
Mars
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Besprechung
Moritz T.
Anmerkungen zu einzelnen Stellen
„(…) anderseits ist er eine seelische Krankheit, von der ich nur sagen kann, es sei ein Glück, dass sie endlich ausgebrochen sei. Ich meine damit, dass sie bei allem, was ich von zu Hause auf meinem unerfreulichen Lebensweg mitbekommen habe, das bei weitem Gescheiteste gewesen ist, das ich je in meinem Leben getan habe, dass ich Krebs bekommen habe.“
Zweierlei fällt auf: wie umstandslos hier eine somatische zu einer psychischen Krankheit gemacht und damit instrumentalisiert wird. Und wie umständlich der Satzbau ist.
Erster Teil, Kapitel I
Dem Gesetz der innerfamiliären Harmonie wird alles untergeordnet. Der Vater gibt üblicherweise eine Meinung vor, der dann die anderen bereitwillig und erleichtert folgen. Kontroverse Themen gelten als „schwierig“ oder „unvergleichbar“ und werden ausgeklammert. Aber Diskussionen werden auch vermieden bei banalen Alltagsdingen, wie beim Festlegen eines Termins. Die Harmonie könnte gestört werden. Der Sohn fügt sich nahtlos ein, er ordnet ausserfamiliäre Erfahrungen mit Nein-Sagern und kontroversen Standpunkten als exotisch ein, oder als Zeugnis von fehlender Reife. Sie stellen das familiäre Weltbild nicht in Frage.
Nicht ganz in dieses Bild passt, dass die Mutter zu einer Gegnerin des erst 1971 in der Schweiz eingeführten Frauenstimmrechts wurde, zu einer radikalen gar. Das ist nun allerdings eine kontroverse Position, zwar nicht innerhalb der Familie, der Vater ist natürlich derselben Ansicht, aber bestimmt im Umfeld der Familie. Wieso tabuisierte man die Frage nicht einfach als «schwierig»?
„Ich stamme aus einer der besten Familien des rechten Zürichseeufers“, „meine Famile ist ziemlich degeneriert“, „ich bin vermutlich erblich vorbelastet“; „Natürlich habe ich auch Krebs, wie aus dem vorher Gesagten selbstverständlich hervorgeht.“
Der Erzähler übt sich gleich in Zynismus, den er, wie sich noch zeigt, wirklich gut beherrscht.
„Es musste alles harmonisch sein; etwas Problematisches durfte es nicht geben – denn dann ging die Welt unter.“
Eine ganz auf Harmonie getrimmte Familie. Dissens ist nur ein Missverständnis, das man aus dem Weg räumt. Meinungsverschiedenheiten sind nicht vorgesehen. Der Sohn lernt nicht streiten, er lernt nur Strategien der Streitvermeidung.
Das setzt eine umfassende Kontrolle der Emotionen voraus, die man sich bei einem Kind schwer vorstellen kann.
„Ich möchte das Wort ’schwierig‘ als nahezu magisch bezeichnen: Man sagte ’schwierig‘ über eine Sache, als sagte man einen Zauberspruch darüber, und die Sache war verschwunden.“
Effiziente Vermeidung von heiklen Themen in der Familie. Alles was „schwierig“ ist, kann nicht weiter diskutiert werden. Der Vater verfügt über eine weitere erfolgreiche Strategie: Dinge lassen sich nicht vergleichen. Ohne Vergleich ist auch keine Bewertung möglich.
Schwierig und nicht vergleichbar: zu dieser Erkenntnis muss man erst einmal gelangen. Leute, die sich auf kontroverse Themen einlassen, verfügen einfach noch nicht über diese intellektuelle Reife.
Die Mutter war energisch gegen das Frauenstimmrecht, auch, als es bereits eingeführt war.
Da das Frauenstimmrecht ja nun eingeführt wurde und es im Frauenverein, in dem die Mutter auch Mitglied war, befürwortet wurde, hat sich die Mutter in gewisser Weise doch in einer Rebellion geübt – entgegen der Darstellung, dass Rebellion in der bürgerlichen Welt tabu war.
