Lektionen
Fügen Sie Ihre Bewertungen hinzu
Besprechung
Gaby K.
Moritz T.
Bettina P.
Teil I
Wir schreiben das Frühjahr 1986, die radioaktive Wolke driftet von Tschernobyl gegen England. Roland ist eben ohne grosse Begründung von seiner Frau Alissa verlassen worden und bleibt mit Baby Lawrence allein zurück; der noch kaum publizierte Lyriker befindet sich in einer auch ökonomisch desparaten Situation. Von dieser Zeitebene blendet die Erzählung zurück in Rolands Kindheit und Jugend – im Mittelpunkt die sexuelle Initiation (aus heutiger Perspektive: der sexuelle Missbrauch) durch seine Klavierlehrerin. Im Hintergrund die Kubakrise, die der Teenager via Radio und Zeitungen verfolgt.
Alissa macht Halt bei ihren Eltern, wie sie Roland in einer Postkarte mitteilt. Anlass für eine Rückblende in das Nachkriegsdeutschland, wo sich Alissas Eltern kennengelernt hatten. Warum weiss Roland so gut Bescheid über diese Zeit? Die Schwiegermutter hatte Alissa und ihm ihre Tagebücher zugänglich gemacht, die von der Faszination für die Weisse Rose und den Blauen Reiter berichten. Das wirkt zunächst etwas aufgesetzt, gesucht – welche Funktion hat diese Ebene im Roman?
Sorgfältig, gekonnt erzählt, mit stimmigen Details und brillanten Formulierungen.
„Manche Jungen behaupteten, sie sei verrückt, aber das bezweifelte er.“
Hübsch, wie dieser Satz einen (Innen-) Raum erzeugt, Distanz zwischen Held und Umwelt.
„Dann gingen seine Erinnerungen in Träume über.“
… und von der Erinnerung an die erste pubertäre Ejakulation hangelt sich der Erzähler über den Traum, der dem Weg von Spermien zu einer Eizelle folgt, zu einer nächsten Zeitebene, die den Helden mit einem schreienden Baby zeigt. Aparter Übergang.
„Und er wusste auch, dass es unhöflich gewesen wäre, sich mit der Hand den Mund zu wischen (…)“
Die Klavierlehrerin hat den Jungen überraschend geküsst. Der weiss, was sich gehört.
„Er wusste aus Erfahrung, dass der einzige Ausweg bei Gefühlen der Nichtzugehörigkeit darin bestand, sich etwas Einfaches vorzunehmen und es zu erledigen.“
hübsch eingestreute Preziose. Vergleiche auch: „Selbstbewusstheit war der Tod eines jeden Notizbuchs.“, p. 49
„Er ass aus Dosen und achtete auf das Haltbarkeitsdatum, Ende April war die Grenze.“
Roland, mit dem Baby sitzengelassen von seiner Frau, richtet sich im Schatten von Tschernobyl ein. Warum spielt das Haltbarkeitsdatum der Dosen eine Rolle? Eher müsste es das Herstelldatum sein, wenn die Nahrungsmittel nicht kontaminiert sein sollen.
„So ungestüm kannte sie sich sonst gar nicht.“
Der Roman schweift in die Vergangenheit zurück und erzählt – weitgehend aus ihrer Perspektive – wie Jane, die Mutter von Rolands Frau Alissa, deren Vater kennengelernt hatte, auf einer journalistischen Recherche-Reise nach München, auf den Spuren der „Weissen Rose“. Hals über Kopf verliebt sie sich in Heinrich, der zum Umfeld der Widerstandsgruppe gehörte, und zieht bei ihm ein. – Jane hatte ihre Tagebücher aus der Zeit Tochter und Schwiegersohn zugänglich gemacht, quasi die Begründung für den detaillierten Exkurs in die unmittelbare Nachkriegszeit.
„(…) die Arme hochgeworfen, eine Haltung vertrauensvoller Kapitulation.“
Lawrence schläft in einer Stellung, in der viele Babies schlafen. Schön eingefangen von McEwan.
„Es war entweder urkomisch oder tragisch, wie die Menschen ungerührt ihrem Alltagstrott nachgingen, obwohl sie doch wussten, dass es das hier gab. (…) Was für eine Fassade. Was für eine Scheinheiligkeit.“
Roland, überwältigt nach dem ersten Sex mit seiner Ex-Klavierlehrerin.
