Nostromo
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Besprechung
Moritz T.
Part One „The Silver of the Mine“
In etwas schwerfälligen Sätze, die aber von eigener Eleganz sind, portraitiert der Autor das fiktive südamerikanische Land Costaguana, und vor allem den Hafenort Sulaco. Beschreibung der berückend schönen, aber auch latent bedrohlichen Landschaft. Fokus auf die Europäer, die hier in der Fremde ihr Glück suchen, in einem Land voller politischen Unruhen und Umstürze. Die Titelfigur Nostromo, ein Italiener, wird ohne alle Ironie glorifiziert, er bewährt sich im Kampf und als Beschützer der Wehrlosen, wird von allen verehrt und den Frauen begehrt. – Conrad schafft eine traumhafte Szenerie, worin er sich mit schöner Leichtigkeit durch Zeit und Raum bewegt, und dann doch Figuren auch einer eingehenden Betrachtung unterzieht, wie die idealisierte Emilia Gould, Gattin des Minenbesitzers.
«Das Silber der Mine» bringt Bewegung in die träge Landschaft, die Eisenbahn rückt in die abgelegene Gegend vor, der Landes-Diktator und reiche Amerikaner statten Sulaco einen Besuch ab.
„Sulaco had found an inviolable sanctuary from the temptations of a trading world in the solemn hush of the deep Golf Placido (…).“
Eine Hafenstadt, isoliert vom globalen Handel durch die Windstille des tiefen, vorgelagerten Golfes, vermutlich auch etwas im Windschatten der Geschichte. Conrad setzt Sulaco in Szene.
Part One, Chapter 1
Spektakuläre Landschaft, mit merkwürdigen geographischen Phänomenen, denen die Menschen des abgelegenen Hafenortes Sulaco ausgeliefert scheinen. Die Landschaft wird zu Beginn der Erzählung mit Bedeutung aufgeladen. Was sind das wohl für Menschen, die in dieser Umgebung leben?
„On the second evening an upright spiral of smoke (…) was seen for the first time within memory of man (…).“
Die Halbinsel Azuera. Eindrückliches Bild für die Wildheit und die Einsamkeit dieser Gegend, der aufsteigende Rauch des Lagerfeuers wagemutiger Schatzsucher, Gringos, die dann nie mehr gesehen werden, und der Legende nach zwar den Schatz gefunden haben, aber auf der Halbinsel für immer stecken geblieben sind.
„Nostromo, a fellow in a thousand (…)“
Nach dem beschaulichen Kapitel zum Auftakt mit der Beschreibung der (allerdings latent bedrohlichen) Landschaft rund um Sulaco finden wir uns unvermittelt in einem Tumult wieder, indem der Titelheld Nostromo einen gestürzten Diktator vor dem Mob in Sicherheit bringt. Weitere Attribute für den Helden: „invaluable fellow“, „‚a man absolutely above reproach'“.
Part One, Chapter 4
Nach der detaillierten Schilderung der Landschaft rund um Sulaco und des Tumults um den gestürzten Diktator Ribiera Zoom auf das Innenleben und die Geschichte eines älteren Mannes, Giorgio Viola, Idealist und Italiener im südamerikanischen Exil, der mit Garibaldi gekämpft hatte, seinem Idol. Vater zweier Töchter, Hotelbesitzer, eng verbunden mit seinem Landsmann Nostromo.
„The flame showed a bronze, black whiskered face, a pair of eyes gazing straight (…)“
Nostromo taucht kurz aus der Finsternis auf. Er begleitet Sir John, den aus London angereisten Vorsitzenden der Eisenbahn-Gesellschaft, auf dem letzten, gefährlichen Wegstück nach Sulaco.