„Das Schlimme war der Umstand, dass die Welt, in der ich aufwuchs, keine unvollkommene Welt sein durfte, und dass ihre Harmonie und Vollkommenheit obligatorisch waren.“
Verlogenheit und Heuchelei als ein Kennezichen der bürgerlichen Welt.
Der Erzähler spekuliert, dass seine Eltern ihrerseits nicht in Harmonie mit ihren Eltern aufwuchsen, weswegen sie es bei ihren eigenen Kindern mit vorgetäuschter Harmonie versucht haben.
Dieser Gedankengang ist nicht konsistent mit dem Vorherigen: Entweder das ganze Umfeld ist auf „verlogene Harmonie“ bedacht, wie noch eine Seite zuvor insinuiert, oder es ist doch nur eine familienspezifische Angelegenheit.
„(…) dass sie in ihren extremsten Formen (wie dies nun bei mir der Fall zu sein scheint) sich auch als neurotisch bedingte Krankheiten, zum Beispiel Krebs, manifestieren können.“
Krebs neurotisch bedingt. Keine These, sondern eine Feststellung. Ursache: Schäden durch falsche Erziehung. –
„(…) einen ganz repräsentativen Fall darstellt.“
Die Situation im Elternhaus mag zwar etwas extrem gewesen sein, aber der Ich-Erzähler hält sie dennoch für repräsentativ. – Haben wir es hier mit einer Autobiographie zu tun, oder mit einem Roman? Der Verlag verzichtet auf eine Genre-Bezeichnung, bei Orell Füssli wird „Mars“ als Romann verkauft.
„Darauf, dass im Staate Dänemark (und auch in anderen europäischen Staaten) etwas faul ist, kommt man offenbar erst, wenn die Krankheit noch ärger ist.“
Offenbar verortet der Erzähler den bürgerlichen Niedergang zuvorderst in Europa. Wieso nimmt er etwa die USA aus?
„Wir taten nichts und sagten nichts und vertraten nichts und hatten keine Meinung und verbrachten daher unsere Zeit damit, uns über die Leute zu amüsieren, die lächerlicherweise etwas taten oder sagten oder meinten.“
Nihilismus der eigenen Art dieser Zürcher Goldküstenfamilie.
„In meiner von zu Hause aus übernommenen viktorianischen Zimperlichkeit vermied ich es sogar, von ‚Bein‘ und von ‚Hosen‘ zu sprechen.“
Der Ich-Erzähler als Gymnasiast, guter Schüler, aber Turnen ist das Fach, das er gar nicht mag. Weil er seinen Körper nicht mag, sich nicht gern bewegt und ihn am liebsten ignoriert. Schwieriges Unterfangen, aber er tut alles dafür, das Körperliche und erst recht das Sexuelle auszublenden, sogar in seinem Wortschatz. Er sieht sich als distinguierter Zuschauer des Lebens, da stört ein Körper nur.
„rares Biest“
So muss der Ich-Erzähler seinen Mitschülern erscheinen. Harmlos, immer abseits stehend, nach dem „Höheren“ strebend. Er hat einen Status als Aussenseiter in der Klasse, als solcher ist er akzeptiert. – Gibt es aber nicht auch Schüler, denen es ähnlich geht wie ihm?
Bericht über die Zeit in der Mittelschule in Zürich; seine Ängste vor Scham, Rotwerden, dem Körperlichen (daher war das Turnen das einzige schlimme Fach), vor Schmerz, vor dem Arzt mit seinem Instrumenten, vor Spritzen und vor Blut
Es ist dramaturgisch durchaus gekonnt, wie der Erzähler immer noch weitere Dinge aufzählt, die schlimmer für ihn waren als die zuvor genannten.
„Ich ahnte, dass mein Vater reich war …“
Es ist seltsam, dass er den Reichtum immer wieder primär bei seinem Vater verortet, zumal dieser im Unternehmen seines Schwiegervaters arbeitet. Das scheint darauf hinzudeuten, dass die Mutter auch aus reichem Haus kommt. Es irritiert vor allem deshalb, weil der Erzähler sich nichts sehnlicher wünscht, als von den überkommenen bürgerlichen Clichés wegzukommen, dabei scheint er selber in seinem Denken in einer patriachalischen Welt verstrickt zu sein.
