Secondhand-Zeit
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Besprechung
Moritz T.
„Im Grunde sind wir Menschen des Krieges.“
Der homo sovieticus war immer im Modus des Krieges. Friedenszeiten dienten der Vorbereitung für den Krieg.
„Ich habe nach Menschen gesucht, die fest mit der Idee verwachsen waren, sie so in sich aufgenommen hatten, dass sie sie nicht mehr auslöschen konnten – der Staat war ihr Universum geworden, er ersetzte ihnen alles, sogar das eigene Leben.“
Die Autorin erläutert ihr Vorgehen bei der Auswahl der Gesprächspartner. Aber sie sagt auch, dass es nicht viele gab, „über deren Seele der Staat keine Macht mehr“ hatte. „Die Mehrheit fühlte sich von der Freiheit genervt (p. 12). Die versammelten Stimmen in diesem Buch sind also durchaus repräsentativ.
„Nach Tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens.“
Keine Historikerin, eine „Menschenforscherin“.
„‚Im Hauptberuf sind wir Leser. Zuschauer.'“
Eher Oblomov auf dem Sofa, als ein Mann der Tat wie Stolz. – Das greift natürlich zurück in die vorsowjetische Zeit.
„‚Er wollte zurück nach Russland, aber draussen war Chicago…'“
Über Solschenizyns Rückkehr.
„‚Das halbe Land wartet auf einen neuen Stalin. Dass er kommt und für Ordnung sorgt…'“
Eine ehemalige kommunistische Funktionärin hadert mit dem Kapitalismus, und sehnt sich zurück in die Sowjetzeit.
„(…) und nun sagen sie im Radio, dass der Sozialismus zu Ende ist. Aber wir… wir sind noch da…“
Ein Leben voller Entbehrungen, um den Sozialismus aufzubauen. Ein Leben verbracht in Geduld, warten auf eine eigene Wohnung, warten auf ein besseres Leben. Und dann soll plötzlich alles zu Ende, ein Irrtum gewesen sein? Dann muss das ganze Leben ein Irrtum gewesen sein. – Die Nachbarin berichtet vom Selbstmord Sachkas, der dreissig Jahre lang in einer Möbelfabrik gearbeitet hatte.
„Aus dem Bericht von N.“
Aus dem inneren Kreis des Kremls: Gorbatschow wird in einem negativen Licht gesehen, er hat Osteuropa preisgegeben, die Sowjetunion, und Russland zu einer drittrangigen Macht gemacht. Enorme Spannungen in der KPdSU entluden sich im (gescheiterten) Putsch 1991. N. erzählt vor allem über den Marschall Achromejew, den einstigen Chef des Generalstabs und späteren Beraters und zugleich Widersachers Gorbatschows, der nach dem Putsch Selbstmord beging. N. glaubt nicht, dass Achromejew ermordet wurde, wie es Verschwörungstheoretiker kolportieren. Der Suizid war konsequent, die Sowjetunion war an ihr Ende gekommen, und der Marschall war ein Sowjetmensch durch und durch. Enorme Ressentiments gegen Gorbatschow, von dem N. aber ein recht differenziertes Bild zeichnet, aber auch gegen den Westen, den Kapitalismus. Die alte Garde der sowjetischen Führung dachte in erster Linie militärisch, sie war im Dauerkriegszustand gegen den Westen. – Die Ressentiments werden aber auch von vielen Russen geteilt, und die Sehnsucht nach sowjetischer Grösse ist auch dreissig Jahre nach dem Putsch virulent: Sie manifestiert sich in Putins Krieg gegen die Ukraine im Jahre 2022.
„Nach der Wahrheit suchen Leute, die speziell dafür ausgebildet worden sind: Richter, Wissenschaftler, Priester. Alle anderen werden von ihren Ambitionen beherrscht… von Emotionen…“
Ein höherer Funktionär im Kreml, der den Putsch von 1991 gegen Gorbatschow unterstützt hatte. Interessanter Gedanke, dass die Wahrheit etwas für Spezialisten ist.
„Plötzlich mochte man uns! Verschwunden war die Angst vor dem KGB (…)“
Die Popularität Gorbatschows war dem Funktionär unheimlich.
„Und lebten das sowjetische Leben, in dem einheitliche Spielregeln galten, an die sich alle hielten. (…) Er lügt, und alle klatschen, aber alle wissen, dass er lügt, auch er weiss, dass alle wissen, dass er lügt. Aber er sagt das alles und freut sich über den Beifall.“
Alle sind korrumpiert. Aber unter einheitlichen Spielregeln! Und es gibt keine Alternative. Man liebt, was man lebt.
„Von einer anderen Bibel und anderen Gläubigen“
Interview mit einem 87-jährigen, der seit 1922 Mitglied der Partei war.
„Uns kann man nur nach den Gesetzen der Religion beurteilen. Des Glaubens!“ (p. 212) Die Interviewerin hatte ihm gesagt, dass sie das nie verstehen werde: Die Partei hatte ihn gefoltert, ins Gefängnis gesteckt, wegen einer vagen Beschuldigung gegen seine Frau. Er hatte 1941 darum gebettelt, in den Krieg ziehen zu dürfen, das wurde ihm endlich bewilligt, er konnte sich rehabilitieren, er erhielt das Parteibuch zurück – und war „glücklich“, obwohl man ihm zugleich sagte, dass seine Frau gestorben sei, vermutlich verhungert oder von den Kommunistenschergen ermordet. – Als 15-jähriger hatte er seinen Onkel verraten, der Getreide versteckt hatte und dann von den Rotarmisten niedergemetzelt wurde.