„By the time he was twenty Charles Gould had, in his own turn, fallen under the spell of the Sao Tomé mine.“
Mr Gould senior war gezwungen worden, die Silber-Mine zu unvorteilhaften Bedingungen zu übernehmen. Die Mine war das Hauptthema in den Briefen an seinen in England zur Schule gehenden Sohn Charles, der sich in Europa kundig macht im Minen-Geschäft. – Als der Vater stirbt, sagt Charles zu seiner Frau: „‚It has killed him!'“ (p. 70)
„(…) and at once fell prey to distress, incertitude and fear.“
Entscheidendes Gespräch zwischen Charles Gould und seiner Frau; wird sie ihm nach Südamerika zu der Sao Tome-Mine folgen, wo Charles das Erbe seines Vaters antreten will? – Conrad verlangsamt das Erzähltempo, psychologische Analyse.
„She had never before given him such a fascinating vision of herself. All the eagerness of youth for a strange life, for great distances, for a future in which there was an air of adventure, of combat – a subtle thought of redress and conquest, had filled her with an intense excitement, which she returned to the giver with a more open and exquisite display of tenderness.“
Die Vorfreude auf das Abenteuer in Südamerika erfüllt Mrs Gould. – Conrad wird diesen Eifer aus eigener Erfahrung sehr gut gekannt haben.
„A woman’s true tenderness, like the true virility of a man, is expressed in action of a conquering kind.“
Viel Lobpreis für Mrs Gould, und eine klare Sicht auf die Tugenden der Geschlechter.
Part One, Chapter 7
„(Sulaco Valley) unrolled itself, with green young crops, plains, woodland, and gleams of water, park-like, from the blue vapour of the distant sierra to an immense quivering horizon of grass and sky, where big white clouds seemed to slowly fall into the darkness of their own shadows.“ (p. 88) – Emilia Gould ist mit ihrem Mann unterwegs und entdeckt Costaguana, an der Oberfläche ein Idyll, fast scheint es, als ob ihr nobler Charakter auf die Umgebung abfärbt. Passende Illustration auf der folgenden Seite. – Traumhafte Sequenz, mit Sätzen wie dem hier weichgezeichnet: „The ladies of the house would talk softly in the moonlight under the orange trees in the courtyards (…)“ (p. 89), die fast vergessen machen, wie Costaguana unter Gewalt und Misswirtschaft leidet.
Daran erinnert dann der zweite Teil des Kapitels, der Charles Gould im Gespräch zeigt mit einem korrupten Provinz-Beamten.
„The material apparatus of perfected civilisation which obliterates the individuality of old towns under the stereotyped conveniences of modern life had not intruded as yet (…).“
Die – hier rhythmisch klangvolle – Klage über die Gleichmacherei der Moderne gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Part Two: „The Isabels“
Im Zentrum von Teil Zwei steht Martin Decoud. Er ist Journalist und ein intellektueller Skeptiker, der es mit der herrschenden, aber aktuell vom Umsturz bedrohten Elite Sulacos hält. Weniger aus politischer Überzeugung, sondern weil er hoffnungslos verliebt ist in Antonia Avellanos, die zu dieser Elite gehört. Conrad zeigt die Liebenden in einem sorgfältig gestalteten, langen Dialog, der eine schöne Intimität evoziert. Decoud hat aber durchaus eine politische Vision: er möchte Sulaco vom Rest des schwierig zu regierenden Costaguanas abspalten. Aber auch bei dieser Vision geht es ihm in erster Linie darum, mit Antonia in Frieden zusammenleben zu können.
Etwas unvermittelt wird Decoud in die Turbulenzen der Revolution und in ein Abenteuer gestürzt: er rettet zusammen mit Nostromo das Silber aus der Mine Sao Tomé vor den Sulaco erobernden aufständischen Truppen, in einer brillant geschilderten Nachtfahrt durch den stockdunklen Golf, zusammen mit Nostromo. Decoud entlarvt das Heldentum Nostromo als Eitelkeit: Nostromo ist vor allem anderen an seinem Ruf gelegen.
