Nagasaki, ca. 1642
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Besprechung
Gaby K.
Moritz T.
Abel machte einen Satz hin zur Sänfte, einen halben Satz zurück, wippte auf den Zehen, verknotete die Finger, entknotete sie wieder auf, und dann bückte er sich und schaut mit schräg gelegtem Kopf in die grüne Kiste hinein, worin der Inspektor sass wie ein Schneider, den Säbel quer überm Schoss.
Klappentext mit dem Zitat von Christian Metz, Deutschlandfunk „Ein erzählerisches Meisterstück“.
Schon der Klappentext macht neugierig!
„Ich habe seit geraumer Zeit eine offene Frage“ sagte Seki Keijiro zu seinem Schwiegervater.
Was für ein erster Satz! Auch wenn er nicht aufgelöst wird, so ist man doch bereits neugierig, was denn das für eine Frage ist.
Der junge Mann… meistentels luftiges Temperament, und es gebrach ihm an jeglicher Tauglichkeit ausser der einen: Sprachen zu lernen wie ein Papagei, weshalb man ihn, statt seines Taufnamens Abel, oft Babel nannte oder auch Babbel, wenn er allzu arg schnatterte.
„luftiges Temperament“ – toller Ausdruck. Überhaupt: herrliche Sprache! Man kann sich den jungen Mann sehr gut vorstellen.
„Es war ein seltenes Ereignis, wenn Herr Seki etwas tat (…)“
Herr Seki, „der faulste Mensch der Welt“, schiesst mit einem Bogen auf eine Zielscheibe. Das sorgt für Aufsehen im Haushalt.
„(…) webte Keijiro Bänder auf einen kleinen Webstuhl, bunte Bänder aus Wolle oder Seide. Wenn sich die Muster einst wiederholten, sagte er, wolle er sich auf einen Berg tragen lassen und sterben.“
Ganz untätig ist also Keijiro Seki nicht. Aber er webt sozusagen nur den Alltag fort, tagaus, tagein. Kein Tag, kein Muster aber gleicht sich, bis anhin.
Dann erzählte er naturgemäß lang und breit von dem Wunder der japonesischen Klingen.
Warum verwendet Wunnicke die Begriffe Japonica und japonesisch?
Und das mit den Klingen – das ist ja heute noch so!
[…] sein anderes Schwert zu montieren
Wieso anderes? Wissen wir denn vom ersten?
Auch dass sich das Wörtlein „ich“ auf siebzehn Weisen übersetzen lasse, von denn allerdings jede einzelne als Benimmfehler gelte, weshalb man stattdessen stumm auf seine Brust tippen müssen, wenn man unbedingt „ich“ sagen wolle…
Ob dem wirklich so ist? Dünkt mich einerseits sehr unjapanisch, andererseits auch wieder nicht…
[…] zu verdutzt, um verschüttetes Wissen auszugraben;
Schöne Idee – so geht es einem manchmal doch wirklich!
„(…) und der säumige Mensch mit dem Dokument, der sein wehes Gewissen, es monatelang vergessen zu haben, durch Gebrüll zu besänftigen suchte, mühte sich sehr, dreissig ungelesene Seiten aus dem Stegreif zusammenzufassen.“
Das ist witzig formuliert, mit der Zusammenfassung ungelesener Seiten… Statt durch Gebrüll „besänftigen“ (kann man das?) wäre vielleicht „übertönen“ besser gewesen?
Bruch in der Erzählweise
Hier gibt es einen Bruch – es wechselt nicht mehr von Seki zu Abel – sondern die Erzählung bleibt bei den Holländern. Bis man dann auf Seite 30 die Bestätigung erzählt, dass die beiden hier aufeinander treffen.
Abel merkte, er gaffte die Hüften des Japonesen an, als wäre das ein Gewürzinsel-Mädchen im Bastrock. Er sitzt in seinen Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl, Wie macht er das? Das möchte ich auch können.
Wunnicke lässt mit ihrer Beschreibung des Kommandeurs ein Bild eines Samurais entstehen, wie man es aus Filmen kennt – über den grauen Weiberrock, zur Frisur, zur Beschreibung der Waffen im „Verknoteten“ (im Obi, wie der japanische Gürtel heisst) und zum Schluss mit der Beschreibung, wie er in seinen Beckenknochen hängt.
Er sitzt in seinem Beckenknochen wie in einem Lehnstuhl. Wie macht er das? Das möchte ich auch können.