„Ich will als Kommunist sterben. Das ist mein letzter Wunsch…“ (p. 214). Seine Wohnung vererbte er der ‚geliebten kommunistischen Partei, der ich alles verdanke‘.
„Von der Grausamkeit der Flammen und der Rettung von oben“
Suizid des Frontveterans Timerjan Sinatow, der den Wandel nach 1989 nicht verkraftet hat.
Etwas verwirrlich: Erst wird „aus kommunistischen Medien“ ein Bericht zum Tod des Veteranen zitiert, dann aus dem Abschiedsbrief, dann wiederum aus Medien. Es folgen Stimmen vom „Totenmahl“. Darauf die „Geschichte eines Mannes“, der als Jude von den Nazis und den Sowjets drangsaliert wird, und die „Geschichte einer Frau“, die auch im zweiten Weltkrieg spielen, aber keinen direkten Zusammenhang mit dem Veteranen erkennen lassen.
Schliesslich kommt die Witwe des Veteranen zu Wort, erschütternd: „Er hat die Kartoffeln geerntet, seine besten Sachen angezogen und ist in seine Festung gefahren. Wenn er uns wenigstens ein Stück Papier hinterlassen hätte. An den Staat hat er geschrieben, an fremde Menschen. Aber an uns – nichts, kein Wort…“ (p. 243)
Sinatow hatte die Festung Brest gegen die Nazis verteidigt, dort wollte er begraben werden. Er ist gewissermassen in dieser Festung steckengeblieben, und in der sowjetischen Kriegsideologie. Für ihn und seine Kameraden war unfassbar, dass Gorbatschow die Sowjetunion, den Kommunismus preisgab.
„Nirgends etwas Vertrautes, Sowjetisches. (…) Überall nur Ellbogen, Ellbogen, Ellbogen. Das ist doch Faschismus, wie unterm Hakenkreuz!“
Die Architektin Anna tut sich schwer mit der neuen Zeit. Ihre Mutter war verhaftet worden, als sie ein Baby war, sie ist in Lagern und Heimen aufgewachsen, mit vielen Entbehrungen und Grausamkeiten.
„Alles, was wir haben, sind unsere Leiden, das, was wir erlebt haben.“
Anna ohne Verständnis oder Sympathie für die neue Zeit, für „Krämer“, „Kaufen-Verkaufen“. Ihr wurde von Kind auf viel Leid zugefügt, sie wurde geplagt, das Leben ihrer Mutter wurde zerstört. Aber die Sowjetunion war ihre Heimat.
„Das Beil überlebt seinen Herrn…“
Ein NKDW-Mitarbeiter erinnert sich an seine mörderische Tagesarbeit, mit einem grimmigen Fazit.
„Die Neunziger haben wir vergeigt!“
Rückblick aus dem neuen Jahrhundert auf die 1990er.
„Wenn das halbe Land von Stalin träumt, wird er eines Tages kommen (…)“
Sehnsucht nach dem starken Mann.
„Von Einsamkeit, die fast aussieht wie Glück“
Eine Werbemanagerin, die sich definitiv von sowjetischen Werten verabschiedet hat. Karriere, als Partner in Frage kommen reiche, ältere Männer, aber sie will unabhängig bleiben. Alleinerziehend, vergöttert ihre Tochter (Emotionen, immerhin!). Zynischer Blick auf die Gesellschaft, Verachtung für die Armen.
„Von einer alten Frau mit Sense und einem hübschen jungen Mädchen“
Ein Junge, der sich eher als Balletttänzer sieht denn als Held, mit einem fanatisch-kommunistischen Vater, wird zur Armee eingezogen. Grauenerregende Schilderungen des Soldatenlebens. Krieg ohne Krieg. Demütigungen, Gewalt, Entbehrungen ohne Ende.
„Aber es kommt kein Befehl.“
Entlassen aus der Armee, die jungen Soldaten haben die Tortur endlich hinter sich. Völlig hilflos: sie begreifen nicht, dass sie sich – ohne Befehl von oben – bewegen müssen, die Fahrkarten kaufen müssen, um nach hause zu fahren. „In den zwei Jahren hatten sie uns das Gehirn kaputtgemacht…“
„Vom fremden Leid, das Gott euch auf die Schwelle eures Haus gelegt hat“
Elend der Tadschiken als Gastarbeiter in Moskau, ausgesetzt der Gewalt und dem Rassismus. Besuch in „Moskauer Kellern“, wo sie auf engem Raum kärglich leben. In den Obergeschossen wohnen „neue Russen“, „auf dem Hof stehen Bentleys und Ferraris“ (p. 464/5).
„Vor unseren Augen wurde die Kolchose geplündert… die Betriebe … Und dann für ein paar Kopeken verkauft. Was wir unser ganzes Leben lang aufgebaut hatten, das wurde nun zu Schleuderpreisen verscherbelt. Das Volk bekam Vouchers… es wurde betrogen.“
Kapitalismus – Diebstahl und Ausverkauf.