„Der Zeitpunkt war gekommen, an dem alle schon längst eine Freundin hatten.“
Es ist bezeichnend, wie der Erzähler immer wieder überzeichnet. Er sieht sich fortwährend als alleiniger Außenseiter, der mit niemandem sein bedauernswertes Schicksal teilen kann. Dabei ist es schlicht nicht glaubwürdig, dass „alle“ eine Freundin hatten.
„Es war nicht der Tanzkurs, der nicht stimmte, ich war es, der nicht stimmte.“
In seltenen Momenten blitzt so etwas wie Selbsterkenntnis auf. Dies allerdings auch immer in einer etwas weinerlichen, schicksalsergebenen Attitüde.
„Diese Haltung war wohl typisch für unsere Familie Welt: je toter, desto lieber.“
Verbitterung, die der Erzähler gekonnt in einen Aphorismus kleidet (davon gibt es später noch mehr).
„Ich meine hier die geläufigsten christlichen Tugenden wie Enthaltsamkeit, Entsagen, Sanftmut, Dulden und vor allem das unmissverständliche Nein zu fast allen Aspekten des Lebens.“
Es ist verblüffend, wie der Erzähler mit seiner Bildung, Belesenheit und Intelligenz immer wieder zu sehr eindeutigen, plakativen, geradezu naiven Urteilen kommt, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man die Dinge auch ganz anders interpretieren kann.
„Die Sexualität aber gehörte nicht in meine Welt, denn die Sexualität verkörpert das Leben; ich war aber in einem Haus aufgewachsen, wo das Leben nicht gern gesehen war, denn bei uns zu Hause war man lieber korrekt als lebendig.“
Ein besonders „schwieriges“ Thema. Kleiner Widerspruch, bislang nicht thematisiert: ohne Sex gäbe es auch den Ich-Erzähler und seine ganze Familie nicht, sie könnten ihr lebloses Leben gar nicht leben.
Kapitel V
Gegen Ende der Gymnasialzeit rutscht der Ich-Erzähler in eine langanhaltende Depression, wie er rückblickend erkennt. Er versucht zunehmend verzweifelt den Schein der Heiterkeit und Gelassenheit, des «Drüberstehens», aufrecht zu erhalten, vor den anderen, aber auch vor sich selbst. Aber seine Defizite plagen ihn. Anders als im Gymnasium beschäftigen sich an der Uni alle ringsum mit dem «Höheren», mit Kunst und Literatur. Das hält die anderen Studenten nicht davon ab, eine Freundin zu haben. Er hat keine (und auch keine Freunde). Das Schreiben von Kurzgeschichten oder Theaterstücken scheint eine Art Ventil zu sein. Der Ich-Erzähler als Künstler? Das kommt ihm vom Image her zupass. Aber dann die Frage: wird man nur zum Künstler, weil man ein Neurotiker ist? Das will und darf er nicht sein, er ist korrekt und anständig und funktioniert tadellos, er simuliert weiterhin Normalität.
Überraschenderweise sind es dann die Eltern, die ihn zum Psychotherapeuten schicken.
„Wenn ich also vor mir selbst in irgendein gültiges Schema hineinpassen wollte, so musste ich mich eben zur Schar dieser professoralen Vogelscheuchen rechnen, die alle unfruchtbar und akademisch belesen waren.“
Der Erzähler hat Talent zu humoristischen Formulierungen. Bezeichnend ist aber auch sein Bedürfnis nach Klarheit (das er weiter hinten auch noch ausführt) und das Bestreben, die Dinge in einen größeren Zusammenhang einordnen zu wollen.
Ich war nicht fähig einzusehen, dass nicht die Umstände an meinem Versagen schuld waren, sondern dass ich selbst der Versager war.“
Hier wieder einmal eine sehr treffende und ehrliche Bemerkung. Allerdings vermittelt er in den meisten seiner übrigen Ausführungen genau das Gegenteil.
