Mensch werden
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Besprechung
bheym
„Aber natürliche Selektion erzeugt nichts“
Wunderbar einfache Aussage, die auf den Punkt bringt, dass Selektion an sich kein konstruktiver Prozess ist
„Es ist nicht nur so, dass neue Merkmale immer durch ontogenetische Prozesse entstehen – die die Expression von Genen steuern und einschränken -, sondern die bei weitem häufigste Quelle neuer Merkmale besteht in den Änderungen der zeitlichen Abstimmung und der Art und Weise, wie bereits existierende Gene exprimiert werden und mit der Umgebung interagieren“
Ursprünglich habe ich die Aussage so verstanden, dass es nicht nur auf die Gene und deren Mutationen ankommt, sondern vor allem auf die ontogenetischen Prozesse, die steuern, wann und auf welche Art und Weise die Gene exprimiert werden. Wenn man den Satz jedoch genau liest, scheint die Aussage eine etwas andere zu sein: es kommt nicht nur auf die ontogenetischen Prozesse an, sondern auf die zeitliche Abstimmung usw., wie Gene exprimiert werden. Das finde ich etwas verwirrend, weil mein Verständnis war, dass die „zeitliche Abstimmung und die Art und Weise“ (der Genexpression) einen Teil der ontogenetischen Prozesse darstellen bzw. sie die ontogenetischen Prozesse sogar konstituieren. Der Satz suggeriert, dass die „zeitliche Abstimmung und die Art und Weise“ etwas Zusätzliches sind, was über die ontogenetischen Prozesse hinausgeht. Entscheidende Frage ist also: Was alles gehört denn nun zu ontogenetischen Prozessen und was nicht?
«Somit können auch relativ geringe Veränderungen der Art und Weise, wie Regulatorgene das ontogenetische Timing und die Plastizität arrangieren, gewaltige, hintereinandergeschaltete phänotypische Effekte haben – die nicht direkt in den Genen kodiert sind – während die sich entwickelnden Systeme miteinander und mit der Umgebung auf unerwartete Weise interagieren.»
Relative geringe genetische Differenz Menschenaffe – Mensch; die Schwelle aber ist entscheidend, nicht überwindbar – und diese Differenz dann Basis für exponentiell unterschiedliche Ausprägungen / Auswirkungen. Interessantes Argumentationsmuster. – Warum auf «unerwartete Weise interagieren»? Gibt es eine Standard-Projektion für Verhalten, das aus der genetischen Disposition ableitbar wäre? Es geht wohl eher um die Spannbreite der Interaktionen.
Geringe genetische Differenzen gibt es auch zwischen anderen Spezies, aber Regulatorgene werden dort nicht dieselbe entscheidende Rollen für sehr unterschiedliche Ausprägungen im Phänotyp haben. Warum? Ermöglicht die erhöhte Komplexität der Anlagen bei Mensch/Menschenaffen eine exponentielle Hebelwirkung?
Aussagen zu Intentionalität und andere Begrifflichkeiten
Was genau wird unter intentional verstanden? „Absichtsvoll“ oder allgemeiner „sich auf etwas Anderes beziehend“? Was ist prosoziales Verhalten? Eine Vorstufe von sozialem Verhalten? Auch hier fände ich eine präzise Fassung der Begrifflichkeiten sinnvoll, z.B. in einem Glossar
Es werden Kinder bis zum Alter von 6 Jahren betrachtet, weil sie dann in den meisten Kulturreisen erstmals als vernunft- und verantwortungsfähig gelten
Erstaunlich vage und pauschale Motivation, auch wenn sie durchaus plausibel erscheint; eventuell gibt es ja auch anderweitige etwa neurologische Erkenntnisse, die diesen Zeitraum motivieren
«Einzigartig menschliche Formen der Kognition und Sozialität entstehen in der menschlichen Ontogenese durch – und nur durch – unsere einzigartigen Formen soziokultureller Tätigkeit.»
Vygotskis Ansatz, der aber von Tomasello erweitert wird um einen evolutionstheoretischen Hintergrund.
«(…) deshalb einzigartige Formen an, weil die Individuen in der Lage sind, miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein «wir» zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient.»
Hmm, man denke an einen Ameisenhaufen oder an ein Wolfsrudel… das «wir» wohl ausgeprägter als beim Menschen. Und ob sich die soziomoralischen Werte am Ende als der entscheidende Unterschied erweisen…?
«(Ein Kind, das auf einer einsamen Insel aufwächst, hätte im Erwachsenenalter am Ende keine auch nur vage Ähnlichkeit mit einer kulturell kompetenten ‘Person’.)»
Leuchtet ein. Und wie sieht das mit einem Schimpansenjungen auf, das ohne Sozialverbund aufwächst? Ist der Rückstand auf die Norm dort wesentlich geringer?
«(…) ans selbständigen und sinnvollen Interaktionen mit Gleichaltrigen teilzunehmen (…)»
Wichtige Phase der Kinder mit drei Jahren. «Sinnvolle» Interaktionen dürfte es allerdings auch schon vorher geben, wie immer man «sinnvoll» hier definieren will.
„Allem Anschein nach war dieser LGV den heutigen Schimpansen und Bonobos viel ähnlicher als den heutigen Menschen.“
Hier geht es um die nicht nachvollziehbare Logik der Argumentation!
Worauf stützt sich diese Aussage? (Fossile Knochen) Sie bezieht sich auf welche Merkmale? (wohl vor allem anatomische)
„Offensichtlich verfügen wir … als Modelle des LGV“
Diese Offensichtlichkeit bedarf einer Erläuterung. Wie lässt sich zudem begründen, dass Schimpansen und Bonobos dennoch als Modelle genommen werden können.
«Was ihnen abgeht, sind menschenähnliche Fertigkeiten der geteilten Intentionalität (…)»
Menschenaffen aber tun sich doch zusammen, um gemeinsam zu jagen, einen Feind zu vertreiben, zur Fellpflege oder zum Spielen – wären das keine Formen von geteilter Intentionalität? P. 28 gibt darauf eine Teilantwort, Jagd als (nur) «individualistische Koordination».
EXEKUTIVE REGULATION
((plus p. 34, p. 39)) Sprachliches: Drei Abschnitte in drei Unterkapiteln sind so bezeichnet. Im Text wird dieser englische Fachterminus nicht nachvollziehbar mit den entsprechenden Termini verbunden.
«Was sie jedoch nicht taten, obwohl es sogar schon menschliche Kinder tun, war, ihre Handlungen und ihr Denken anhand der Perspektiven und Bewertungen von anderen in ihrer sozialen Gruppe zu überwachen.»
Etwas zweifelhafte Behauptung: ein Gorillajunges wird doch sehr wohl die Bewertung einer Handlung durch den Silberrücken in Rechnung stellen?
„Darüber hinaus deutete eine … erforderte.“
Sprachliches: Warum steht das Verb im Präteritum?
Wie können Verhaltensbeschreibungen heute lebender Schimpansen auf etwas für LGV „deuten“? Das ist keine Deutung sondern eine (durch Theorieelemente der Synthetischen Evolutionstheorie gestützte) Unterstellung
Frühmenschen, Selektion und Evolution: kooperative Individuen werden als Partner bevorzugt.