Wunnicke lässt mit der Beschreibung des Kommandeur ein klares Bild eines japanischen Samurai entstehen, dass man aus Filmen kennt. Vom grauen Weiberrock bis hin zur Haltung.
Ankunft in Deshima, vor Nagasaki
Deshima war eine künstliche Insel in der Bucht vor Nagasaki, Ort des Austausches mit Fremden. Nach 1641 konnten dort nur noch chinesische und holländische Schiffe Handel mit Japan treiben, und sie mussten in Deshima landen. s. Dejima – Wikipedia
Oranda ist das japanische Wort für Holland. Holländische Männer durften nur Sex haben mit dafür ausgewählten Prostituierten, Oranda-yuki.
“ ‚… habt Ihr mit dieser Gerätschaft an Eurer Sprache-Person bei der Frühsonne seewärts einen Versuch unternommen?‘ „
Das Gerücht geht um, der japanische Inspektor haben seinen des holländischen nur begrenzt mächtigen Dolmetscher mit dem Säbel getötet. Die Autorin gewinnt der Dolmetsch-Situation geschickt komische Aspekte ab,
Obschon sich Keijiro zwecklose Neugier für gewöhnlich nicht gestattete, hatte er sich doch nicht zurückhalten können, dieses [das fahl geschnörkelte Leichenhaar] anzufassen, getarnt durch einen Fächerschlag… Er verbot sich seine Neugier mit Nachdruck.
Die Vorstellung, dem Dolmetsch aus Versehen etwas beizubringen, gefiel Herrn Seki nicht.
„Der Narr, der Narr im Melonenfeld weiss alles über Melonen.“
Ist Neugier zwecklos?
Sehr schön beschrieben, wie die fremde Welten aufeinander stossen – und endlich wird einem Keijiro auch etwas sympathischer, denn er grübelt über Abel nach.
Und nannte ihn beim Rufnamen
Oh – Keijiro ist der Vorname und Seki der Nachname? Jetzt wird auch klar, warum er ihn Rheenen nennt und nicht Abel.
[…] wenn Du mich lehrst, so zu stehen wie du“
Siehe auch Anmerkung Seite 25. Und hier auf den folgenden Seiten bringt es Keijiro fertig, dass Abel endlich mal ruhig sitzt und nicht immer herumspringt. Sehr schön beschrieben, dass Keijiro es erst gar nicht begreift, was da von ihm verlangt wird und dann seinen Vorteil daraus zieht.
Eindrücke bis Kapitel 12
Leichthändig, wie die Autorin den Leser in die Novelle einführt, mit sorgfältig gestalteten Sätzen und dosiert eingesetztem Humor. Die unerhörte Begebenheit zu Beginn: dass sich nichts ereignet im Leben des einen Helden, Keijiro Seki, der vor allem eins gut kann: sitzen, dasein. Im Gegensatz dazu der holländische Luftibus Abel, Talent: Sprachen, Schwatzen. Die Geschichte führt die beiden Helden zusammen. Was zunächst in historischer Phantasie und Beliebigkeit angesiedelt schien, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als geschichtlich verankert und verortet: ab 1641 waren die Holländer die einzigen Europäer, mit denen die Japaner Handel trieben, und zwar nur auf einer Nagasaki vorgelagerten, künstlich angelegten Insel namens Deshima. Von diesen eng überwachten und begrenzten Begegnungen, die für beide Seiten den Reiz des Exotischen gehabt haben werden, zeugen auch heute noch mehr als 100 holländische Lehnwörter im Japanischen. Dankbarer Hintergrund für die Novelle, die denn auch mit allerlei unterhaltsamen Missverständnissen operiert. Lost in Translation im 17. Jahrhundert.
„(…) und vielleicht, dachte Keijiro, wollte er versuchen, ob er sich in ihm spiegeln könne statt im Bach.“
Exkurs in Keijiros Kindheit, er war offenbar ein Kriegswaise, der von einem Krieger aufgenommen wurde. Der Krieger versucht sich in seinem Rüstungsglanz im Bach zu spiegeln; hübsch wie die Autorin daran eine Metapher anknüpft, die das Verhältnis der beiden umreissen dürfte.
Der Hase im Mond war auch nicht bei Sinnen.
Bei uns ist es der „Mann im Mond„.
Bei Wikipedia findet sich zum Hasen unter anderem folgendes: Nach der japanischen (dort als tsuki no usagi, jap. 月の兎) und koreanischen (dort als RR dal tokki, kor. 달토끼) Überlieferung rührt er lediglich die Zutaten für Reiskuchen (Mochi). Der Mörser symbolisiert dabei den Neumond, der die Mondsichel gebiert. (vgl. Mondgesicht)
[…] er begriff den Krieg nicht, begriff in weniger von Tag zu Tag.