„Ich bekam also eine erste Ahnung davon, dass die Kunst vielleicht nur als ein Symptom für mangelnde Vitalität anzusehen sei, …“
Hier zeigt sich der Drang des Erzählers nach beständiger Verallgemeinerung bzw. der Suche nach allgemeinen Wahrheiten, im Bestreben, den Dingen auf einer höheren Ebene einen Sinn zu geben.
„Der Zahnarzt kuriert ja auch nicht die Empfindung des Zahnwehs, sondern den kranken Zahn, womit das Zahnweh automatisch aufhört; uns so soll der Psychiater auch nicht den Minderwertigkeitskomplex heilen, sondern die Minderwertigkeit, damit die Komplexe überflüssig werden.“
Interessante, symptomatische Bemerkung, die tief in die psychische Verfasstheit des Erzählers blicken lässt. Er nimmt die Minderwertigkeit für bare Münze und scheint sich keine Rechenschaft darüber abzulegen, dass das Problem in der Selbstwahrnehmung liegen könnte. Es ist verblüffend, wie schnell er bei seiner überbordenden Selbstreflexion an Grenzen stößt, die er offenbar nicht zu überwinden in der Lage ist.
Kapitel VI
Etwas überraschende Wende in der Erzählung: der ausgesprochen unsportliche Ich-Erzähler entdeckt das Turnen für sich und hat Freude daran. Er etabliert sich innerhalb des Romanistik-Seminars als erfolgreicher Theaterstückschreiber, und schliesslich avanciert er (in seinem Elternhaus) zum Gastgeber von Studenten-Festen. Er redet erstmals von «Freunden».
Unterschwellig aber dauert das Elend fort. Die Veränderungen und Fortschritte bleiben oberflächlich, und verstärken nur das Normalitäts-Alibi. Er kann sich jetzt noch besser belügen, dass mit ihm alles in Ordnung sei.
„Ich machte aus meiner Untugend eine Tugend (wie es eigentlich immer alle Menschen tun, denn letztlich sind fast alle Tugenden uneingestandene und stilisierte Laster)“
Hier wieder der Drang zur Verallgemeinerung, die er hier gekonnt aphoristisch in Worte fasst.
„Ich trank nur Kaffee und plauderte.“
Das Gespenst des Romanischen Seminars. Maximale Präsenzzeit, aber nicht etwa um zu studieren, sondern um die Zeit totzuschlagen. Das Studium besteht aus Pausen, das Leben aus Warten. Aktive Gestaltung des Lebens, genuines Interesse am Studienstoff, Job, um Geld zu verdienen – Fehlanzeige.
Der Ich-Erzähler wundert sich rückblickend (und mit ihm der Leser), worüber er überhaupt plaudern konnte, weil ja so viele Themen für ihn tabu waren. Jedenfalls war seine Haltung wenn immer möglich eine unernste, ironische, unverbindliche. Er hatte viele Kontakte, aber offenbar kam nie jemand auf die Idee, mit ihm etwas ausserhalb des Seminars zu unternehmen.
„Solange ich mir sagen konnte, dass ich normal sei, glaubte ich nicht, mir ernstlich Sorgen um mich machen zu müssen. Unter dieser Normalität konnte ich mir aber keine andere als bürgerliche Normalität vorstellen, und innerhalb dieser altvertrauten Norm war ich tatsächlich leidlich normal.“
Keine Freunde, keine Hobbies, keine Aktivitäten ausserhalb von Uni und Elternhaus, durchgehende Passivität: das dehnt den Begriff der „bürgerlichen Normalität“ schon etwas.
Man würde ja dann erwarten, dass es im Umkreis der Familie an Zürichs Goldküste viele junge Männer und Frauen gibt, denen es ähnlich geht. Bislang lesen wir davon nichts.
Natürlich kann man Elemente einer „bürgerlichen Normalität“ in dieser Familie ausmachen: Sex als Tabuthema; grundsätzlich positive Haltung zur Kirche, solange nicht Gott oder Religiosität ins Spiel kommt; Kommunikationslosigkeit in der Familie; Geld hat man, darüber redet man nicht; ein ausgeprägtes, aber verhohlenes Klassenbewusstsein; der Kommunismus und alles Linke ist Böse; immer Anstand und Form wahren etc. Aber zur Normalität gehört halt auch, dass diese Haltungen immer wieder unterlaufen werden, dass sich die Vitalität dann doch Bahn bricht, in mehr oder minder tolerierten Formen. Das passiert aber in dieser Familie nicht.