Erläuterung zu „perspektivische kognitive Repräsentation“ … (zum Beispiel als Stock und als Werkzeug) …
((p. 31/32))Hierzu liefert Tomasello ein Beispiel:
Für diese Unterscheidung das Wort ‚Stock‘ zu verwenden, ist widersinnig. Ein Stock ist ein Etwas unter instrumenteller Perspektive, also ein Werkzeug. Hier wäre wohl ‚Ast‘ angebracht. Ganz unten auf der Seite ist dann auch von einem toten Ast die Rede. Zudem ist es wenig hilfreich, wenn auf der folgenden Seite, das Beispiel mit dem Wort ‚Speer‘ weitergeführt wird.
Sehr gute Darstellung des sozial rekursiven Schlusses anhand des Beispiels, wie ein Mitglied dem anderen einen toten Ast zeigt und damit darauf hinweisen will, dass dieser geeignet sein könnte für einen neuen Speer; der Angesprochene kann die Geste des Zeigens nur verstehen, wenn er weiß, dass der Zeigende weiß, dass er einen neuen Speer braucht (dies ist vermutlich das sozial rekursive)
Moral der zweiten Person: die frühmenschliche Anpassung an die „obligate gemeinsame Nahrungssuche“ beinhaltete die Tendenz, sich auf andere zu beziehen und sich in das Rollengefüge (Du machst dies, ich mache jenes) einzuordnen
Wie ist in diesem Kontext z.B. die Jagd im Wolfsrudel zu bewerten: Werden hier nicht auch verschiedene Rollen eingenommen und ausgefüllt? Oder ist es bei Wölfen statischer, instinktiver, viel weniger kognitiv und intentional?
„Die Ontogenese gestaltet Individuen …“ |
Aus wissenschaftsphilosophischer Sicht ist es fahrlässig das Verb ‚gestalten‘ zu verwenden. Die Gefahr, dass hier das Wirken eines Gestalters mitschwingt, ist zu gross! Alternative: Die Entwicklung von der befruchteten Eizelle zum adulten Lebewesen wird Ontogenese genannt.
((p. 40 bis p. 54))
Über die 15 Seiten verwendet Tomasello den Terminus Ontogenese bzw. ontogenetisch in unterschiedlichen Bedeutungen – ohne dies zu klären:
- um einen bestimmten Lebensabschnitt von Lebewesen zu bezeichnen.
- um eine Perspektive zu charakterisieren (Gegensatz Phylogenese, ohne dies aber einzuführen).
- (wenn mit Zusatz: zB des Menschen) um einen Entwicklungsabschnitt eines fortgesetzten Evolutionsgeschehens sprachlich ‚herauszugreifen‘.
- um eine artspezifische, als tatsächlich unterstellte (damit einmalige) Entwicklungsgeschichte zu bezeichnen.
- um ein (idealtypisch gefasstes, durch eine Theorie definiertes, als überzeitlich gültig unterstelltes) biologisches Prozessgeschehen zu bezeichnen.
Da im (in der Biologie verwendeten) Terminus Ontogenese das Wirken von Genen mitgedacht ist, finde ich es besonders unglücklich, dass er – terminologisch(!) – nicht deutlicher zwischen (primär) genetisch dominierten und kulturell vermittelten Prozessen während der Ontogenese unterscheidet
Abbildung 2.1 zu den evolutionären Wurzeln der einzigartig menschlichen Kognition und Sozialität
Die Abbildung fasst auf gelungene Weise schematisch zusammen, was die Unterschiede zwischen Menschenaffen bzw. dem letzten gemeinsamen Vorfahren, Frühmenschen und modernem Menschen hinsichtlich Kognition, Sozialität und Selbstregulation sind (z.B. individuelle Intentionalität, gemeinsame Intentionalität (zusammen mit anderen Individuen) und kollektive Intentionalität (bezogen auf die Gruppe)
Anmerkungen zur Evo-Devo-Biologie
(p.40-42)
Die natürliche Selektion gilt nicht nur für die Merkmale als „Endpunkte“ einer Entwicklung, sondern auch für den Konstruktionsprozess; letzter hängt auch von Umweltbedingungen ab und kann zu verschiedenen Phänotypen führen und somit auch zu erheblichen evolutionären Vorteilen; diese Perspektive wird die Evo-Devo-Perspektive genannt, weil sie die der modernen evolutionären Entwicklungsbiologie ist. Aus meiner Sicht ein interessanter und seinen Implikationen diskussionswürdiger Punkt, weil er den Fokus verlagert von Merkmalen / Eigenschaften / Objekten auf Prozesse.
„Tatsächlich besteht … Entwicklungspfaden“
Was hat hier – bei der Gegenüberstellung zweier Forschungsprogramme – der Ausdruck ‚tatsächlich‘ zu suchen?
Was ist das für eine schludrige Formulierungsweise bezüglich der natürlichen Selektion von einem ‚Ziel‘ zu reden?
Damit soll die Aussage «Ontogenese gestaltet Individuen» insofern unterstrichen werden, als es eine ganze Forschungsdisziplin gibt, nämlich die Evo-Devo-Biologie, die diesem Paradigma folgt: Es kommt nicht so sehr auf Merkmale an, sondern auf Entwicklungsprozesse.
Was ist das für eine schludrige Formulierungsweise bezüglich der natürlichen Selektion von einem ‚Ziel‘ zu reden? Ja, wissenschaftsphilosophisch ist das schludrig. Aber – so arrogant das klingen mag -, ich kenne Biologen nicht anders: Diese reden häufig und gern von «Zielen» und «Funktionen». Das ist eine Eigenheit, die aus biologischer und anthropologischer Sicht ihren Sinn haben mag und die die ganze Sache auch anschaulicher macht, bei der aber eine gewisse Voreingenommenheit mitschwingt (weil «Ziele» und «Funktionen» etwas sind, was dem Untersuchungsgegenstand nicht intrinsisch zugrundliegt, sondern wir ihm als die Untersuchenden zuordnen). Ich kann darüber recht problemlos hinwegsehen
der ganze mittlere Abschnitt
Wer durch Vorwissen nicht schon weiss, was Tomasello hier erläutern will, kann dies nicht verstehen.
Bei allen vier Menschenaffenpezies wird im Grunde 100 Prozent der Pflege der Nachkommen von der Mutter unternommen (…)»
Im Unterschied zu den Menschen, bei denen viele verschiedene Erwachsene an der Pflege beteiligt sind. – Aber Menschenaffen in grösseren Gruppen, Interaktionen, Einflüsse etc?
«(…) während die Kinder unterschiedliche, getrennte Faktoren für die physikalische und die soziale Kognition aufwiesen.»
Unterschied zu (erwachsenen) Menschenaffen.
«(…) Verständnis der physikalischen Welt durch Sprache (…) ‘selbst erzeugt’ wird (…)»
Sozial-kognitive Fähigkeit ermöglicht via Sprache und weitere Interaktionsformen ein Verständnis der Welt, das an nicht genetisch prä-codierten Konditionen gebunden ist. Trivial?
«In der Zeit zwischen zwei und drei Jahren nehmen die Fertigkeiten der Kinder im Hinblick auf die soziale Kognition auch weiterhin massiv zu, während die der Menschenaffen sich überhaupt nicht weiterentwickeln.»
Entwicklung der Menschenaffen in sozialer Kognition bereits abgeschlossen mit zwei Jahren? Das ist ein überraschend deutlicher Unterschied zu Menschenkindern, der sich auch in der Differenz im Gehirnwachstum nach zwei Jahren reflektiert. «Im Hinblick auf die soziale Kognition»: nicht besonders elegante Formulierung.
