Picknick auf dem Eis
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Besprechung
Gaby K.
Moritz T.
Kapitel 1
Ich mag Bücher mit kurzen, knappen, aussagekräftigem Kapiteln. Dieses erste lässt auf 2 Seiten schon ein klares Bild entstehen von Viktor, aber auch vom Ort, wo er lebt. Und gleichzeitig macht es neugierig, wie er es sich leisten kann, Mischa zu füttern.
Er hatte sich einsam gefühlt. Aber der Pinguin Mischa brachte seine eigene Einsamkeit mit, jetzt ergänzten sich die beiden Einsamkeiten, was eher der Eindruck einer gegenseitigen Abhängigkeit als den einer Freundschaft erweckte.
Können sich Einsamkeiten ergänzen? Eine wichtige Frage in Zeiten von Corona, wo das Gefühl der Einsamkeit bei vielen zunimmt. Und es nichts mit „allein sein“ zu tun hat. Man kann sich auch in Gesellschaft einsam fühlen.
Den Redakteur der Zeitung kannte er ziemlich gut – sie hatten einige Male fröhlich zusammen gepichelt, und danach hatte ihn der Chauffeur der Zeitung steht nach Hause gefahren.
(Ich musste nachschauen, ob ich „picheln“ richtig verstehe – und doch, schon, wir würden wohl eher „bechern“ sagen.)
Gleichzeitig zeichnet dieser Satz auch am Bild des Ortes weiter, wo sich die einfachen Leute langweilen, weil sie sich nichts leisten können und Steine zum Vergnügen auf unbescholtene Leute werfen, in dem der Zoo seine Tiere nicht mehr füttern kann, dass dort aber der Redakteur einer grossen Zeitung sich einen Chauffeur leisten kann.
Viktor gelang es nicht, zum Chefredakteur vorzudringen, also klopfte er bei der Kulturabteilung an.
„Eigentlich drucken wir überhaupt keine Literatur…“
Eine Kulturabteilung, die keine Literatur druckt?
Er befreite sich von seinem Besucher mit einer Visitenkarte…
Auch ein möglicher Einsatz von Visitenkarten 😉
Der Chefredakteur sah eher wie ein gealterter Sportler als ein Journalist aus. Vielleicht war dem auch so, aber in seinen Augen schimmerte jene merkwürdige Ironie, die eher von Verstand und Bildung kommt als vom Konditionstraining in der Sporthalle.
Augen, in denen Ironie schimmert! Da kann man ja gespannt sein, was noch kommt.
Da er fast einen Meter gross war, konnte er alles auf dem Tisch überblicken. Er betrachtete die Teetasse, dann richtete er seinen Blick auf Viktor. Er sah ihn durchdringend an, wie ein durch Erfahrung klug gewordener Parteifunktionär.
Wie ein durch Erfahrung klug gewordener Parteifunktionär!
… das Vaterland kenn ja nicht alle seine Helden, viel bleiben auch gerne inkognito…
Stimmt – zum Glück.
Kapitel 5
Die Beschreibung der Entstehung des ersten Kreuzchen – herrlich. Und die Pointe am Schluss, die Kartei in der Kriminalabteilung.
Kapitel 6: Der bestellte Nekrolog.
„Diesem Cocktail von Worten und Alkohol entstieg eine dritte Person“. Und auch ein klares Bild des ‚guten alten Freundes‘, der den silbrigen ‚Lincoln‘ fährt.
Von Fjodor erhielt Viktor die fehlenden Details aus den Lebensläufen, die wie besonders pikante indische Gewürze den Nachruf – ein langweiliges Gericht aus einer traurigem Grundsubstanz – in ein Gericht für Gourmets verwandelten
Pikante Gewürze – und Details – können genau das.
Der Herbst ist die beste Zeit, um Nekrologe zu schreiben; die Zeit des Welkens, des Trauerns, der Suche nach dem Vergangenen. Der Winter dagegen ist eine gute Zeit fürs Leben, er ist an sich fröhlicher mit seinem erfrischenden Frost und dem in der Sonne glitzernden Schnee.
Auch eine Variante, den Herbst zu beschreiben. Andere würden warme Herbsttage und die farbige Natur als Freude, als eine Verlängerung des Sommers sehen.
Kapitel 8
Kapitel 8 gibt einige Informationen her: wir sind also in Kiew.
Kognak („Hm! Echter!“) scheint eher nicht selbstverständlich.
„Das Café war leer und ruhig. Die richtige Atmosphäre für jemanden, der von der Zukunft träumen – oder auch umgekehrt – sich an die Vergangenheit erinnern wollte.“
Viktor, der davon geträumt hatte, Romanschriftsteller zu werden (und immer die falschen Musen hatte) fühlt sich weder einsam noch unglücklich.
„Nachts hörte Viktor, der einen leichten Schlaf hatte, den unter Schlaflosigkeit leidenden Pinguin hin- und herschlurfen.“
Ein schlafloser Königspinguin als Haustier.