Die vier Prinzipien der Kriegskunst, die recht Distanz, den rechten Takt, die gute Verbindung und den magischen Augenblick: der, da der andere stirbt.
Weiterer Rückblick in die Kindheit von Keijiro. Die Auflösung, woher der Nachname Seki kommt. Sein Durchhaltevermögen (die Ratte-im-Reissfass-Technik) und viele weitere Erklärungen folgen in Kapitel 15, warum Keijiro wurde, wie er wurde. Und seine Verbindung zu seinem Meister Yuudai wird klar.
„Fortan schlief Keijiro bei Yuudai.“
Der Knabe und Schüler wird zum Sexpartner, wie es unter Samurai verbreitet war, s. Wikipedia:
Homosexualität in Japan – Wikipedia
Aus den religiösen Kreisen breitete sich die gleichgeschlechtliche Liebe in die Kriegerklasse aus, in der es für einen jungen Samurai üblich war, bei einem älteren und erfahreneren Mann in die Lehre zu gehen. Für eine Anzahl von Jahren wurde er dessen Geliebter. Diese Praktik war als Shudō bekannt, die Sitte der Jungen, und stand in der Kriegerklasse in hohem Ansehen.
„Liefde!„
Keijiro hatte einen Schiffsnamen „Rifuto“ genannt, Abel kommt nach über einige Assoziationsecken auf „Liefde“, holländisch für Liebe. Scheint ein weiter Weg zu sein, aber… Das japanische „Rifuto“ bedeutet englisch „Lift“. Eine andere Frage wiederum ist, was „Lift“ im 17. Jahrhundert meinte…
Er beruhigte den Bienenschwarm in seinem Bauch.
Der Mann im Mond war angenagt an der Wange, der dumme Mann im Mond mit seinem gefrässigen Grinsen.
In Kapitel 16 kommt vieles zusammen: Abel, der endlich gelernt hat, wie „Stillsitzen“ geht und was er tun muss, um sich zu beruhigen. Dann die Erkenntnis, dass das Schiff, das Keijiro sucht, die Liefde ist – einer der Besitzer war sein Grossvater. Ob er das verraten will, weiss Abel noch nicht. Man möchte ihm raten, es nicht zu tun, auch wenn man nicht genau weiss, warum.
Auch Abel macht sich Gedanken über den Mond – mit dem Bild vom Mann im Mond, wie Keijiro vorher über den Hasen im Mond.
Die beiden nähern sich also einander an.
„Es verwunderte Abel, und dann kränkte es ihn, und dann bekümmerte es ihn, und dann machte es ihn wütend.“
Der Inspektor zeigt sich nicht mehr. Abfolge der Gefühle bei Abel, unbekümmert mit „dann“ aneinandergereiht. Auflösung dieser Gefühle im folgenden Absatz, in Meditationsstellung. Abel hat gelernt, seine Emotionen zu kontrollieren.
Und noch ein Test – um dann zu schauen, ob man diesen Löschen kann.
Und auch zum Besprechen: Unterschied „Visuell“ / „Text“? Werkzeugleiste umschalten etc.
„Aber falls man bei meinem Tod alle meine Gräten sieht, rächst du mich bittschön, und zwar bis ins letzte Glied!“„Pah! Oh! Oh! Pah!“ Der Meister klatschte in die Hände, damit die Todesgötter Yuudais Gerede nicht hörten.„Versprochen“, sagte Keijiro.
- Das ist eine Schlüsselstelle – das mit dem Rächen. Siehe Seite 52
- Und das mit dem Klatschen erinnert mich an das Gegenteil: bei den Shinto-Tempeln klatscht man doch in die Hände, damit die Götter einem zuhören.
Wobei dazu habe ich gerade folgendes im Internet gelesen: Warum klatschen Japaner ihre Hände an Shinto-Schreine?
Hände-Klatschen vor einem Shinto-Schrein wird oft falsch verstanden, dass der Beter die Aufmerksamkeit der Kami, oder Shinto Gott auf ihn ziehen will.
Historisch gesehen ist die Hände-Klatschen jedoch eine alte Form des Erweis vom Respekt in Japan. In alten Zeiten klatschten die Menschen ihre Hände bei Zeremonien am kaiserlichen Hof oder bei der Erhalt eines Geschenks von einer Person in einer hohen Position. Daher wird durch die Hände-Klatschen vor einem Shinto-Schrein oder einem Altar Repek zur Gottheit gezeigt.