„Es besteht kein Zweifel daran, dass Reifungsprozesse eine Schlüsselrolle bei der Strukturierung der menschlichen Ontogenese spielen“
Wie ist das mit „Strukturierung“ gemeint: im Sinne, dass die Prozesse in bestimmten Strukturen ablaufen oder in dem Sinne, wie wir Menschen bei der Erforschung dieser Prozesse die Strukturierung vornehmen? „Strukturierung“ suggeriert einen handelnden Akteur, der zur Erreichung von Zielen bewusst Dinge macht; dies würde für die zweite Variante sprechen. Denke dennoch, dass eher die erste gemeint ist. Finde den Begriff „Strukturierung“ daher hier nicht ganz glücklich gewählt.
«Daher plädieren wir für eine ‘Transaktionskausalität’: Fähigkeiten, die durch Reifung entstehen, schaffen die Möglichkeit neuer Arten von Erfahrungen und Lernen, und anschließend sind diese Lernerfahrungen die unmittelbaren Ursachen der Entwicklung».
Ist damit gemeint, dass dem Menschen eine Art „Potenzialität“ zur Verfügung steht, die im Rahmen des Reifungsprozesses mehr oder weniger ausgeschöpft werden kann (in Abhängigkeit von den Umgebungsbedingungen)?
Es wird zwischen individuellem und kulturellem Lernen unterschieden (Gehen vs. Torschießen beim Fußball
Etwas unglücklich: Nachdem auf p. 56 auf diesen Unterschied hingewiesen wurde, heißt es: „Im Gegensatz zu einem Lernen, das auf diese Weise durch Reifungsprozesse strukturiert wird, gibt es (…) Fertigkeiten, auf die das Individuum biologisch nicht unmittelbar vorbereitet werden kann (..)“. Dazu gehört ja unter anderem das Verständnis, was Torschießen bedeutet, was direkt vorher schon angesprochen wurde. Hier scheint es mir in der Darstellung ein wenig ein Hin und Her zu geben (auch wenn inhaltlich alles konsistent ist).
Grundsätzliche Frage: Sind „Reifungsprozesse“ vor allem biologisch gemeint? Dies scheint der eben zitierte Satz zu suggerieren.
vier verschiedene Arten von Lernen: 1. Individuelles Lernen (im Rahmen von Reifungsprozessen, z.B. Gehen), 2. Beobachtungslernen (Imitation), 3. pädagogisches Lernen, 4. Soziale Ko-Konstruktion (vor allem zusammen mit Gleichaltrigen)
Nach meinem Verständnis scheinen mir es vor allem die Lerntypen 3 und 4 und ein Stück weit auch schon 2 zu sein, die Menschen von anderen Primaten unterscheiden und die sozusagen ein erweitertes Fundament bereitstellen, auf deren Grundlage dem Menschen ganz andere und mehr Entwicklungspfade zur Verfügung stehen. Eine interessante, weiter in die Tiefe gehende Frage wäre: Was genau ist es, worauf der Mensch zusätzlich zurückgreifen kann und das ihm diese weiteren Lerntypen ermöglicht? Sind es neuronale Strukturen, die andere Primaten nicht haben, oder spezifische Anlagen, die solche neuronalen Strukturen entstehen lassen können?
«Alle diese Arten exekutiver Selbstregulation – individuelle Selbstregulation (…), soziale Selbstregulation und normative Selbststeuerung – spielen wichtige Rollen dabei, Kinder zur Neukonfiguration bestimmter Dinge zu bringen, und zwar so, dass dabei Konflikte zwischen Perspektiven oder Werten gelöst werden.»
Exekutive Selbstregulation ist «der dritte Kausalfaktor in der psychologischen Entwicklung des Menschen» (p. 59), der sich wiederum in drei Ebenen unterteilen lässt, Zitat p. 63. Etwas unübersichtliche Darstellung… die beiden anderen Kausalfaktoren sind offenbar «Reifungsprozess» und «Erfahrung», p. 55 ff.
„Sie tun es jedoch zum grössten Teil in Konkurrenz zueinander.“
Auch Menschenaffen können „Gedanken lesen“, aber sie tun es aus einer anderen Motivation als die Menschen. Steht aber das Zurückstellen des Konkurrenzgedankens beim Menschenkind nicht am Ende doch auch im Dienste eines Wettbewerbes? Geht es Menschenaffen und Menschen nicht zuletzt um die Weitergabe von ihren Genen? Im Moment geht es aber Tomasello nicht um diese grundlegende Konkurrenz, sondern um Interaktionen, in denen Menschenkinder gezielt das Gedankenlesen der andern ermöglichen, um Koordination und Kooperation voranzutreiben, und derart den Konkurrenzgedanken zurückstellen, im Unterschied zu den Menschenaffen.
„[Über die kognitiven Fähigkeiten der Menschenaffen hinaus] brachen wir kognitive Prozesse, die sich für soziale und geistige Koordination mit sozialen Partnern entwickelt haben.“
Es gibt mindestens zwei wesentliche Unterschiede zwischen Menschenaffen und Menschen:
-
- Kognitive Prozesse wie das „Sich-Hineinversetzen in andere Artgenossen“ erfolgen bei Menschenaffen eher in Konkurrenz zueinander, während dies bei Menschen sehr oft der Kooperation dient.
- Menschen sind zur „rekursiven Schlüssen“ in Bezug auf geistige Zustände in der Lage. Beispiel: „Das Baby weiß, dass die Mutter ihre Aufmerksamkeit auf denselben Gegenstand richtet, und es weiß, dass die Mutter um die Aufmerksamkeit des Babys gegenüber dem Gegenstand weiß“.
Ich finde diese Punkte interessant, weil sie nicht auf der Hand liegen. Ich finde sie auch plausibel, aber weiß noch nicht, ob ich sie zwingend finde bzw. ob hier der entscheidende Punkt bei den Unterschieden zwischen Menschenaffen und Menschen getroffen wurde. Darüber hinaus würde ich es spannend finden, eine Erklärung für diese Unterschiede zu bekommen: Was genau ist es, was zu diesen Unterschieden führt, was haben also Menschen auf eine grundlegenden Ebene, was Menschenaffen nicht haben, damit sie sich kooperativ verhalten und rekursive Schlüsse ziehen können? Sind es am Ende doch die genetischen Unterschiede? Wenn die Antwort ist: Nein, es sind nicht die Gene, es sind die ontogenetischen Prozesse, kann man weiter fragen: Aber warum sind die ontogenetischen Prozesse so nachhaltig unterschiedlich, was ist es, was die Menschenkinder diesen Pfad einschlagen lässt, und die Menschenaffenkinder jenen?
Kapitel 3: Soziale Kognition
Über weite Strecken komme ich mir vor, als würde ich das Einleitungskaptels einer Dissertation lesen: Es wird viel Fachwissen vorausgesetzt. Wie es sich für wissenschftliche Texte gehört, werden die Ideen, Hypothesen und Resultate anderer Autoren nicht nur verwendet, sondern es wird auf diese Autoren verwiesen – und zwar im Haupttext. Aber will das vorliegende Buch eine wiss. Publikation sein? Wären Fuss- oder gar Endnoten nicht angebrachter?
Gerne verweist Tomasello auch auf eigene Arbeiten und schliesst dann manchmal Sätze in der Ich-Form an, was die Ambivalenz bezüglich des Zielpublikums anzeigt.
Wohl bedingt durch sein fundiertes Wissen schafft Tomasello es nicht, komplexe Sachverhalte herunterzubrechen, sie also schrittweise und mittels einfacher Sätze zu erläutern. In einem mich zwanghaft anmutenden Schreibstil muss er mittels Nebensätzen und Klammerbemerkungen immer sofort Nebenfaktoren, Sonderfälle, Präzisierungen einfügen, so dass extrem verschachtelte Sätze entstehen. Die erschwert die Lesbarkeit ungemein. Vgl. Anmerkung zu Seite 120.
