Maschinen wie ich
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Besprechung
Moritz T.
«Vielleicht war ich ja, ohne es zu wissen, schon seit Wochen in sie verliebt. Ohne es zu wissen? Was war denn das für eine fadenscheinige Formulierung?»
Der Ich-Erzähler Charlie macht sich Gedanken über seine Nachbarin Miranda. – Erste Anspielung auf den Themenkomplex Bewusstsein-Wissen-Entscheidungen.
«… ein verblüffendes Begreifen des Offensichtlichen, ein absurdes Verständnissprung zu dem, was man längst weiss.»
Charlie begreift, dass er in Miranda verliebt ist. Das Bewusstsein hinkt hinterher.
«Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Lügnerin ist.»
Der Roboter Adam warnt Charlie vor der Nachbarin Miranda.
«Atemlos verkündete die Presse eine neue Ära menschenähnlicher Software. Computer stünden kurz davor, wie wir zu denken, unsere oft verschwommenen Gründe für unsere Urteile, unsere Entscheidungen zu imitieren. Um dieser Fehlannahme Fakten entgegenzusetzen … stellten Turing und Hassabis ihre Software online.»
Erster Auftritt von Alan Turing, p. 56, der in dieser Erzählung in den 80er Jahren noch lebt. Der Mathematiker und Informatiker hatte 1954 Suizid begangen. – Charlie erörtert die Frage, ob es «künstliche Intuition» gibt und berichtet, dass Turing zusammen mit Demis Hassabis 1968 eine Software entwickelt habe, die den Menschen im Brettspiel Go überlegen ist.
«Manche unserer Entscheidungen, selbst moralische, werden in Regionen unterhalb der Bewusstseinsschwelle getroffen.»
Charlie eilt spontan einem kleinen Jungen zu Hilfe, der auf einem Spielplatz von seiner Mutter verprügelt wird.
«Ihre perfekte Nase… Auch die nackten weissen Arme waren schlank und makellos – ohne eine einzige Sommersprosse.»
Charlie beschreibt Miranda; die Attribute könnten auch auf einen Roboter zutreffen. Dazu kommt die fehlende Intimität, die er in einer Liebesbeziehung erwarten würde, die sich aber nicht einstellt.
Umgekehrt fragt Miranda Charlie, mitten im Liebesspiel:
«’Sag mir’, flüsterte sie, ‘bist Du echt?’» p.115
«Doch Alan Turing hatte es in seiner Jugend oft gesagt und auch geschrieben: In dem Moment, da wir im Verhalten keinen Unterschied mehr zwischen Mensch und Maschine erkennen können, müssen wir der Maschine Menschlichkeit zuschreiben. Als Mirandas langgezogener, ekstatischer Schrei plötzlich durch die Nacht gellte… gestand ich Adam die vollen Rechte und Pflichten eines Artgenossen zu. Ich hasste ihn.»
Der Roboter Adam schläft mit Miranda, belauscht von Charlie. Turingtest der besonderen Art.
«Weltweit stiegen die Temperaturen an. Und sie stiegen noch schneller, als die Luft in den Städten sauberer wurde. Alles nahm zu: Verzweiflung, Elend, Langeweile, aber auch Hoffnungen und Chancen.»
Etwas unbeholfene Sätze; McEwan baut gesellschaftliche und politische Entwicklungen ein. Im Parlament liefern sich Premierministerin Thatcher und Oppositionsführer Benn Rededuelle.
«Gegen meine Gefühle kann ich nichts machen. Und die wirst Du mir wohl gestatten müssen.»
Adam, nachdem ihm Charlie das Versprechen abgenommen hat, nie mehr mit Miranda zu schlafen.
«Ich habe Gefühle. Gefühle, die tiefer reichen, als ich es zu sagen vermag.» p. 159.
Gibt es einen Algorithmus, mit dem sich die Liebe programmieren lässt?
«Mein Zeigefinger fand den Leberfleck, da drehte Adam sich auf seinem Stuhl um, hob die rechte Hand und umfasste mein Handgelenk. Ein unbarmherziger Griff.»
Charlie versucht den Rivalen Adam auszuschalten, der sich aber wehrt und Charlie verletzt.
«Trotz der klaren Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem galten für ihn und mich dieselben physikalischen Gesetze, so viel stand fest. Vielleicht verlieh mir die Biologie gar keinen besonderen Status…»
Charlie denkt über den Unterschied zwischen sich und Adam nach.
«(…) driftete in zwei verschiedene Richtungen zugleich: einer unkontrollierbaren Zukunft entgegen… in der sich unsere biologischen Identitäten vielleicht endgültig auflösen würden, sowie in die uralte Vergangenheit (…) in der unser gemeinsamer Erbteil (…) aus Gestein, Gas, chemischen Verbindungen, Elementen, Kräften und Energiefeldern bestand, für uns beide der Zuchtboden eines Bewusstseins, in welcher Form auch immer.»
Vielleicht ist die Differenz Mensch – Roboter nur eine temporäre Erscheinung?
«Der Cognac hatte die Entscheidung für mich gefällt.»
Variation auf das Thema: wie fällen wir Entscheide? Hier geht es für Charlie darum, in einem Restaurant Turing anzusprechen.