Der Stahl sah aus, als sei ein winziges Tier darüber gelaufen, lauter kleine Tatzenspuren, zur Hälfte fortgewaschen von den Wellen der Härtelinie, und darüber war Nebel, den ein sachter Wind zur Spitze trieb, wo er sich ballte.
Super schön beschrieben – ich sehe die Klinge des Langschwertes vor mir.
Wie übt man Rache an einer zerfetzten Kanone, Rache bis ins letzte Glied? Das fragte sich Keijiro. Er nahm Yuudais Schwert mit. Und er zeichnete sich, wie er nachher erfuhr, sehr aus in dieser sehr wichtigen Schlacht, im fünften Jahr der Epoche der Langen Glücklichkeit, zwei Tage vor Frostbeginn.
Das ist die zentrale Frage, wie man Rache übt an einer zerfetzten Kanone. Diese Stelle geht auf den Anfang der Novelle zurück. Zitat erster Satz: „Ich habe seit geraumer Zeit eine offene Frage“ sagte Seki Keijiro zu seinem Schwiegervater. „Zwei Tag vor Frostbeginn fährt sie mir immer kalt in die Knochen.“
Und interessant auch, dass er sich selbst nicht daran erinnert, dass er sich in der wichtige Schlacht auszeichnete. Klingt nach „in Trance funktionieren“ nach dem schweren Verlust von Yuudai.
[…] Ich kann sonst nichts als Bänder weben. Brauchst Du das? Nein, nicht wahr? Man soll nichts lernen, was man nicht braucht.“
Den letzten Satz sollte man nie Schulkindern zukommen lassen 😉 Aber Spass beiseite. Ich finde, dass das nicht stimmt. Denn was weiss man schon, was man mal brauchen könnte. Lernen ist immer gut – aktiviert die Synapsen und so.
[…] webte sein ranunkel-herbstblattgelbes Band mit Schildkrötenmuster und sah seinen Gedanken zu.
Wieder mal sehr schön beschrieben – man macht mechanisch etwas – weben – und sieht dabei seinen Gedanken zu!
Und die Farbbezeichnung: ranunkel-herbstblattgelbes. Toll!
Etwas wehte über seinen Rücken, und Yuudai fragte nahe an seinem Ohr, leise und blechern und fast lachend und auch ein wenig gereizt: „Was? Erschlagen?
Keijiro wird also vom Geist von Yuudai heimgesucht. Aber meint Yuudai es ernst, muss er Abel wirklich erschlagen? Keijiro möchte das nämlich nicht, es scheint, dass er Abel – wie eins Yuudai ihn – in die Lehre nehmen möchte.
“ ‚(…) denn er sitzt selber in einem Käfig der Oberkommandatur und darf auch über keine Brücke.‘ „
Keijiro vergleicht im Gespräch mit Abel die Isolation der Holländer auf Deshima mit derjenigen des Kaisers. Ein unerhörter Vorgang, der Samurai gibt dem Barbaren Einblick in die Psyche des Kaisers. Woher diese Freiheit im Gespräch? Sucht Keijioro einen Anlass zu schaffen, Abel umbringen zu müssen? Oder redet er so frei, weil Abel ohnehin sterben wird?
„‚Möchtet ihr, gute Jungfer, vielleicht die Freundlichkeit besitzen, nun doch mit mir zu …'“
Abel im Hurenhaus, sein Japanisch gibt das passende Vokabular nicht her… Zum Sex animiert fühlt er sich erst, als Keijiro die Szene (vermeintlich) heimlich beobachtet.
„Er war sehr verschossen in Keijiro. Yuudai wusste nicht recht, welcher Art diese Verschossenheit war, er wusste auch nicht, was Keijiro plante noch warum er sein altes Schwert auf dem Rücken trug; und in wen Seki Keijiro verschossen war, jetzt oder damals, ausser ständig in Kirihara Yuudai vor zweiundvierig Jahren (…)“
Yuudai, der (seit langem tot) bislang seinem Geistwesen gemäss eine diskrete Rolle gespielt hat, wird zu einer Figur mit Innenleben, in das uns die Autorin Einblick gewährt. Zugleich wird erstmals von dritter Seite das Verhältnis von Abel und Keijiro reflektiert. Die Anziehungskraft hat – jenseits der Faszination des Exotischen – entschieden eine erotische Komponente. In der Bordellszene motiviert die heimliche Anwesenheit Keijiros Abel zum Sex.