Es passiert mir immer wider, dass ich bei solchen Satzmonstern ausklinke, mit den Augen nur noch über den Text gleite und erst wieder nach dem nächsten Punkt ‚gedanklich‘ einzusteigen versuche.
„Wir beginnen mit der Ontogenese der sozialen Kognition bei Menschenaffen, insbesondere mit ihrer Fähigkeit, sich (nichtperspektivisch) vorzustellen, was andere wahrnehmen und wissen“.
Wie ist in diesem Zusammenhang „nichtperspektivisch“ zu verstehen? Ist es so gemeint, dass man die Vorstellung dessen, was anderen wahrnehmen und wissen, nicht mit der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen Wissen in Beziehung setzt, dass man sie also nicht kontrastiert?
Beschreibung der Fähigkeit von beobachtenden Affen, sich eine Vorstellung davon zu bilden, was ein anderer Affe weiß und nicht weiß, und damit in der Lage ist, Verhaltensweisen zu antizipieren. Dabei scheint es irrelevant zu sein, was der beobachtende Affe selber weiß: „…, dass Menschenaffen wissen, was andere wissen, wobei die Tatsache, dass der Affe selbst etwas anderes weiß (weil er z.B. einen Beobachtungsvorteil gegenüber dem anderen Affen hatte), im Grunde irrelevant ist“.
Das Experiment, das hier durchgeführt wurde, ist grundsätzlich interessant. Ich frage mich nur, inwieweit man schließen kann, dass das eigene Wissen des beobachtenden Affen irrelevant ist bei dem Prozess, sich eine Vorstellung von dem Wissen des anderen Affen zu machen. Woraus schließt man das? Vielleicht daraus, dass sich der beobachtende Affe im weiteren Verlauf keinen Vorteil daraus zu schaffen versucht, indem er mehr weiß als der andere Affe? Grundgedanke von Tomasello ist hier vermutlich, dass „Nichtperspektivische“ aufzuzeigen: Die Affen haben zwar die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und sich eine Vorstellung davon zu bilden, was der andere weiß, scheint dies aber nicht in Beziehung zu setzen, was er selbst weiß.
„(…) eine Hypothese, dass die Blickverfolgung speziell der Augen sich in einem speziellen kooperativen Kontext entwickelte, in dem die anderen nicht dazu neigten, sie auszunutzen.“
Menschenaffen folgen der Blickrichtung, aber nicht den Augen eines anderen, wie das bei den Menschen der Fall ist. Interessante Differenz. Etwas simplizistisch scheint die Begründung, warum sich bei den Menschen diese Gabe entwickelte.
Grundaussagen zur sozialen Kognition
- Menschenkinder und Menschenaffenkinder sind ab einem bestimmten Alter in der Lage, Blicken zu folgen und auch andere Standorte einzunehmen, um Blicken folgen zu können
- Menschen achten dabei viel mehr auf die Augen als Menschaffen
- Bei Menschen ist die Fähigkeit bereits ein bis zwei Jahre früher vorhanden als bei Menschenaffen
Grundaussagen zur geteilten Aufmerksamkeit
- Menschen und Menschenaffen sind beide zur dyadischen Interaktion in der Lage, was im Wesentlichen eine Interaktion zwischen zwei Individuen ist
- Darüber hinaus bilden Menschenkinder recht schnell zur Fähigkeit einer triadischen Interaktion aus, d.h. sie teilen die Aufmerksamkeit mit einem anderen Akteur (typischerweise die Mutter) in Bezug auf einen Gegenstand in einer Art und Weise, dass sie um die Aufmerksamkeit der anderen Person sowohl auf den Gegenstand als auch auf die Aufmerksamkeit des Babys auf den Gegenstand wissen
Weiterhin sind bei Menschen der Austausch insbesondere von positiven Gefühlen (z.B. Anlächeln) charakteristisch; dies beobachtet man bei Menschenaffen nicht
Erklärung von Perspektive: „Ohne ein Bewusstsein mehrerer potenzieller Möglichkeiten, die Situation zu sehen, kann man von einem Individuum nicht sagen, dass es überhaupt Perspektiven einnimmt“.
Eine Perspektive einzunehmen heißt also darum zu wissen, dass es auch andere mögliche Perspektiven gibt. Vor diesem Hintergrund wird die weiter oben erwähnte „nichtperspektivische“ Wahrnehmung von Menschenaffen verständlich: Menschenaffen haben eine Vorstellung davon, was andere Menschenaffen wissen, kontrastieren dies aber nicht mit ihrem eigenen Wissen; das eigene Wissen scheint in diesem Moment irrelevant zu sein. Das ist für mich eine fast erstaunliche Unterscheidung, auf die ich nicht gekommen wäre und bei der ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie überhaupt haltbar ist: Ist es plausibel anzunehmen, dass, wenn ich weiß, was eine andere Person weiß, ich es nicht mit meinem eigenen Wissen abgleiche? Steht dies nicht auch im Widerspruch zu einem Beispiel weiter oben, in dem ein Menschenaffe sieht, wo Futter versteckt ist und gleichzeitig weiß, dass ein dominanter Artgenosse dies nicht sieht, weil für ihn ein Hindernis im Weg steht. Der untergeordnete Menschenaffe holt sich dann das Futter: Ist es hier nicht so, dass der eine Affe weiß, was der andere nicht weiß, und deswegen seinen (Wissens-)Vorteil dann ausnutzt?
„Die Koordination widersprüchlicher Perspektiven“
Reihe von interessanten und einleuchtenden Beispielen, wie Kinder lernen, mit unterschiedlichen Perspektiven auf einen Gegenstand umzugehen, vielleicht eben auch die Voraussetzung für so etwas wie Objektivität.
„Die Koordination dieser drei Perspektiven – deiner, meiner und der objektiven Perspektive – wird zum Beispiel durch die Anerkennung ermöglicht, dass manche Perspektiven Illusionen sind oder dass manche falsch sind …“
Es ist klar, was gemeint ist, aber für mich ist es unsauber oder zumindest verkürzt, von „falschen“ Perspektiven zu sprechen. Eine Perspektive an sich kann genauso wenig falsch sein wie der visuelle Eindruck bei einer optischen Täuschung, denn beide sind ja „da“. Nur der Schluss, den man daraus zieht, mag falsch sein. Man kann sagen, eine Perspektive kann unangemessen sein, um den richtige Schluss in Bezug auf ein bestimmtes Phänomen zu ziehen.
Erwähnung der Drei-Berge-Aufgabe von Piaget im Zusammenhang mit visueller Perspektivenübernahme.105
Es scheint mir unangebracht, ein Experiment zu erwähnen und es zu kommentieren, ohne es dann zu erklären. Oder wird es als zur Allgemeinbildung gehörig betrachtet? Schwer vorstellebar, wenn das Buch für Laien gedacht ist.
„Aber Menschenaffen scheitern systematisch an Aufgaben zu falschen Überzeugungen, die von ihnen eine Verhaltensentscheidung erfordert.“
Menschenaffen haben Kenntnis vom Wissen anderer. Aber sie können nicht falsche Überzeugungen anderer aktiv auflösen helfen, und damit widersprüchliche Perspektiven auf einer höheren Erkenntnisebene versöhnen.