Part Two, Chapter 1
Kleine historisch-politische Abhandlung: Der Minenbesitzer Gould und sein kalifornischer Investor üben Einfluss auf das politische Geschehen Costaguanas aus und führen einen Umsturz herbei: der unberechenbare und grausame Diktator Guzman Bento wird abgelöst durch den Gould & Co genehmen Diktator Ribiera.
Part Two, Chapter 5
Kapitel 1 des zweiten Teils referierte im trockenen Ton die politischen Verhältnisse in Costaguana, die jetzt in in diesem langen Kapitel 5 konkret und anschaulich werden. Die Elite Sulacos, vom Priester über den Intellektuellen bis zum Handelsreisenden, die den neuen Herrscher Ribiera unterstützt, versammelt sich im Salon des Minen-Besitzers Gould.
Im Herzen des Kapitels belauschen wir aber das Gespräch zweier junger Leute am Randes des Salons. Der Journalist Martin Decoud ist sehr verliebt in Antonia Avellano, die bezaubernde Tochter José Avellanos, eines Staatsmannes, Freundes und Nachbarn der Goulds. Conrad gibt dem Gespräch zwischen Decoud und Antonia viel Raum, wobei er eher Decouds Perspektive wiedergibt. Die beiden schweigen immer wieder mal, der Blick schweift über die Strasse oder zurück ins Innere des Salons, wo die politische Debatte stattfindet. Auch zwischen Decoud und Antonia geht es an der Oberfläche um Politik: Antonia ist eine Patriotin und Anhängerin Ribieras, Martin politisiert als Journalist auf ihrer Parteilinie, aber er ist sehr skeptisch, ob Stabilität und Frieden erreichbar sind. Ihm geht es in erster Linie um die Nähe zu Antonia, die Conrad in diesem intimen Doppelportrait gekonnt evoziert.
„As the great Liberator Bolivar had said in bitterness of his spirit, ‚America is ungovernable. Those who worked for her independence have ploughed the sea‘.“
Der Journalist Martin Decoud im Zwiegespräch mit Antonia, die an eine vernünftige politische Zukunft Costaguanas glaubt, dank Reform und Revolution. Er bezweifelt stark, ob sich das Land befrieden lässt.
„Their comparative isolation, the precious sense of intimacy, the slight contact of their arms, affected him softly (…)“
Martin Decoud ist verliebt in Antonia Avellanos, und er geniesst das Zwiegespräch, und vielleicht auch, dass man das Paar von der Strasse und vom Salon aus sehen, aber ihrem Gespräch nicht folgen kann. – Conrad vermittelt die Intimität, die Decoud spürt, auch dem Leser.
„Martin Decoud, the dilettante in life, imagined himself to derive an artistic pleasure from watching the picturesque extreme of wrong-headedness into which an honest, almost sacred, conviction may drive a man. (…) Those two men got on well together, as if each had felt respectively that a masterful conviction, as well as utter scepticism, may lead a man very far on the by-paths of political action.“
Martin Decoud und Father Corbelán, der Intellektuelle und der Priester.
Part Two, Chapter 7
Martin Decoud, Journalist, Intellektueller mit europäischer Affinität, schreibt einen sehr langen Brief an seine Schwester. Er springt quasi für den Erzähler ein mit seiner Sicht des Umsturzes.
Am Ende des Kapitels finden wir Nostromo und Decoud allein auf einem Boot in stockdunkler Nacht, um das Silber vor den herannahenden Truppen der Aufständischen in Sicherheit zu bringen. Allein? Nicht ganz, wie sich herausstellt.
„Decoud, incorrigible in his scepticism, reflected, not cynically, but with general satisfaction, that this man was made incorruptible by his enormous vanity, that finest form of egoism which can take on the aspect of every virtue.“
Die beiden Schiffbrüchigen mit ihrem Silberschatz haben wenig gemeinsam. Nostromo, der verklärte Held, scheint nur für seinen Ruf zu leben. Er tut alles dafür, in einem gloriosen Licht zu erscheinen.