„Es geschah nun ab und zu, dass ich Gäste zu mir einlud und mich in der Rolle des Gastgebers vervollkommnen konnte.“
Es wirkt wie ein dramaturgischer Kniff, dass es immer mal wieder zu überraschenden Wendungen kommt, weil das zuvor Beschriebene sich als deutlich übertrieben oder einseitig dargestellt erweist – dadurch erhält der Bericht eine schillernd-inkonsistente Note.
„ … zudem hatte ich, da mein Vater vor ein paar Jahren gestorben war, ein kleines Vermögen geerbt, …“
Es ist symptomatisch, dass er den Tod des eigenen Vaters, dem er ja einen gewichtigen Anteil an seiner Misere zuweist, erst im Nachhinein beiläufig erwähnt. Es geht um ihn, den Erzähler, und dahinter verblasst alles andere.
Der Erzähler erklärt seinen Tumor als Reaktion auf die vielen nicht geweinten Tränen, die sich in seinem Hals gesammelt hätten. „Das ganze angestaute Leid, dass ich in all den Jahren in mich hineingefressen hatte, ließ sich auf einmal nicht mehr in meinem Inneren komprimieren; es explodierte aufgrund des Überdrucks und zerstörte bei dieser Explosion den Körper.“
Der Erzähler deutet seinen Krebs als die Fortsetzung seines psychischen Leidens. Interessant, dass er an dieser Lesart keinerlei Zweifel aufkommen lässt und an ihrer Eindeutigkeit offenbar nicht rüttelt. Dies deutete sich allerdings auch schon lange vorher an.
„Ich finde, jedermann, der sein ganzes Leben lieb und brav gewesen ist, verdient nichts anderes, als dass er Krebs bekommt. Es ist nur die gerechte Strafe dafür.“
Der Krebs war aus der Retrospektive vorgezeichnet, ja der Ich-Erzähler litt lange schon an seelischem Krebs, bevor er körperlich ausbrach, als „gerechte Strafe“. – Die Krankheit durchbricht die lange Phase der Resignation.
Krebs: die Krankheit, über die man nicht spricht.
„Ich hatte nicht ‚Kontaktschwierigkeiten‘ gehabt, sondern ich hatte mein ganzes bisheriges Leben in einer vollkommenen Beziehungslosigkeit zugebracht.“
Eine zuhause eingeimpfte Verweigerung dem Leben gegenüber. – Beiläufig haben wir erfahren, dass der Vater, doch eine dominante Figur im Leben des Ich-Erzählers, gestorben ist. Welche Emotionen löste das wohl aus? – Und wie steht der Ich-Erzähler zu seinem Bruder?
„Es studieren eigentlich nur Leute Phil. I, die nicht wissen, was sie sonst Gescheites tun sollen (was sicherlich kein Intelligenzbeweis ist).“
Immer wieder gezielte kleine Provokationen (nach den vielen Jahren des Bravseins).
„Denn um eine Maturitätsprüfung zu bestehen, braucht man nicht sonderlich gescheit zu sein; meist genügt dafür ein reicher Vater. Für das Studium an der Philosophischen Fakultät I braucht man aber erst recht keine Intelligenz; im Gegenteil schadet sie eher.“
Der Erzähler gefällt sich zunehmend in seinem Zynismus, und er verpackt sie nach wie vor gekonnt in seine Aphorismen.
„Dasselbe, was ich vom Krebs gesagt habe, gilt auch für die Neurose. Auch die Neurose ist nichts Schönes und bringt grosses Leiden mit sich; aber auch wenn es sich nicht mehr um eine körperliche Krankheit handelt, sondern um eine seelische Krankheit, ist das Wissen darum, woran man leidet, für den Patienten viel eher ein Trost als eine zusätzliche Belastung.“
Endlich erhält die Krankheit einen Namen! Und was einen Namen hat, das kann man benennen, bekämpfen, oder zunächst sogar begrüssen, wie es dieser Patient tut.