Kapitel 20 bis 25
Mir waren diese Kapitel irgendwie zu viel, zu verwirrlich. Es passiert viel, viele neue Figuren (Faktorist, Huren, deren Madame, Yuudai, der immer wieder dazwischen funkt) kommen dazu. Die Beschreibung von Abel und seiner Hure, wie er sich erst einfach fasziniert mit ihren Habseligkeiten beschäftigt und sich dann, beobachtet von Keijiro, doch der Liebe hingibt, kamen mir so rastlos vor – ganz anders wie die Kapitel vorher
Die Szenen, in denen Keijiro Abel verkleidet (sehr akribisch beschrieben), ihn mitnimmt, mit ihm durchs Land zieht, Yuudai sich immer wieder einmischt – ich habe diese Seiten in einem Zug durchgelesen, aber es gab keine Stellen, an denen ich innegehalten hätte.
Ich bin gespannt, was Du diese 22 Seiten empfunden hast.
„Hör mir gut zu“, sagte Seki Keijiro. „Eine Kanone deines Grossvaters hat meinen Geliebten erschossen. Von alleine. Er wollte sie zünden, da erschoss sie ihn. Ich hatte keinen, ihn zu rächen. Da wartete ich. Und dann kamst du. Und jetzt habe ich einen.“
Hier also die Auflösung, der Kern der Geschichte. Die sich aber doch immer wieder widerspricht. Vorher und nachher. Will Yuudai wirklich, dass er sich an Abel rächt? Eigentlich schon, sonst kann er nicht in die andere Welt übergehen. Will Keijiro Abel wirklich umbringen? Eigentlich nicht, denn er mag ihn, oder erträgt ihn gut oder er gefällt ihm (Zitat Seite 83). Und Abel? Er hat Keijiro angelogen, sein Grossvater lebt noch, auch seinem Vater und seinen Brüder geht es gut. Auch er mag Keijiro – ähnlich wie dieser in seiner Jugend Yuudai mochte, möchte er ihn zum Meister, nicht nur, um zu lehren, sondern auch um ihn zu lieben.
„Ist eine solche Rache eine Sitte deines Landes“, fragte Abel nach einer Weile, „oder bist du alleine verrückt?“
Keijiro dachte nach. Er dachte mindestens hundert Schritte lang nach, dann sagte er: „Beides.“
Dünkt mich einerseits sehr untypisch für japanische Verhältnisse, dann aber auch wieder gar nicht.
“ ‚Ist solche Rache eine Sitte deines Landes‘, fragte Abel nach einer Weile, ‚oder bist Du alleine verrückt?'“
Hübsche Stelle. Abel fragt Keijiro, ob er „alleine verrückt“ sei, ihn 42 Jahre nach dem Unfall mit der Kanone, das von einem Schiff seines Grossvaters stammt, umbringen zu wollen. Nur weil er seinem Samurai-Lehrer Yuudai versprochen hatte, dass er ihn rächen werde.
Er fochte gerne. Wenn Babbel mal die Zuge abfaulte, hatte Vater gesagt, kann er immer noch Fechtmeister werden, aber sonst fällt mir in der Tat nichts zu ihm ein.
Eine der wenigen Stellen, an denen zurück geblendet wird in Abels Geschichte.
Abel hoffte, er sei bald fertig mit seiner Naturbetrachtung. Er fühlte sich an Engländer einner, die überall botanisieren.
Hübsches Stereotyp – der botanisierende Engländer.
„Wollen ist das Geheimnis. Was du willst, das geht. Wenn es nicht geht, hast du es nicht gewollt. Wollen mit dem Bauch. So ist das.“
Das hat schon was, wenn es auch etwas vereinfacht ist.
“ ‚Ich will keinen Fisch‘, sagte Abel.
‚Ich wohl auch nicht. Deshalb ist er weg.‘
Keijiro watete an Abel vorbei zum Ufer. ‚Wollen ist das Geheimnis. Was Du willst, das geht (…). Wollen mit dem Bauch. So ist das.‘ “
Der Moment der Entscheidung scheint gekommen. Keijiro hatte angekündigt, dass er Abel töten wird. Keijiro möchte sehen, was „Abel tut“. Sich mit dem Schwert verteidigen, Keijiro angreifen. Aber Keijiro weicht zurück oder aus, und scheint mehr an den Blumen und Fischen interessiert zu sein als an dem Kampf. Schliesslich fordert Keijiro Abel auf, einen Fisch zu fangen, mit dem rechten Willen wird das gelingen. Kontext für den lakonischen Dialog.