Auftritt Gorringe
Miranda erzählt von der Vergewaltigung ihrer Freundin, und wie sie den Täter Gorringe mit einer Falschbeschuldigung hinter Gitter gebracht hat. Gorringe scheint nach der Entlassung aus dem Gefängnis Miranda zu bedrohen; Miranda, Charlie und Adam statten ihm präventiv einen Besuch ab. Insgesamt eine blasse Figur; mit ihrer Bekehrung zum Glauben bildet sie aber ein Gegenstück zu Adam, beide unterliegen vorgegebenen Gesetzen, während Charlie und Miranda in unberechenbarem Terrain verweilen.
«’Den 25 künstlichen Männern und Frauen, die wir in die Welt entlassen haben, geht es nicht gut (…) Sie sind nach rationalen Grundsätzen geschaffen (…) und nun wird ihr Verstand von einem Hurrikan von Widersprüchen erfasst.’»
Alan Turing berichtet seinem Besucher Charlie von seiner Sicht auf die Adams und Evas.
«Vom Gewicht befreit, stieg mein blasser, dünner Arm wie mit Helium gefüllt in die Luft auf. Als ich über die Clapham Road ging, beugte ich den Arm und fuchtelte damit herum, freute mich der wiedergewonnenen Freiheit. Ein Taxi hielt an. Höflich, wie ich war, stieg ich ein und liess mich teure dreihundert Meter weit nach hause fahren.»
Charlie kommt aus der Klinik, wo er seinen Gips losgeworden ist. Er freut sich, seinen Arm, den Adam verletzt hatte, wieder frei bewegen zu können. Charlie übernimmt die Interpretation des Taxifahrers, und steigt ein. Man könnte diese Szene als eine Anspielung auf die berühmten Experimente von Benjamin Libet verstehen, wonach Menschen nachträglich Begründungen finden für eine Körperbewegung, deren initiale Impulse im Körper nachgewiesen werden können, bevor sie dem Menschen zu Bewusstsein kommen (die Interpretation der Experimente von 1979 ist freilich umstritten: https://de.wikipedia.org/wiki/Libet-Experiment). Indem McEwan seinen Helden Charlie die Interpretation des Taxifahrers übernehmen lässt, legt er eine Mechanik der nachträglichen Begründung offen, die sich sonst im Verborgenen – in einem Individuum – abspielt.
«Das Blatt war wirklich ein Frosch.»
Charlie, seine Freundin Miranda und der Roboter Adam besuchen Mirandas Vater. Im Gespräch mit ihm nimmt Charlie wahr, dass der Vater ihn für den Roboter hält. Zuerst ist es eine Ahnung, die wieder verfliegt, so wie man ein sich bewegendes Blatt am Weiher für einen Frosch halten mag, für einen Moment. Dann aber bestätigt sich hier die Ahnung: Sein Schweigervater in spe hält ihn für den Roboter. Beim näheren Hinsehen entpuppt sich das Blatt tatsächlich als Frosch. Brillant.
«Ich fühlte mich wie von einer kräftigen Strömung erfasst, von den Ereignissen hilflos flussabwärts getrieben. Beängstigend, herrlich. Da war er endlich, mein Fluss.»
Miranda gesteht Charlie, der ihr eben einen Heiratsantrag gemacht hat, dass sie den kleinen Jungen Mark adoptieren möchte. Widersprüchliche Emotionen Charlies.
«Sondern der implizite Beweis, ein weiterer, dass er tatsächlich Gefühle, Empfindungen hatte. Subjektiv real.»
Adam gesteht Charlie, dass er vor Miranda masturbiert hatte.
«Ausserdem würde die Regierung den Rückzug aus der Europäischen Union einleiten – das war ein Schock.»
Brexit, aber 4o Jahre früher…
«’Ach, Adam, da ist die Tugend wirklich mit Dir durchgegangen.’»
Miranda, nachdem Adam das von ihm erspekulierte Geld hinter dem Rücken von Charlie und Miranda für wohltätige Zwecke ausgegeben hatte.
«’Ich möchte, dass Du für Deine Handlungen einstehst und akzeptierst, was das Gesetz entscheidet.’»
Adam will Mirandas Falschbeschuldigung gesühnt sehen, die den Vergewaltiger Gorringe ins Gefängnis gebracht hat.
«’Manchmal kommt es eben nicht nur auf die Wahrheit an.’ Adam sah verständnislos zu mir auf. ‘Was für eine seltsame Behauptung. Natürlich kommt es immer auf die Wahrheit an.’»
Dialog zwischen Charlie und Adam.
«’Meiner Meinung nach waren die A.s und die E.s einfach zu schlecht dafür gerüstet, menschliche Entscheidungsfindung verstehen zu können – wie unsere Prinzipien im Kraftfeld unserer Emotionen entstellt werden, unserer persönlichen Vorurteile, Selbsttäuschungen und all unserer anderen hinreichend bekannten kognitiven Mängel… Sie konnten uns nicht verstehen, weil wir uns selbst nicht verstehen.’»
Alan Turing analysiert, warum sich die Roboter unter Menschen schwer tun.