Lange versuchte sich der Ich-Erzähler einzureden, dass sein Verhalten und sein Befinden im Spektrum des Normalen liegt. Dies gelang ihm immer wieder, weil für den Vergleich mit anderen Teilbereiche herauspickte, in denen er gut abschnitt. Er hatte beispielsweise ein Studium mit Doktortitel abgeschlossen.
Seine normales Leben war aber ein zunehmend qualvolles, vereinsamtes. Darum bringt es eine grosse Erleichterung zu begreifen, dass er doch nicht in allen Belangen normal ist.
„… Hier war ein Mensch von seiner frühesten Jugend an konsequent zerstört worden, und die Folgen dieser Zerstörung saßen nun beim Psychotherapeuten auf dem Polstersessel …“
Der Erzähler sieht sich als Produkt seiner ihn zerstörenden Umwelt (im Gegensatz zu vorher, wo er sich kurzzeitig zu der Aussage durchringen konnte, er selbst sei der Versager).
„Ich bin zeit meines Lebens die traditionell lustige Person gewesen, und die Lustigkeit war denn auch oft meine Etikette …“Oder „Ich konnte zwar jedermann zum Lachen bringen, aber ich selbst lachte nie.“
Auch hier wieder eine überraschende Wendung in der Darstellung seiner selbst. In vorherigen Beschreibungen hat er sich eher als verklemmten Langweiler hingestellt (z.B. in der Schule), der es kaum geschafft hat, andere Menschen anzusprechen.
„die Liebe natürlich.“
Das Wichtigste hatte dem Ich-Erzähler zeitlebens gefehlt. Love is all you need. Liebe meint immer auch Sexualität; der (in den 1970er Jahren) populäre Wilhelm Reich wird als wichtige Referenz angeführt.
„In meinem Elternhaus war es üblich anzunehmen, dass die Dinge von vornherein „schwierig“ seien; ich selbst neige eher zur Ansicht, dass die Dinge einfach sind und man bloß keine Lust hat einzusehen, wie einfach sie tatsächlich sind.“
Auch hier wieder der Drang nach Erklärungen, sogar solchen, die einfach sind. Heutzutage würde man eine solche Haltung als stilbildend für den Populismus auffassen.
„Der verkrampfte Mensch gleicht somit einem Einzeller, der sich nur noch einzieht und klein macht, aber nie mehr ausdehnt. Dass man davon Krebs bekommt, liegt auf der Hand.“
Einmal mehr eine einfache Wahrheit.
„Selbst wenn ich an meiner jetzigen Situation zugrunde gehe, wird meiner ein viel menschlicher Tod gewesen sein als der des Negers, der am Ende wie ein unbewusstes Stück Vieh verreckt.“
Wie landet der Erzähler bei diesem aus heutiger Perspektive etwas merkwürdigen Vergleich? Zeiht er sich der Privilegierung, selbst in der seelischen und körperlichen Not? Auch wenn er hinweggerafft wird wie „Millionen Inder und Neger“, hat er die Möglichkeit der Reflexion, diesen Bericht abzulegen. Damit aber auch: Sein Tod wird nicht ganz so sinnlos gewesen sein.
Keine ganz überzeugende Reflexion, etwas weit hergeholt.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Leben einzigartig gewesen sein soll (denn die Goldküste ist sehr lang und bis zum Platzen überbevölkert; und dass viele normale Menschen am Gestade des Zürichsees wohnen, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen).“
Seinem Leiden liegt in jedem Fall eine grundlegendere Gesellschaftskrankheit zugrunde.
„Heutzutage ist man allerdings zivilisierter und greift nicht mehr direkt zu Messer und Gabel, um die eigenen Kinder aufzufressen (denn die Tischmanieren sind sehr kompliziert am Ort, von dem ich herstamme), sondern man sorgt einfach durch eine dementsprechende Erziehung dafür, dass die Kinder dann Krebs bekommen.“
Der Erzähler steigert sich immer weiter hinein in seine Theorie der Bösartigkeit des Bürgerlichen.