Viktor erinnerte sich an den alten Witz vom Pinguin und dem Polizisten und lächelte.
Aber er erzählt den Witz nicht – gemein 😉
Ich kenne nur diesen:
Ein Mann ging über die Straße und sah einen Pinguin. Daraufhin ging er zu einem Polizisten und sagte ihm:
„Ich habe ’n Pinguin auf der Straße gefunden.“ Der Polizist antwortete daraufhin:
„Bringen Sie Ihn in den Zoo.“
Der Mann ging am nächsten Tag mit dem Pinguin in den Zoo. Dort traf er den Polizisten wieder und dieser sagte ihm:
„Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen den Pinguin in den Zoo bringen.“
Der Mann entgegnete ihm:
„Das habe ich ja getan. Und morgen gehe ich mit ihm ins Kino.“
„Der Revierpolizist kam Viertel vor drei.“
Triste Landschaft, graue Städte, zeitweise ohne Elektrizität; Viktors Einsamkeit. Zum anderen aber märchenhaft freundliche Chefredakteure und Quartierpolizisten (dieser hier ist ohne weiteres bereit, den Pinguin in Viktors Abwesenheit zu füttern). So recht kann man sich noch keinen Reim machen.
Oft begegnen wir dem Tod im Leben, aber selbst der Tod eines nahen Menschen zwingt einen, weiterzuleben, trotz allem weiterzuleben. Alles ist voneinander abhängig. Das Leben aller ist ein Ganzes, und deshalb hinterlässt der Tod eines kleinen Teils des Ganzen immer noch Leben, weil die Menge der lebendigen Anteile am Ganzen immer grösser ist als die Menge der toten Anteile…
Wie wahr.
Je mehr Gräten ein Fisch hat, desto besser schmeckt er. Ich erinnere mich noch, wie ich mal Walfischfleisch probiert habe – das ist ja immerhin auch ein Fisch! Keine Gräten aber auch kein Geschmack…
Wie philosophisch – aber ist das auch richtig?
„‚Eine seltsame Zeit für Kinder‘, dachte Viktor. ‚Ein seltsames Land, ein seltsames Leben, das man gar nicht wirklich kennen möchte, man möchte bloss überleben, c’est tout… ‚“
Trostlosigkeit im postsowjetischen Kiew; Viktor ohne Frau oder Freunde, sein einziger Gefährte, der Pinguin, scheint unter einer depressiven Verstimmung zu leiden. Etwas dubiose Auftraggeber für Viktors Nekrologe. Schüsse, Anzeichen der Gewalt im Hintergrund.
„‚Man wollte Dir einfach was Gutes tun.'“
Neben den „Hauptstadtnachrichten“ gibt es einen zweiten Auftraggeber für Viktors Nekrologe, einen mysteriösen Mischa, der jetzt mit seiner Tochter Sonja bei Viktor erscheint und mit der reichlich unvermittelten Anfrage, ob sie bei ihm wohnen könne.
„Gutes tun“: Mischa insinuiert, dass der Tod des Abgeordneten Jakornitzkij mit dem Wunsch Viktors zusammenhängt, endlich einen seiner Nekrologe gedruckt zu sehen…
>Menschen, die einen Nekrolog verdienen, haben gewöhnlich irgendetwas erreicht<, dachte er. >Sie haben für ihre Ziele gekämpft, und wenn man kämpft, ist es schwer, sauber und ehrlich zu blieben. Und jeder Kampf in der heutigen Zeit ist ein Kampf um materielle Werte. Die verrücktesten Idealisten sind wie eine untergegangene Klasse verschwunden. Übriggeblieben sind verrückte Pragmatiker…<
Da ist leider etwas Wahres dran. Trotzdem gibt es die Idealisten – und die ’sauberen‘ Leute noch und genau die sollte man sich zum Vorbild nehmen.
„Hier hingegen war alles mit Angst durchtränkt. Hier sangen nicht einmal die Vögel, als ob sie keinerlei Lust dazu spürten.“
Im Wochenendhäuschen des Quartierpolizisten, wohin Viktor (samt Sonja und Pinguin) sich nach einer vagen Warnung des Chefredaktors in Sicherheit gebracht hat. Kurz träumt sich Viktor weg, in „eine Schweiz der Seele“. – Es singen keine Vögel; der ganze Roman scheint in einem schalldichten, isolierten Raum stattzuhaben.
Sein Ausland – das war ein stiller Ort, eine Schweiz der Seele, bedeckt vom Schnee der Ruhe.
Sehr verklärtes, aber hübsches Bild…
Der Winter war im Januar träge – er nützte den Schnee des vergangenen Jahres, der aufgrund der andauernden Kälte nicht geschmolzen war. Der Neujahrsschmuck hing zwar noch in den Schaufenstern, aber die Feiertagsstimmung war verflogen und hatte die Leute mit dem Alltag und den Sorgen um die Zukunft alleingelassen.