„In einem gewissen Sinne ist also die Entwicklung U-förmig: Babys sind erfolgreich, weil sie die Erfahrung anderer verfolgen. Dreijährige scheitern, da sie Fähigkeit entwickeln, eine objektive Perspektive auf Dinge einzunehmen, was sie dazu führt, diese objektive Perspektive zum Standard zu machen. Vierjährige sind erfolgreich, da sie lernen, die subjektiven und die objektiven Perspektiven miteinander zu koordinieren.“
Das Baby (18 Monate alt) ist in der Lage vorauszusehen, wo ein Erwachsener einen Gegenstand suchen wird, der der in Abwesenheit des Erwachsenen an einen anderen Ort gebracht worden ist, weil es den Wissenszustand des Erwachsenen versteht. Der Dreijährige tut sich damit schwer, weil er realisiert, dass es so etwas wie eine objektive (von ihm losgelöste) Perspektive gibt. Er nimmt darum an, dass der Erwachsene am Ort sucht, wo der Gegenstand sich neu befindet. Der Vierjährige ist dann in der Lage zu begreifen, dass es widersprüchliche Perspektiven gibt, die er auflöst. Er versteht, warum der Erwachsene am falschen Ort sucht.
„Exekutivfunktionsfertigkeiten“
Da hat sich der Übersetzer ein besonders schönes deutsches Wort konstruiert.
Allgemein finde ich den Abschnitt über „falsche“ Überzeugungen mit den verschiedenen Experimenten mühsam zu lesen. Die Beobachtung, dass Baby von 18 Monaten gewisse Aufgaben besser lösen als dreijährige, und die Schlussfolgerung, dass dreijährige bereits einen Begriff von einer objektiven Perspektive haben, der aber noch nicht richtig ausgebildet ist, ist durchaus interessant. Auch hier ist wieder die Frage, wie zwingend das ist.
„Ohne einen objektiven Massstab können wir zwar alle möglichen Arten des Verstehens der Gedanken anderer haben, aber kein Verständnis falscher Überzeugungen.“
Die Herleitung scheint überzeugend. Aber… wenn ein junger Schimpanse sich einer Giftschlange nähert, und der ältere ihn davor warnt: geht dann der ältere nicht davon aus, dass der jüngere eine falsche Überzeugung im Bezug auf die Giftschlange hegt („ungefährlich“)? Der ältere Schimpanse hat seine subjektive Einschätzung, und die des jüngeren scheint davon abzuweichen. Noch nicht zwingend ein „objektiver Massstab“, aber …
P 117 – 123: Abschnitt „Individuelle und Kulturelle Variation“
- Grundaussage ist unter anderem, dass Sprache den Kindern sehr hilft, verschiedene Perspektiven (subjektive untereinander sowie mit der objektiven) zu koordinieren.
- Ansonsten wird sich länglich und nur schwer verständlich darüber ausgelassen, was womit korreliert, z.B. das „Verständnis falscher Überzeugungen“ mit der „Exekutivfunktion“ (hier wird nicht in Erinnerung gerufen, was das eigentlich genau sein soll, es scheint unter anderem mit der Unterdrückung von Meinungen/Perspektiven/Sichten zu tun zu haben.
Diese Studie weisst nach, … der Fall war).
Beispiel eines Monstersatzes
„Wenn die exekutiven Ressourcen experimentell ‚aufgebraucht‘ werden, leidet die Leistung bei Aufgaben zu falschen Überzeugungen“, was auf eine nicht nur korrelative, sondern kausale Verbindung hindeutet“.
Erstens ist mir hier nicht lückenlos klar, was hier gemeint ist, zweitens wird nicht ausgeführt, warum hier eine kausale Verbindung (und nicht nur eine Korrelation) vermutet werden kann. Das klingt fast, als sei die Korrelation so groß, so dass es geradezu unvorstellbar sei, dass nichts Kausales dahinterstecken würde.
„Durch die Verwendung von so etwas wie bayesschen Lernalgorithmen gelangen die Kinder dazu, hypothetische Konstrukte … vorzuschlagen …“
Wenn man schon von bayesschen Lernalgorithmen schreibt, sollte man auch kurz beschreiben, worum es sich bei ihnen handelt (zumindest eine Fußnote sollte das wert sein).
Abbildung zur ontogenetischen Entwicklung sozialer Kognition bei Kleinkindern im Vergleich mit Menschenaffen.
Die Grafik mit ihren vielen Abkürzungen ist eine suboptimale Darstellung, die überdies im Text teilweise missverständlich beschrieben wird. Dies ist schade und absolut unnötig (weil dennoch recht viel Energie in die Beschreibung hineingesteckt wird), und weist auf eine nicht immer gewissenhafte Lektorenarbeit hin.
„Aber dann konstruiert das Kind eine Lösung, indem es Prozesse exekutiver (normativer) Selbstregulation aktiviert, bei denen es verschiedene Perspektiven oder Auffassungen von etwas innerhalb einen und desselben kognitiven Arbeitsspeichers in einem einzigen Repräsentationsformat miteinander vergleicht …“
Es mag ungefähr klar werden, was hier gemeint ist, aber hier werden einmal mehr Begrifflichkeiten verwendet, die meines Wissens vorher nicht sauber eingeführt wurden. Das klingt alles irgendwie plausibel, aber das Zwingende an dieser Behauptung bleibt mir letztlich doch verborgen.
„Im Hinblick auf die jeweiligen Rollen der Reifung und Erfahrung bei alledem besteht das eindeutige Muster, wenig überraschend, darin, dass die früheren Fertigkeiten und Motivationen gemeinsamer Intentionalität stärker reifungsbedingt und weniger plastisch sind, während die späteren Fertigkeiten und Motivationen der kollektiven Intentionalität nur bei Individuen entstehen können, die bestimmte Arten sozialer und kommunikativer Interaktionen mit anderen haben.“
Mir ist einmal mehr nicht völlig klar, was genau unter „Reifung“ verstanden wird. Implizit scheint Reifung sich auf etwas zu beziehen, das bei sich entwickelnden Menschenkindern so oder so passiert, mehr oder weniger unabhängig von äußeren Reizen wie etwa die Interaktion mit anderen. Es passiert einfach ohne ein Dazutun von außen. Vielleicht entspricht das tatsächlich dem allgemeinen Sprachgebrauch, dennoch hätte ich auch hier eine vorherige begriffliche Klärung begrüßt.
Diese Darstellung der frühen Ontogenese … Entwicklungsveränderung oder -transformation (siehe Rakoczy, 2015).
Ich habe Literatur zu Tomasello gesucht, die sich mit seiner Forschung bzw. seinen Denkmodellen auseinandersetzt. Um diese Literatur zu verstehen, musste ich mich in Dispute zwischen Entwicklungspsychologen einlesen, die divergierende Erklärungsansätze bezüglich der evolutionären Entstehung der spezifisch menschlichen Merkmale verfechten.
Im zitierten Abschnitt lässt Tomasello diese unterschiedlichen Ansätze anklingen. Unter der Annahme, dass sich Tomasellos Buch an ein gebildetes LAIENpublikum wendet und nicht an Entwicklungspsycholog*innen, ist es nicht verständnisfördernd, solche Dispute anklingen zu lassen. Termini wie ’nativistisch‘ und ‚konstruktivistisch‘ werden in diesen Disputen mit einer Fachgebiet spezifischen Bedeutung verwendet, aber diese kennt doch das LAIENpublikum nicht (und Tomasello erläutert sie nicht). Mit solchen Einschüben verliert Tomasello einfach seine Leser*innen.