„Nett“, sagte Keijiro. „Ich nähme mir das Kurzschwert allerdings auch weg, bevor ich mich erschlüge.“
Hier kommt der innere Widerspruch von Keijiro zu Tage. Einerseits ist er davon überzeugt, dass er Abel töten muss, andererseits will er das nicht tun und wiederum andererseits wäre es für ihn auch ein Ausweg, selbst getötet zu werden.
Sein Gesicht sah aus wie eine Wassermelone von innen.
Einfach nett, wie man ein putenrotes Gesicht beschreiben kann.
Dialog im siedend heissen Wasser zwischen Keijiro und Abel, über das Vokabular der Liebe, und die Kraft des Willens
Plötzlich taucht der Geist Yuudai wieder auf, und wir nehmen als Leser seine Perspektive ein. Er kann dem Dialog aber nur der Spur nach folgen, und damit auch der Leser. Der aufsteigende Dampf, den man sich vorstellt, verwischt die Szene ins Vage.
Er fühlte sich leicht wie die Leere.
Fühlt sich die Leere leicht an? Ich denke manchmal, es ist genau umgekehrt.
„Er hatte ein wenig Nasenbluten, sah Keijiro, von der Hitze, vom Stein oder von der Feinen Sache an sich, nicht schlimm.“
Das Ringen in der heissen Quelle hat bei Abel Spuren hinterlassen. Aber Keijiro hat Abel nicht getötet, eher scheint er ihn zum Geliebten gemacht zu haben, die Feine Sache. Dennoch fühlt sich Yuudai erlöst, er scheint in ein neues Leben ziehen zu können, auch wenn Keijiro ihn nicht gerächt hat, sondern einen Geliebten und Schüler gefunden hat, so wie vor Jahrzehnten Yuudai in Keijiro einen Schüler und Geliebten gefunden hat. Doch der Schein trügt.
„Vier Prinzipien“, sagte Seki Keijiro. „Die rechte Distanz. Der rechte Takt. Die gute Verbindung. Der magische Augenblick.“ […] „Das ist die ganze Kunst. Ob zwei Armeen gegeneinander stehen oder zwei Mann. Man muss es begreifen und üben.“ […] „Dann siehst du nicht dumm aus, wenn du das begreifst“, sagte Keijiro langsam.
[…]
„Distanz“, murmelte Abel, „Takt, Verbindung…“
[…]
„Was heisst magischer Augenblick, Herr Keijiro?“
Diese vier Prinzipien gelten nicht nur für die Kriegskunst, sondern auch für das Zwischenmenschliche. Ob Abel das begreift? Der letzte Satz des Kapitel 30 lässt einem da zweifeln.
Er kannte inzwischen sechs japonesische Wörter für die Liebe und acht für die Unzucht, und erstere passten alle nicht und letztere passten alle.
Das dünkt mich irgendwie bezeichnend für die ganze Novelle, für die Situation, für das Verständnis, resp. nicht verstehen der japonesischen Kultur.
Japonica, sagte der Kapitän, ist nichts als eine Bussübung, ich frage mich, warum man es nicht von der Landkarte streicht.
Das trifft nicht nur auf die verkauften Waren zu, sondern auch auf Abel. Für ihn wäre es besser, Japonica wäre von der Landkarte gestrichen worden.
Der Dolmetsch lief fort. Er wusste, was er wollte. Und nun wusste er auch, was Wollen bedeutet.
Zum Schluss hat Abel gelernt, was er lernen wollte. Ob er die richtigen Schlüsse daraus gezogen und die Konsequenzen bedacht hat, ist allerdings unwahrscheinlich.
Aber Seki Keijiro, auch wenn der Schwiegervater noch so viel klagte, schämte sich nicht auf Kommando.
Das ist für mich auch eine zentrale Aussage. Keijiro ist überzeugt, tun zu müssen, was er tut, Yuudai rächen zu müssen, und seiner Liebe zu diesem – und zu Abel – treu gewesen zu sein. In dem er ersteren rächte und letzteren nicht von anderen umbringen liess.
„Er war zu langsam. Der Enkelsohn knallte kopfvoran auf die Bodenmatte.“
Keijiro wird alt, er nähert sich wohl seinem 60. Geburtstag. Mit der Tötung Abels hat er seine letzte Samurai-Pflicht erfüllt. Seine Reflexe lassen nach, wie sein Enkel schmerzhaft erfährt.