Part three: „The Lighthouse“
Weit über hundert Seiten widmet der Autor der verworrenen Situation in Sulaco, das faktisch den aufständischen Truppen preisgegeben wird. Nostromo, der local hero, wird für tot gehalten, der Silberschatz, den man vor den Aufständischen retten wollte, für gesunken. Statt einer Machtübernahme beobachtet wir ein Machtvakuum, Verzögerung, Zweifel und Unsicherheit. Oder: Conrad unterläuft Lese-Erwartungen und erzählt (fiktive) Geschichte nicht von den Fakten oder den Resultaten her, sondern fokussiert auf die Momente dazwischen, Dialoge, Introspektion, Psychogramme.
Dann ein Schnitt, und im Rückblick wird das Happy end (aus Sicht der europäischen Elite) des Aufstands geschildert, langer Epilog. Sulaco ist nun das Zentrum eines eigenen kleinen Staates, mit den Silberminen-Betreibern an der Macht. Die separatistische Vision des Journalisten Martin Decoud ist realisiert worden. Am Ende spitzt sich die Erzählung nochmals zu, mit dem tragischen Ende des Titelhelden. Zum Verhängnis wird ihm – wie zuvor Decoud – der Silberschatz.
„‚You know, he doesn’t talk.'“
Die Rede ist von Charles Gould, dem Minenbesitzer, der in der Tat wenig sagt, aber allerlei Projektionen auf sich zieht. Karikatur eines bestimmten Typs von Engländer?
„In such conditions of manner and attire did Dr Monygham go forth to take possession of his liberty. And these conditions seemed to bind him indissolubly to the land of Costaguana like an awful procedure of naturalisation, involving him deep in the national life, far deeper than any amount of success or honour could have done.“
Dr Monygham erschien im Verlauf der Erzählung als etwas absonderliche, mürrische Figur, denen die übrigen Europäer rund um Charles Gould nicht so recht über den Weg trauten. Hier erfährt man nun seine grausame Geschichte: Folter, ein erzwungenes Geständnis und Haft unter einem früheren Diktator hatten Monygham gebrochen, oder mindestens unwiderruflich verändert: they did away with his Europeanism.
„He had seen himself triumphant, unquestioned, appeased, the idol of the soldiers, weighing in secret complacency the agreebale alternatives of power and wealth open to his choice. Alas! How different! Distracted, restless, supine, burning with fury, or frozen with terror, he felt a drad as fathomless as the sea creep upon hom from every side.“
Colonel Sotillo, ungehindert in Sulaco gelandet, ein Eroberer? Aber die Situation ist verworren. Wo ist der Silberschatz? Wie verhält sich die alte Elite rund um Carlos Gould? Er traut auch Montrero nicht, einem der anderen aufständischen Anführer, der auf dem Landweg nach Sulaco gelangt ist.
Part Three, Chapter 10
Viele Seiten lang verharrte die Erzählung in jener Phase des vermeintlichen Übergangs von der alten zur neuen Herrschaft in Sulaco. Jetzt erfolgt ein Zeitsprung, und wir als Leser sind quasi der „privileged passenger“, dem Captain Mitchell den glücklichen Ausgang der politischen Unruhen erzählt. Decouds Vision einer separaten Sulaco-Republik ist umgesetzt worden, die alte Elite hat sich behaupten können (natürlich dank Nostromos Heldentat).
„In our activity alone do we find the sustaining illusion of an independent existence as against the whole scheme of things of which we form a helpless part.“
Martin Decoud, Journalist, Skeptiker, Intellektueller, verliert, allein mit dem Silberschatz auf der Insel, allmählich den Verstand. Nicht einmal ein Vogel fliegt hier vorbei. Der Golf ist an dieser Stelle in einem toten Winkel, windstill, lebensstill. Die Einsamkeit ist nicht zu ertragen, die Umgebung wirkt einen Sog aus, der Decoud nicht widerstehen kann. Er geht in ihr auf. – Grandiose Stelle. Was für ein Satz!