Bei der Durchsicht dieser Sekundärliteratur bin ich auch auf eine sprachliche Lösung bezüglich Tomasellos (mich und Moritz) störende Rede von ‚einzigartig‘ gestossen: Diese Autoren reden von ’spezifisch menschlichen‘ Eigenschaften oder Merkmalen oder ontogenetischen Entwicklungsschritten.
Im zitierten Abschnitt verwendet Tomasello die Bezeichnung ‚objektive Perspektive‘ und zwar ohne Anführungszeichen. Was soll man darunter verstehen? In vorangehenden Abschnitten, in denen er über die Perspektivenübernahme Dritter spricht, steht ‚objektiv‘ noch in Anführungszeichen. Irgendwo spricht er von der Vogelperspektive. Das ist für mich eher ein Schwadronieren, denn ein Vereinfachen für ein Laienpublikum.
„Entscheidend ist, dass diese Koordination ein strategischer Prozess ist, …, die auch die strategische Bewertung verschiedener Möglichkeiten beinhaltet“.
Was in aller Welt sind in diesem Zusammenhang strategische Prozesse? Wurde das eingeführt? Ist das selbsterklärend?
„Dieser strukturelle Rahmen verwandelt die Kognition von Menschenaffen grundlegend, indem einfache kognitive Repräsentationen in perspektivische umgewandelt werden. Darüberhinaus verwandelt dieser Rahmen das Denken von Menschenaffen, grundlegend dadurch, dass die Menschen in die Lage versetzt werden (…).“
Verwirrend. Ist die Rede von Menschenaffen, oder doch vielmehr von Menschen?
Kapitel Soziale Kogniton
Erstes Zwischenfazit zum Kapitel Soziale Kognition:
Streckenweise liest sich das Buch so, als sei es im Nachhinein aus vielen einzelnen Fachartikeln zusammengesetzt, bei dem der rote Faden nicht ganz stringent verfolgt wird und in dem die Beschreibung verschiedener Experimente mit Menschenkindern/Menschenaffen ein wenig willkürlich anmutend aneinandergereiht werden. Das große Bild droht immer wieder vor vielen Experimenten mit unterschiedlichen Bedingungen und überbordenden Details verloren zu gehen. Die Schlussfolgerungen muten in gewisser Weise plausibel an (z.B. das Verständnis, dass es verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Sache gibt, stark durch den Gebrauch von Sprache gefördert wird), es stellt sich mir aber immer wieder die Frage, wie stringent und zwingend sie am Ende wirklich sind.
„Die Mehrheit nichtmenschlicher Kommunikation von Primaten ist somit überhaupt nicht intentional und das schliesst fast alle stimmlichen Signale ein, die zum grössten Teil unflexibel und stereotyp sind.“
Mir ist diese Behauptung nicht ganz geheuer. Warnrufe beispielsweise sind vielleicht stereotyp und unflexibel, aber deswegen doch nicht un-intentional?
„(…) dass das Zeigen mit der ganzen Hand und das Zeigen mit dem Zeigefinger unterschiedliche Akte sind (…)“
Interessanter Unterschied: das Zeigen mit der ganzen Hand als „ritualisiertes Greifen“ (von Kleinkindern und Menschenaffen beherrscht), das Zeigen mit dem Zeigefinger geht aus „Fertigkeiten gemeinsamer Intentionalität“ hervor, die eben Menschenaffen nicht zur Verfügung stehen. Etwas prekäre Unterscheidung, aber es leuchtet grundsätzlich ein, dass hier ein Unterschied vorliegt.
bis Seite 145, allgemeine Anmerkung
Bei aller Kritik im einzelnen und auch im Ganzen: man lernt dann doch immer wieder etwas bei Tomasello. Der Zeigevorgang beim Menschenaffen mit der ganzen Hand als ritualisiertes Greifen, im Unterschied zum Zeigen mit dem Zeigefinger beim Menschen. Oder dass Menschenaffen zwar der Blickrichtung eines anderen Individuums folgen, nicht aber den Augen, anders als die Menschen. Indizien für eine weitergehende Kooperation oder Verständigung beim Menschen, oder eben: gemeinsame Intentionalität.
Schlusskapitel
In den Schlusskapiteln fasst Tomasello seine These zusammen: Kollektive Intentionalität, im Laufe der Evolution beim Menschen ausgebildet, nicht aber bei den Menschenaffen, sorgt für den entscheidenden Unterschied zwischen den Spezies. Kultur, kulturelle Artefakte sind natürlich wichtig für die menschliche Ontogenese, wie das Vygotskij hervorhebt, aber entscheidender ist das, was diese Kultur erst ermöglicht: kollektive Intentionalität. Tomasello argumentiert in diesen Passagen stringent, wenn er die Limiten anderer wissenschaftlicher Ansätze durchgeht. Auch die Sprache ist eher Ausdruck dieser, wie Tomasello zu oft betont, einzigartigen menschlichen Fähigkeit der kollektiven Intentionalität, und nicht die Ursache für die Differenz zu den Menschenaffen.– Wichtig ist, dass die kollektive Intentionalität, einmal entwickelt, auf alle möglichen Bereiche des menschlichen Lebens angewendet wird, nicht nur für den Bereich, in dem sie sich in der Evolution ausgebildet hat (wobei man da nochmals genauer nachlesen müsste!). Bei sehr ähnlicher genetischer Disposition resultiert daraus eine markant andere Ausprägung in der Ontogenese, wenn man Menschen mit Menschenaffen vergleicht.
Tomasello beschreibt die kollektive Intentionalität durchwegs mit positiv konnotierten Begriffen, Fairness, Respekt, Vernunft. Er hantiert auch unbefangen mit einem problematischen Begriff wie der Objektivität, die erst durch kollektive Intentionalität ermöglicht werde. Das ist bei den Aspekten, die für den Autor in diesem Buch im Vordergrund stehen, verständlich. Dennoch irritiert es ein klein wenig, dass er auf negativ konnotierte Begriffe wie Gruppendruck, Mobbing, Asozialität, die man mit der kollektiven Intentionalität mindestens sekundär auch in Verbindung bringen könnte, mit keinem Wort eingeht. Schade auch, dass sich Tomasello – abgesehen von Seitenblicken auf den Autismus – nicht der möglichen Verweigerung oder bewussten Abwendung von einer (spezifischen) kollektiven Intentionalität widmet, «einzigartige» Option für den Menschen, und vielleicht für die Entwicklung der Spezies von Belang.
Aber Tomasello vermittelt wichtige Einsichten, und regt zu weiteren Überlegungen an. Die Entwicklung der kollektiven Intentionalität in der Evolution dieser einen Spezies scheint für das gesamten Ökosystems einen ungeheuren Impact zu haben.
In den Schlussabschnitten verteidigt Tomasello die Anordnung seiner Experimente gegen Kritik von verschiedenen Seiten, gegen «Affenspötter», für die Tomasello die Rolle der Menschenaffen zu hoch einschätzt, im Vergleich zu den Menschen, genauso wie gegen «Affenenthusiasten». Auch hier scheint die Argumentation plausibel.