Auch wenn wir im Unterland keinen Schnee hatten, so passt diese Beschreibung trotzdem für den Corona-Jahreswechsel 2021/2022.
„Und wieder die Anspielung auf irgendeine Protektion, auf irgendein ‚Dach‘, das Viktor nicht kannte. All dies teilte sein Leben in zwei Hälften; die eine Hälfte kannte er, die andere Hälfte seines Lebens blieb im rätselhaft.“
Der Chefredakteur hatte Viktor dringend empfohlen, sich zu verstecken. Dann gibt er Entwarnung und zeigt ihm das Foto zweier Leichen: Killer, die auf Viktor angesetzt waren (?). Schliesslich kriegt Viktor Besuch von einem Freund Mischas, Vater von Sonja: Mischa sei tot, er nähme jetzt Sonja mit. Der Besucher insistiert aber nicht und verschwindet. Zuvor hatte er darauf angespielt, dass Viktor Protektion genösse. Viktor tappt im Dunklen.
„‚Genehmigt. Für den 14.2.96.'“
Der sonst so selbstbewusst auftretende Chefredaktor erscheint bei Viktor und schickt ihn in sein Büro, eine braune Mappe aus dem Safe zu holen; dort entdeckt Viktor aber auch seine Nekrologe, mit Aktenvermerken. Dieser hier ist zukunftsbezogen: wir schreiben den 3. Februar 1996.
„Da lief der Fernseher, und Sonja schlief angezogen auf dem Sofa.
‚Sie ist müde‘, dachte Viktor.“
Hmm, nicht sehr substanziell, diese Information. Andere Dinge werden knapp abgehandelt. Würde sich das Kindermädchen Nina nicht von Sonja verabschieden wollen, mit der sie den Tag zusammen verbracht hatte, und bei der Gelegenheit entdecken, dass Sonja schläft?
„‚Ich habe eine Suppe gekocht, soll ich sie aufwärmen?‘ fragte Nina und sah Viktor in die Augen.“
Was Viktor als Aufforderung zum Beischlaf des Kindermädchens zu deuten scheint, der freud- und eher lustlos vollzogen wird.
„Nina nickte. Viktor sah sehr müde aus. In seinen Blicken und Worten spürte sie eine grosse Unsicherheit.“
Der Roman wird aus der Perspektive Viktors erzählt, der sich (häufig vergeblich) einen Reim auf seine Umgebung zu machen versucht. Etwas unvermittelt hier Ninas Innenperspektive.
Die Vergangenheit glaubt an Daten. Und das Leben jedes Menschen besteht aus Daten, die dem Leben ihren Rhythmus geben, das Gefühl einen stufenartigen Fortgangs, als könne man sich von der Höhe des Datums aus umdrehen, hinunterschauen und die eigene Vergangenheit sehe. Eine klare, verständliche Vergangenheit, Quadrate für die Ereignisse und Linien für die Wege.
Das stimmt und ist gut formuliert.
„Nein, entschied Viktor, der Teufel soll es holen, aber es ist entschieden gesünder, nicht über all das nachzudenken.“
Der Chefredakteur ist zurückgekehrt, Viktor soll wieder Nekrologe schreiben; aber welche Rolle spielt er dabei? Was bedeuten die (in der Zukunft liegenden) Daten auf seinen Nachrufen? Viktor beschliesst, das nicht genauer ergründen zu wollen.
Seine Zukunft konnte er sich überhaupt nur vorstellen, wenn er sich bemühte, vorwärts zu schauen und sich nicht damit aufzuhalten, Geheimnisse zu entschlüsseln oder den wechselhaften Sinn des Lebens zu ergründen. Das Leben ist ein Weg, wenn man Umwege macht, scheint es noch länger. Ein langer Weg ist ein langes Leben. Dabei ist der Prozess wichtiger als das Ziel, obwohl das Endziel des Lebens sowieso immer dasselbe ist: der Tod.
Diese Erkenntnis scheint fast eine Schlüsselstelle des Romans – resp. Viktors Lebens zu sein.
„Dabei fiel ihm auf, wieviel leichter es war, über das Schicksal eines anderen zu entscheiden als über sein eigenes. Umso mehr, als jeder Versuch, sein Schicksal zu verändern, sowieso unerwünschte Folgen hätte, die es nur noch mehr belasten würde.“
Etwas wohlfeile Überlegungen. Viktor kommt zum Schluss, dass seine Schwierigkeiten allesamt mit dem Pinguin im Zusammenhang stehen. Deshalb will er ihn in die Antarktis spedieren.
Sein Äusseres war nichtssagend, er konnte wer auch immer oder niemand sein. Ihm fehlten alle Eigenschaften, aufgrund derer man seinen Charakter oder seine Beruf bestimmen konnte.
Kann man das denn überhaupt „von aussen“ sagen, wie weiss Viktor, was für Eigenschaften er hat?