Teil II
Zweimal waren sich Alissa und Roland begegnet; Roland fand Alissa attraktiv, aber hat sich nicht um sie bemüht, sie war jeweils auch liiert. Zwei Jahre nach der letzten Begegnung ergreift Alissa die Initiative und taucht unangekündigt mit Wein und Zutaten für eine Mahlzeit in Rolands Haus auf. Genauso ohne Vorwarnung verlässt sie ihn dann Jahre später. In diesem Teil II erfahren wir, warum: sie ist entschlossen, ihre Karriere als Schriftstellerin voranzutreiben, Mann und Kind behindern sie nur. Gerade als sie ihr erstes Buch veröffentlicht, trifft Roland sehr zufällig auf Alissa, in Berlin kurz nach dem Mauerfall. Ein kurzes Gespräch, aber es entsteht keine neue Verbindung. Sie wird eine erfolgreiche Autorin; Roland erhält jeweils die neuesten Bücher vom Verlag zugesandt, in denen er vergeblich nach Spuren seiner Existenz sucht.
Roland geht eine Liebes-Beziehung ein mit seiner langjährigen Freundin Daphne, eine Zeitlang funktioniert die Patchwork-Familie ganz gut, aber Roland macht nie den entscheidenden Schritt, Daphne zu heiraten. Am Ende dieses zweiten Teils verlässt auch sie ihn. In Rolands (Hinter-)Kopf spukt immer wieder die Klavierlehrerin herum, auch wenn er sie jetzt Jahrzehnte nicht gesehen hat. – Wir bekommen die Zeitgeschichte am Rande mit, Tony Blairs Wahlerfolg, zuvor der mindestens retrospektiv unsäglich naiv wirkende Optimismus der westeuropäischen Linken nach dem Mauerfall.
„Letztlich wurde er Tennislehrer in den öffentlichen Courts des Regent’s Park.“
Etwas kursorische Darstellung der Wanderjahre des jungen Erwachsenen. Wir verstehen: ruhelos, ziellos, Autodidakt; vielleicht verstört durch die frühe sexuelle Erfahrung? Dann, noch auf derselben Seite: „Das Stadium der Reife. (…) Jetzt verfügte er über alles, um ein Intellektueller werden zu können, zumindest aber Journalist.“
„Das war Irrsinn, selbst die Worte ‚Victoria Line‘ wirkten erotisch aufgeladen.“
Roland zieht – mit der Tube – um, stürmisch verliebt in Alissa. Wieder einer dieser McEwan-Formulierungen.
„‚Diese Klavierlehrerin…‘ Alissa schwieg kurz, dann erklärte sie: ‚Die hat dein Hirn neu verdrahtet.'“
Roland erzählt zum ersten Mal von der Sex-Geschichte mit seiner Klavierlehrerin. Alissa nennt eine mögliche Kern-These des Romans beim Namen.
Kapitel 6
Etwas merkwürdiger Einstieg: drei Jahre nach dem Verschwinden von Alissa erhält Roland Besuch von Detective Inspector Browne. Offenbar wird weiterhin der Verdacht gegen Roland aufrechterhalten, dass er Alissa ermordet habe. Browne selbst sagt, dass er das nicht glaube. – Wie auch immer – wir machen den Zeitsprung mit: Das Leben mit Lawrence ohne Partnerin und Mutter Alissa ist längst Alltag, dem Roland nun durch eine arg konstruierte Geschichte für eine Weile entfliehen kann. Er landet in Berlin. Bei McEwan darf es dann gern auch gleich ein historischer Moment sein: er streunt durch die Stadt kurz nach dem Mauerfall. Ein Cliffhanger am Ende des Kapitels: Roland sieht „sie“ in einem Café und nähert sich ihr. Zuvor in diesem Kapitel: Seine Schwiegermutter erzählt Roland vom Besuch der Tochter, die ihr Weglaufen von Mann und Kind (etwas dünn) damit begründet, nicht die Fehler und Muster der Mama zu wiederholen.
„Roland bedauerte schon, ins Café Adler gekommen zu sein.“
Ein höchst unwahrscheinliches Wiedersehen mit seiner weggelaufenen Frau in einem Berliner Café, das nicht grad in Harmonie abläuft. Und dann so ein vorgestanzter Satz.