Zweiter Teil „Ultima Necat“
Der Ich-Erzähler setzt an zu einem Rundumschlag mit groben verbalen Keulen, gegen die bürgerliche Gesellschaft, das Christentum, Zürich, die Schweiz. Er sieht sich als Opfer eines Systems, das auch viele andere gefährdet, wenn auch sein Fall besonders krass sein mag. Es ist ein lebensfeindliches System, das in der Konsequenz sexuelle Beziehungen verunmöglicht. Anerzogene Impotenz.
Neurose und Krebs sind die logischen Folgen seiner Erziehung, die auf Vernichtung zielt, bei gleichzeitiger Wahrung von Form und Fassade. Dass er sie nicht einfach resigniert hinnimmt, dass er dagegen revoltiert, ändert nichts an seinem Unglück. Aber er bewahrt sich so einen Rest von Ich-Identität in seiner zertrümmerten Seelenlandschaft.
„Die menschliche Ehre besteht aus Sexualität; die Sexualität ist der Stoff, aus dem die Ehre gemacht ist.“
Und immer wieder die Überhöhung des Sexuellen.
„Es kümmert mich im gegenwärtigen Zustand auch gar nicht so sehr, wer alles an der anonymen Übermacht beteiligt ist und in welchem Ausmaß, denn ich glaube, dass zumindest heute und hier, in Zürich, in der Schweiz, in unserem politischen System, jeder durch dieses feindliche Prinzip bedroht und geschädigt worden ist.“
Details spielen keine Rolle, aber das feindliche Prinzip gilt.
„Ich bin kaputt, aber ich paktiere nicht mit denen, die mich kaputt gemacht haben.“
Hierin unterscheidet sich der Ich-Erzähler von seinen Eltern, hoch neurotisch wie er selbst, aber unverändert in lebensunfähiger Resignation ergeben bis zum bitteren Ende.
„Mein Leben ist die Hölle; ich weiss es, und ich stehe dieser Tatsache ohne Verschleierungsmanöver gegenüber.“
Radikaler Ausbruch nach Jahrzehnten der Schauspielerei.
Der Ich-Erzähler „flucht Gott“, die Gesellschaft, das System, er findet warme Worte für die „Konsequenz“ einer RAF-Terroristin, sieht sich im KZ, vergast durch das elterliche Erbteil in ihm. Keine Metapher ist ihm radikal genug.
„Ich bin jetzt im KZ und werde durch das „elterliche“ Erbteil vergast.“
Die Überzeichnung kulminiert in abstrusen Vergleichen.
Dritter Teil «Ritter, Tod und Teufel»
In diesem letzten Teil dominieren soziologisch-historische, philosophische und zuletzt auch theologische Überlegungen. Wie ist die Krankheit, wie ist das Unglück des Autors aus übergeordneter Perspektive einzuordnen? Der Ich-Erzähler sieht sich als Revolutionär, der mit seiner Krankheit und seinem Bericht darüber zu einer Revolution beiträgt, ja «zum Untergang des Abendlandes». Die Ruhe als Bürger-Ideal wird als das «Böse» identifiziert, das «das Sexuelle verbietet».
Die Eltern werden «schuldig» gesprochen am Tod des Sohnes, weil sie die Ruhe, das Böse so sehr verinnerlicht und an ihren Sohn weitergegeben haben. Und doch sind sie nur Teil einer Maschinerie. Am Ende ist (der christliche) Gott das Böse, mit seinem Absolutheitsanspruch, der nicht durchzuhalten ist. Originelle Gedanken, dass ein Gott immer ein regionaler sein muss, und früher und später auch durch einen anderen Gott abgelöst können werden muss. Der Ich-Erzähler identifiziert sich mit Satan, der gegen diesen Gott rebelliert. Schluss-Satz: «Ich erkläre mich im Zustand des totalen Kriegs.»
„Mein Unglück ist lediglich ein wahllos herausgegriffener Teil des allgemeinen Unglücks und steht nur für das Generische und Uninteressante. Was interessiert, ist nur meine individuelle Rebellion gegen dieses Unglück.“
Als Leser kann man das nicht unbedingt bestätigen. Die Beschreibung des Unglücks vermag zu interessieren.
