzählung von nur neun Monaten. Dann aber die Feststellung, dass alle Monate ihren Reiz haben. Ins Detail geht die Autorin dann zunächst aber nur bei drei Monaten, vor allem beim Neujahrsmonat. Im ersten Kapitel noch vollständige Auflistung der vier Jahreszeiten. – Natur- und Kulturelemente (zB Festtage) machen den Reiz der Monate aus.
„Es ist unbeschreiblich rührend, wie er nun jedes Mal mit dem Schwanz wedelt und bellt, wenn man ein mitfühlendes Wort an ihn richtet. Doch Tränen vergiessen bei solchen Worten eben nur Menschen.“
Ende der ersten etwas längeren Episode, die von der Verbannung des kaiserlichen Hundes – er hatte, allerdings auf Geheiss, die kaiserliche Katze attackiert – berichtet, und von seiner Wiederaufnahme in Gnaden, nachdem er verprügelt und für tot gehalten worden war. – Nur eine Seite zuvor zeigt der Hund, dass er durchaus Tränen vergiessen kann.
Kapitel 13
„Ebenen
Mika-Ebene, Ashita-Ebene. Sono-Ebene“
Einige Mini-Kapitel mit solchen Listen, von Bergen über Märkte zu Kaisergräbern. In den Anmerkungen steht, dass die Namen in diesen Aufzählungen bei den zeitgenössischen Lesern Assoziationen hervorriefen und Erinnerungen an Passagen aus „Legenden, Erzählungen oder Gedichten“. – Als heutiger Leser nimmt man diese Erklärung und die Listen einfach zur Kenntnis.
„Frauen, die sich ohne weitere Ambitionen mit ihrem kleinen, häuslichen Eheglück zufriedengeben, halte ich für kurzsichtig und töricht.“
Am Hofe erfährt frau „etwas von der Welt“, Etiketten, Ritualen, Spielregeln der sexuellen Avancen.
„Langweiler, die unter widerwärtigem Lachen viel leeres Geplapper von sich geben.“
Eine Art Negativ-Knigge: eine ganze Anzahl von Unarten, die man unterlassen sollte, die „unausstehlich“ oder „unerwartet“ sind. Leute, die einem die Zeit stehlen, figurieren prominent; die Höflichkeitsregeln machen es einem nicht einfach, solche Leute loszuwerden.
„Ebenso unausstehlich ist es, wenn er sich mit dem Hut an den Binsenrohr-Jalousien verfängt und sie zum Rascheln bringt.“
Der Geliebte kommt heimlich zu Besuch und verrät seine Anwesenheit in ungeschickter Weise. Oder gar: „da fängt er an zu schnarchen.“ – Hübsch idiosynkratische Massregeln.
„Angetan mit Beinkleidern in Purpur und einem Ausgehgewand in ganz feinem Gelborange sowie Untergewänder aus Rohseide in einer Kombination von durchsichtigem Weiss und Rot (…)“
Immer wieder die detaillierte Beschreibung der Kleider, die über Rang und Geschmack Auskunft geben. Beliebt sind die Farben violett, purpur, rot. – In diesem Fall hilft die noble Gewandung wenig, die vom Morgennebel feucht geworden ist, zudem ist das „Schläfenhaar“ des Mannes zerzaust, ein „blamabler Anblick“.
Kapitel 40
„Insekten“
Die Aufzählungslust macht auch nicht vor den Insekten halt, mit zuweilen überraschenden Wertungen. „Die Strohmotte ist sehr ergreifend“, die Fliege dagegen „ein abscheuliches Biest“. (Erinnert das nicht an Eckhard Henscheids rigorose Urteile in „Welche Tiere und warum das Himmelreich erlangen können?“)
„Unpassend ist es, wenn Schnee auf die Hütten niederen Volkes fällt, und um das Mondlicht, das bei ihnen hineinscheint, ist es auch schade. Zum schönen Schein des Vollmonds passt es auch nicht, wenn Lastkarren umherfahren. Oder wenn gelbbraune Rinder solche Karren ziehen.“
Das Leben als ästhetisches Phänomen. – Als ob die Menge Mondschein begrenzt ist und über den Hütten der Armen vergeudet wird.
Kapitel 77
Immer wieder dreht sich das Kopfkissenbuch um den Besuch von nächtlichen Verehrern bei den Hofdamen, um den Austausch von Galanterien, das Flirten. In diesem Kapitel wird unsere Heldin beim Kommandeur und Direktor in der Kaiserlichen Kammerbehörde Tadanobu verleumdet, der sie forthin meidet. Sei Shonagon kontert das Meiden mit Ignorieren, das den Kommandeur schliesslich derart reizt, dass er einen Brief an sie richtet, den sie zunächst auch ignoriert, um ihn schliesslich mit einer kurzen Replik zu versehen, der den Kommandeur und dessen Kumpane in Verlegenheit stürzt, weil ihnen partout kein angemessenes Duplik-Gedicht einfallen will. Damit hat sie sich beim Kommandeur rehabilitiert. Die Episode wird zum Palastgespräch, bis hinauf zur Kaiserin.