„Mein Vorschlag lautet, dass die entscheidenden Neuheiten in der Evolution des Menschen alle auf die eine oder andere Weise Anpassungen an eine besonders kooperative, geradezu hyperkooperative Lebensform waren. Ich habe diese Anpassungen als Fertigkeiten und Motivationen geteilter Intentionalität charakterisiert, und wir haben uns angesehen, wie sie in acht zentralen ontogenetischen Entwicklungspfaden zum Ausdruck kommen.“
Hyperkooperativ: interessant wäre ein Seitenblick auf andere (wahrlich) hyperkooperative Lebensform (Bsp Termiten). Interessant vielleicht in diesem Kontext, dass der Mensch – anders als die Termite – in der Lage ist, sich zeitweilig aus der Hyperkooperation zu lösen. Vielleicht ist die Fähigkeit, ausserhalb der geltenden Normen zu denken, bis hin zur Asozialität, für die Evolution auch ein wichtiges Element. Oder man argumentiert, dass die Verweigerung einer gemeinsamen Intentionalität nur eine Spielart dieser Fähigkeit ist.
die acht Pfade: Soziale Kognition, Kommunikation, Kulturelles Lernen, Kooperatives Denken, Zusammenarbeit, Prosozialität, Soziale Normen, Moralische Identität. Wie zwingend diese Einteilung ist?
„(…) reicht die Berufung auf die Sprache als blosses Repräsentations- und Komputationsmedium nicht aus, um die einzigartige menschliche Kognition und Sozialität zu erklären.“
Sprache sicher essentiell für den Unterschied zu den Menschenaffen; aber nicht als Ursache, eher als Ausdruck des Unterschieds, der bei Tomasello auf die „tieferen Prozesse geteilter Intentionalität“ zurückzuführen ist.
„Im Allgemeinen sorgte sich Vygotskij so sehr darum, die entscheidend wichtige Rolle der Kultur und ihrer Artefakte für die kognitive Ontogenese des Menschen aufzuzeigen, dass er die besonderen Fähigkeiten vernachlässigte, die erforderlich sind, um an den Kulturprozessen überhaupt teilzuhaben (…)“
Tomasello referiert frühere Positionen zur menschlichen Ontogenese; er vermag hier überzeugend darzulegen, dass ein wichtiges Element, eben die gemeinsame Intentionalität, zu wenig im Fokus stand. Erst der Vergleich mit den Menschenaffen rückt dieses Element in den Vordergrund.
„(…) dass Piaget zufolge der Schlüssel für die Moralentwicklung der Kinder nicht individuelles Lernen und das Befolgen der Regeln Erwachsener ist (…), sondern vielmehr die Kooperation und das Aushandeln mit Gleichaltrigen auf der Basis von Reziprozität und wechselseitigem Respekt.“
Verweis /Berufung auf den „frühen“ Piaget
[Die im Buch entwickelte Theorie der geteilten Intentionalität] „beruft sich auf die einzigartig menschliche biologische Bereitschaft für geteilte Intentionalität als ermöglichende Ursache und ….“
Es ist zwar so, dass Tomasello in der Tat diverse Aspekte anführt, die er plausibel als einzigartig menschlich bezeichnet, aber sind diese wirklich im engeren Sinne biologisch? Was sind denn die biologischen Voraussetzungen dafür, die Menschen zu geteilter Aufmerksamkeit, zu „Kooperation auf zwei Ebenen“, zu Lernen durch Anleitung usw. befähigen, Menschenaffen aber nicht? Es wird z.B. gesagt, dass Baby und Kleinkinder im Gegensatz zu Menschenaffen in der Regel mehrere Bezugspersonen haben und daher andere und ausgefeiltere Strategien entwickeln, Aufmerksamkeit zu erregen. Geht das schon als eine biologische Erklärung durch? Ich würde erwarten, dass man weiter erklären müsste, wie etwa die Entwicklung des menschlichen Gehirns aufgrund solcher Unterschiede im Sozialverhalten anders verläuft als bei Menschenaffen. Wo kommt also die biologische Bereitschaft für geteilte Intentionalität genau her? Auf biologischer Ebene sehe ich diese Frage durch die Theorie von T. eigentlich nicht beantwortet. Das ist auch nicht schlimm, weil seine Theorie nicht alles beantworten muss. Es wäre nur problematisch, wenn T. beansprucht, seine Theorie würde auch diese Frage beantworten.
Abbildung zum ontogenetischen Gesamtverlauf der einzigartig menschlichen Psychologie.
Gut gemeint, schlecht umgesetzt. Die Überschriften der 4 Spalten sollen wohl für Zeitabschnitte stehen, was implizit noch einigermaßen gut zu erraten ist, aber die Begriffe „Teilen von Gefühlen“, „Neumonatsrevolution“, „Objektive/normative Wende“, „Vernunft & Verantwortlichkeit“ entstammen verschiedenen Kategorien, was unglücklich und verwirrend ist. Die Zeilen darunter sollen gemäß Beschreibung im Text die Kapitel im Buch zu den Fertigkeiten/Fähigkeiten widerspiegeln, aber nicht einmal die Bezeichnungen der Kapitel werden in der Abbildung oder im Text richtig wiedergegeben. Es scheint, als würden hier immer wieder begriffliche Ebenen und Strukturelemente durcheinandergeworfen werden. Unnötig und ärgerlich, auch wenn es nur die Darstellung betrifft und nicht den Inhalt.
Darstellung, wie in 5 zentralen ontogenetischen Pfaden Motivationen und Fertigkeiten beim Übergang vom Menschenaffen zum Menschen eine entscheidende Wandlung erfahren.
An sich ist die Idee sehr lobenswert konkret aufzuzeigen, an welchen Stellen genau sich gemäß T.‘s Theorie der geteilten Intentionalität Unterschiede in der Entwicklung zwischen Menschenaffen und Menschen ergeben. Nur leider ist einmal mehr die Darstellung nicht besonders instruktiv, da z.B. einzelne bullet points viel Text beinhalten und nicht mit einer griffigen Bezeichnung versehen wurden, so dass die Inhalte optisch und strukturell suboptimal wiedergegeben werden.
Unterkapitel „Der Beitrag von Reifung und Erfahrung“ hinsichtlich der Ausbildung von gemeinsamer Intentionalität
Es wird dargestellt, dass die Ausbildung der betreffenden Kompetenzen a) in einer recht engen Altersspanne und b) kulturübergreifend in nahezu identischer Weise erfolgt. Dies wird als Indiz für einen starken Beitrag einer Reifungskomponente gewertet, was in T.’s Sprachgebrauch heisst, dass die genetischen Voraussetzungen eine wesentliche Rolle spielen. Das ist für sich gesehen durchaus interessant und erhellend. Interessant wäre aber auch hier der Vergleich zu Menschenaffen: Kann man die wenigen Unterschiede im Genom, die es zwischen Menschenaffen und Menschen gibt, in einen Zusammenhang bringen mit dem Unterschieden in den Entwicklungspfaden? Dies wäre dann eigentlich erst eine biologische Antwort auf die Frage nach der Entstehung spezifisch menschlicher Kompetenzen.
„Die fünf oben besprochenen Kompetenzen gemeinsamer Aufmerksamkeit (die den ersten Unterabschnitten von fünf der entsprechenden Kapitel unserer Hauptdarstellung entsprechen) …“
Beispiel für einen eher misslungenen Versuch, dem Leser nachträglich Hinweise an die Hand zu geben, sich im Buch zurechtzufinden und ihm dem strukturellen Aufbau von T.‘s Theorie nahezubringen.