„Was nicht funktioniert, ist ein Unglück; was funktioniert, ist Glück.“
Ein weiteres Beispiel für das Bestreben des Erzählers, sich ein einfaches, griffiges, in gewissem Sinne reduktionistisches Weltbild zurechtzulegen.
„Die Schweizerische Kreditanstalt ist auch der Inbegriff des Zürcherischen, des Bürgerlichen und des Schweizerischen in seiner schlechtesten Erscheinungsform; aber dieses bösartig Zürcherische, Bürgerliche und Schweizerische befindet sich nicht in einem aus Stein gebauten Haus, das man explodieren lassen kann, sondern diese bösartige Substanz steckt mir in den Knochen, und die Knochen werden nicht mit Dynamit geheilt.“
Phantasien, die SKA, wo das Geld des Vaters und jetzt sein Geld liegt, in die Luft zu sprengen, und die Mutter zu töten.
„(…) sie waren nur um ein kleines bisschen verwerflicher als andere verwerfliche Familien aus denselben bürgerlichen Kreisen auch.“
Nur ein (kleiner) quantitativer Unterschied zu anderen Eltern, kein qualitativer. Es scheint dem ich-Autor sehr wichtig, dass er die ganze Zürcher Bourgeoisie auf die Anklagebank setzen kann. Aber die Familie des Ich-Erzählers erscheint wie eine Karikatur einer Goldküsten-Familie: Anstand, Fassade und Ruhe sind hier alles, sie ersticken das Leben. Dominiert bei anderen Familien aus dieser Klasse nicht viel mehr eine Doppelmoral (die man natürlich auch beklagen könnte), unter der die Vitalität gar nicht nicht so sehr leidet? Oder ist diese Karikatur das eigentliche Abbild dessen, was die bürgerliche Familie im Kern ausmacht? Ruhe als erste Bürgerpflicht, selbst wenn es das Leben kostet? Oder: gerade weil es das Leben kostet, weil man das Leben hasst?
„… denn nur der sensible Mensch empfindet die Schlechtigkeit seiner Gesellschaft so qualvoll deutlich, dass er sie in Worten auszudrücken und durch die Formulierung seiner Kritik eine mögliche Verbesserung hervorzurufen vermag.“
Hier kommt es dann auch zu narzisstischen Anklängen,
„Meine Großmutter war nichts Feines, gewiss nicht; vielleicht war sie sogar ein Schwein.“
Ein kleiner Ausflug ins Primitive.
„Ich behaupte, dass der Umstand, dass man mich umgebracht haben wird, weiterschwelen und letztlich eben diese Welt, die mich umgebracht hat, zu Fall bringen wird. (…) Eine Gesellschaft, deren Kinder aber daran sterben, dass sie diese Gesellschaft verkörpern, macht es nicht mehr lange.“
Eine letzte grosse Mission, vielleicht auch die einzige Mission, die der Ich-Erzähler jemals hatte. Prophetische Worte: Sein Tod, und natürlich: sein Bericht über diesen Tod, wird zum Tod dieser Gesellschaft beitragen.
„Als einen passiven Revolutionär verstehe ich mich insofern, als ich mit meiner Geschichte, mit meinem Leiden und vielleicht auch mit meinem Tod eines der vielen Elemente darstelle, die dazu nötig sind, dass der Mechanismus der Revolution ins Rollen gerät.“
Der Erzähler sieht sich mit seinem Bericht auf einer Mission.
„… habe ich gesehen, dass beide Gegner, Gott und ich, zwar mit derselben Waffe kämpften, eben mit Krebs, der den Körper des Widersachers vergiftet und zersetzt, und dass zwar beide mit derselben Taktik kämpften, aber mit unterschiedlichen Motiven. Mein Motiv habe ich als ein flammendes Herz erkannt, Gottes Motiv eher als das eines dumpfen, bösen Ressentiment. Bei mir habe ich die absolute Notwendigkeit erkannt, bei Gott eher eine gewisse schläfrige und amorphe Bösartigkeit, mich im Rahmen eines allgemeinen Zerquetschungsprogramms gerade noch mitzuzerquetschen.“
Hier zeigt sich wieder ein narzisstischer Anflug, aber brillant formuliert und nicht unoriginell.