„Unter den violetten Blumen habe ich allerdings einen kleinen Vorbehalt gegen wilde Iris.“
Im Kapitel „Grossartiges“ schwärmt die Autorin für „alles, was violett ist“, mit dieser kleinen, idiosynkratischen Ausnahme, die sie nicht weiter begründet.
Kapitel 110
„Was sich anders anhört als sonst
Am Neujahrstag das Rumpeln der Wagen, aber auch das Krähen der Hähne. Im Morgengrauen ein Hüsteln, und selbstverständlich auch sonstige Laute.“
Breite Registratur, bis hin zur Akustik der (Tages-) Zeit.
„Es ist wunderbar, wie sehr die Kaiserin sich freut, wenn sie hört, dass eine ihrer Hofdamen, welche es auch sei, im Kaiserpalast Lob und Anerkennung findet.“
Aber noch ein bisschen wunderbarer ist es, wenn sich unsere Heldin einmal mehr dermassen auszeichnet. Sei Shonagon hatte mit einer schlagfertigen Antwort dicht- und flirtwillige Hofleute im 6. Rang nächtens in die Flucht geschlagen; das hatte sich bis zum Kaiser rumgesprochen.
„Was jämmerlich wirkt
(…) Schränke mit Türen, die sich nach aussen öffnen.“
Tja, so ändern sich die Geschmäcker. In der Financial Times vom 22.5.2022 gibt es in House & Home die klare Anweisung:
„What makes a stylish wardrobe? First tip: steer clear of sliding doors“
Subscribe to read | Financial Times (ft.com)
Auch wenn dem Ratgeber selbst nicht so klar ist, was an Schiebetüren so jämmerlich sein soll. Aber er bevorzugt genauso klar Türen, die sich nach aussen öffnen lassen, wie Sei Shonagon 1000 Jahre früher und 9500 Kilometer östlich Schiebetüren bevorzugte.
Kapitel 176
Zu Beginn ihrer Dienstjahre als Hofdame war Sei Shonagon alles andere als souverän im Umgang mit der Kaiserin und hochgestellten Hofleuten, wie sie in diesem Kapitel schildert. Sie stürzt von einer Verlegenheit in die nächste, weil sie nicht weiss, wie sie sich verhalten soll. Die Kaiserin scheint sie auch ein wenig zu plagen mit ihrer Bitte um ständige Anwesenheit, die natürlich ein Befehl ist. – Ein Niesen aus der Küche im falschen Moment führt zu einem Mini-Drama: Sei Shonagon will der Kaiserin gerade versichern, dass sie sie mag, als das Niesen hörbar wird, das sonst am Hof „mit aller Kraft“ unterdrückt wird, es gilt als unschicklich. Und es entlarvt, wie uns eine Anmerkung aufklärt, nach einem Aberglauben eine Lüge. In einem kleinen Briefwechsel (selbstverständlich in Gedichtform) verhandeln dann die Kaiserin und ihre Hofdame die heikle Angelegenheit.
Kapitel 226 „Shintoistische Heiligtümer“
Buddhistische Rituale spielen eine bedeutende Rolle im Leben der Hofleute; aber – wie im heutigen Japan auch – schliesst das eine Neigung zum Shintoismus nicht aus, s. auch Kapitel 269, oder die Berücksichtigung von taoistischen Orakelsprüchen (Monoimi=unglücksverheissende Tage oder Himmelsrichtungen).
„Wahrscheinlich mangelt es Männern ganz allgemein an Fingerspitzengefühl und an der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.“
Eher Feststellung als Vorwurf.
„‚Die ‚grosse Langeweile‘ in deiner Antwort gestern hat mir sehr missfallen. Alle haben deine Wortwahl heftig getadelt.'“
Für einmal hat sich Sei Shonagon, die sich ansonsten anmutig aus den Dialog-Affären zieht, im Ton vergriffen. Die Kaiserin hatte der abwesenden Shonagon ein Gedicht zukommen lassen, in dem sie ihre Sehnsucht nach der Hofdame und ihre Langeweile zum Ausdruck brachte. Sei Shonagon hatte in ihrem Antwortgedicht die Langeweile der Kaiserin aufgegriffen – ein Affront gegen die anderen Hofdamen, die die Langeweile der Gebieterin offenbar nicht zu vertreiben verstehen. Nach der Rückkehr Shonagons wird sie von der Kaiserin getadelt.