„Im Frühjahr 1997 gab es einen Todesfall in Rolands Familie.“
Eigenartige Formulierung – Rolands Vater ist gestorben. Ausdruck der Distanz, die der Erzähler übernimmt?
„Erst die Gegenwart des Sohnes, als Zeuge vor dem Leichnam, liess die Wellenfunktion kollabieren und tötete den Vater.“
Eine brillante Szene. Ohne seine Präsenz im Bestattungsinstitut bliebe das Leben des Vaters in der Schwebe, gefühlsmässig. Zugleich kann Roland natürlich nicht nicht dort sein. Schrödingers Katze im Alltag.
Teil III
Sohn Lawrence löst sich von seinem Vater, und gründet eine eigene Familie. Zur Enkelin Stefanie entwickelt sich eine schöne, leicht kitschig gezeichnete Beziehung. Ein zuvor unbekannter Bruder Rolands meldet sich. Es kommt zu einer Begegnung und offenen Aussprache mit seiner ehemaligen Klavierlehrerin, die ihre erotische Obsession mit dem Teenager als „Wahnsinn“ bezeichnet, und zu einer späten Aussöhnung mit Alissa, die ihn (und den gemeinsamen Sohn) Jahrzehnte gemieden hatte. McEwan zieht die Erzählfäden zusammen, Roland hält – zuweilen etwas langfädig – Rückblick auf sein Leben.
Im Zentrum von Teil III steht aber die wieder aufgenommene Beziehung zu Daphne, die Roland endlich heiratet. Ihr spätes Glück wird aber überschattet von Daphnes tödlicher Krankheit.
„War er mit Madame Cornell Flaubert und seinem Frédéric einen Schritt voraus gewesen oder einen Schritt zurück?“
Roland vergleicht seine eigene „éducation sentimentale“ mit derjenigen Frédérics, der der ebenfalls deutlich älteren Mme Arnoux verfällt. – Eine von vielen Anspielungen auf andere Romane.
„Die störrische Treue der Dinge, exakt so zu bleiben, wie man sie hinterlassen hat.“
Wieder eine dieser McEwan’schen Formulierungen, die hier an Nabokov denken lässt. Die Stühle stehen so, wie Roland und der langsam sich ablösende Teenager Lawrence sie zurückgelassen hatten.
„‚Ich war einfach wie besessen. Ich musste dich haben. Der reinste Irrsinn.'“
Nach Jahrzehnten ohne Kontakt stellt Roland seine ehemalige Klavierlehrerin zur Rede. Sie schildert ausführlich ihre Täterinnen-Sicht auf den sexuellen Missbrauch. Man begreift, dass das für Roland von grosser Wichtigkeit ist. „‚Ich bedaure den Wahnsinn, dem ich Sie ausgesetzt habe.'“ (p. 524)
„Wie schwer es fiel, sich heute Graffiti und grüne Haare vorzustellen, wo sie so coole, gebildete Westeuropäerinnen geworden waren.“
McEwan nimmt den ost-deutschen Faden seiner Geschichte wieder auf; Roland hatte Freunde in der damaligen DDR, die ihn jetzt in London besuchen. Die Rede ist von den beiden Töchtern, die nach der Wende im Westen Deutschlands ihren Eltern schwierige Teenagerjahre bescherten. – Warum passen Graffiti und grüne Haare nicht zu coolen, gebildeten Westeuropäerinnen?
„Und so kam er zu guter Letzt zum eigentlichen Wendepunkt (…), zu dem Jungen, der inmitten der Kubakrise auf sein Rad stieg und zu Miriam fuhr, um zwei Lehrjahre der Erotik und des Herzens anzutreten; eine Zeit, die mit einem lachhaften Finale endete, der Woche im Schlafanzug, die für ihn das Ende der Schule bedeutete und sein Verhältnis zu Frauen auf immer deformierte.“
Der über siebzigjährige Roland hält Rückblick.
„Wen kümmerte es schon, was ein gewisser Mr Baines vom Lloyd Square in London über die Zukunft der offenen Gesellschaft oder über das Schicksal des Planeten dachte.“
Der betagte Roland macht sich Gedanken über den Lauf der Welt, im Rückblick auf sein Leben.