Darüber hinaus werden hier, wir mir scheint, begrifflich Ebenen vermischt: Es ist von fünf Kompetenzen gemeinsamer Aufmerksamkeit die Rede, und eine dieser fünf Kompetenzen ist: „gemeinsame Aufmerksamkeit“ (neben „kooperative Kommunikation“, „Imitation durch Rollentausch“, „Zwei-Ebenen-Kooperation“ und „Elementares Helfen und Teilen“
Unterschied gemeinsame Intentionalität / kollektive Intentionalität
Tendenziell redundanter Begriff der „Selbstidentität der Gruppe“. Kollektive Intentionalität ist nicht an bestimmte Individuen gebunden, die sich kennen, und auch nicht an Intentionalität im Hinblick auf ein bestimmtes Objekt. Aber ein Individuum unterstellt einem anderen, dass es in derselben Weise sich Dinge vorstellt und handelt. Die „Wende“ hin zu kollektiver Intentionalität, die er mit dem problematischen Begriff der Objektivität koppelt, ereignet sich gemäss Tomasello im Alter von drei Jahren.
„Während die gemeinsame Intentionalität in der Evolution des Menschen entstand, um die Koordination zwischen Individuen zu erleichtern, entstand die kollektive Intentionalität, um die Koordination zwischen den Mitgliedern einer Kulturgruppe zu erleichtern, auch wenn diese sich nicht persönlich kannten.“
Ist es nicht eine irreführende und zumindest verkürzte Sprechweise, wenn man sagt, in der Evolution passiert etwas, um etwas zu erreichen? Mein Verständnis war immer, dass in der Evolution eben nichts mit einem bestimmten Ziel passiert, sondern die Dinge geschehen einfach, und es erweist sich dann, welche Spezies erfolgreicher ist als andere
„(…) die Vorstellung einer ‚objektiven‘ Perspektive (einer Art von perspektivenlosem Blick von nirgendwo) (…)“
„objektiv“ in Anführungszeichen. Aus der Summe der unterstellten Haltungen (Blicke) auf einen Gegenstand oder einen Sachverhalt resultiert für das kleine Kind eine Perspektive, die nicht mehr von einem einzelnen Individuum her kommt / abhängig ist. Leicht eigenartige Formulierung „perspektivelosem Blick von nirgendwo“ soll wohl ausdrücken, dass dieser Blick nicht in Frage gestellt werden kann, zunächst. Tomasello unterschlägt hier, dass diese „Objektivität“ in vielerlei Hinsicht eine wacklige, stets neu auszuhandelnde Angelegenheit ist, weil die abweichende Haltung eines einzelnen Erwachsenen den „Blick von nirgendwo“ in Frage stellen kann. Erst recht kann hier noch nicht die Rede sein von einer Objektivität ohne Anführungszeichen.
„(…) die Kinder erwerben verallgemeinertes, objektives, kulturelles Wissen direkt von der Quelle. Im Vergleich zu der Art des partikularen sozialen Lernens, das andere Spezies vollziehen, stellt dieses Lernmodus einen Quantensprung dar.“
Hier wäre doch auch wieder eine Rückbindung an die Menschenaffen interessant. Inwieweit repräsentiert ein Gorilla-Silberrücken eben auch eine Kultur als Ganzes, und seine Verhaltensweisen vermitteln Gruppen-„Selbstidentität“?
Unbestreitbar aber, dass die Sprache es den Menschen ermöglicht, weit differenzierter und abstrakter Inhalte zu vermitteln, entscheidend für den „Quantensprung“ (der in der ursprünglichen Bedeutung allerdings eben nicht einen grossen Unterschied meint…).
„Dieser normative Sinn für Fairness gründet in erster Linie in dem grundsätzlicheren Sinn der Kinder für die Äquivalenz von Selbst und Anderem und ermöglicht eine unparteiische Bewertung von uns beiden.“
Das dreijährige Kind erfährt aber auch den negativen Aspekt der Normativität, es muss mit Konsequenzen rechnen, wenn es sich nicht an die Normen hält. Das wird in dieser Passage ausgeblendet.
„Der Sinn für Fairness junger Kinder wird durch das Verständnis sozialer Gerechtigkeitsnormen so umgewandelt, dass er Variationen einschliesst, die auf Verdienst, Bedürftigkeit und anderen Faktoren beruhen.“
Die mögliche Abweichung respektive dann Weiterentwicklung von Normen ist vielleicht der eigentliche Schlüssel zum Erfolg der Spezies Mensch. Kollektive Intentionalität wäre ja auch denkbar in einem starren System. Wird an dieser Stelle nicht weiter vertieft. Auffällig allerdings, dass Tomassello positive Faktoren für Veränderungen in den Vordergrund stellt. Ängste, Lust an der Macht, sadistische Gefühle könnten genauso zu „Variationen“ führen.
„Wie wir schon mehrmals gesagt haben, sind die einzigartige menschliche Kognition und Sozialität ein gemeinsames Produkt der Reifung der Fähigkeit zu geteilter Intentionalität und der soziokulturellen Erfahrungen, die dadurch möglich werden.“
Beispiel für einen eher missglückten Satz (eventuell nur in der Übersetzung), weil zumindest ich eine Zeitlang nachdenken musste, was wodurch ermöglich wird und was in der Prozesskette nun ganz am Anfang stehen soll.
„… [Kinder] beginnen erst irgendwann nach dem Alter von drei Jahren, [Bestandteile der Sprache] als Kulturpaktiken zu verstehen“.
Etwas weiter unten: „Ähnlich verstehen … Kinder soziale Normen … erst im Alter von drei Jahren als gruppenbezogene normative Verpflichtungen“.
Beim Terminus „verstehen“ läuft man Gefahr zu meinen, die Kinder ab drei Jahren würden darüber reflektieren und sich Rechenschaft darüber ablegen, dass Sprache eine Kulturpraktik ist oder das soziale Normen normative Verpflichgungen darstellen. Davon kann sicher nicht die Rede sein. Man kann bestenfalls sagen, dreijährige Kinder verwenden Sprache aktiv in Form von einer Kulturpraktik oder sie verhalten sich in einer Art und Weise, dass soziale Normen für sie normative Verpflichtungen sind. Ist vielleicht eine Spitzfindigkeit, aber auch hier wäre eine präzisere Ausdrucksweise ohne großen Aufwand möglich.
„Der allgemeine Punkt besteht darin, dass die einzigartig menschliche Kognition und Sozialität im Alter von drei bis sechs Jahren weitgehend vom Kind in der Interaktion mi anderen konstruiert und ko-konstruiert werden muss.“
Hier scheint mir einmal mehr die Vermischung von Ebenen vorzuliegen, auch wenn es nur die Darstellung bzw. die Begrifflichkeiten betrifft: Es wird doch vermutlich nicht gemeint sein, dass die Kognition selbst konstruiert oder „ko-konstruiert“ wird, sondern eher ein Ergebnis/Produkt von Kognition. Mit Kognition sollte doch eine Fähigkeit gemeint sein, die nicht konstruiert wird, sondern die sich nach und nach entwickelt.
„Alle intelligenten Wesen regulieren ihre Wahrnehmungen und Handlungen von einer exekutiven Ebene aus selbst (…)“
Das scheint so absolut gesetzt fragwürdig; vielleicht aber im Kontext vernachlässigbar.
„Aber die Tatsache, dass eine psychologische Anpassung auf eine spezifische ökologische Herausforderung ‚abzielt‘, schränkt ihre spätere Anwendung nicht ein.“
Geteilte oder kollektive Intentionalität mag die Antwort auf eine spezifische Herausforderung für die Spezies Mensch in der Evolution gewesen sein. Doch die Anwendungsmöglichkeiten dieser Errungenschaft sind breit, und ermöglichen eine markante Differenz zu den Menschenaffen, bei weitgehend identischer genetischer Grundlage.