Seiobo auf Erden
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Besprechung
Moritz Th.
Anmerkungen zu einzelnen Stellen
1. Kamojäger
Mäandernde Meditation um einen weissen Reiher, der auf der Jagd still steht im turbulenten Gewässer, die von endlosen Sätzen evoziert werden. Zugleich ein Text über die Stadt Kyoto und den Fluss Kamo, japanische Aesthetik.
Der Jäger ist selbst exponiert, das vertikale Element im horizontal dahinbrausenden Gewässer. Er ist «unnötig», vielleicht könnte man auch sagen: unwahrscheinlich, und darum schutzlos, und gefährdet. Steigerung zur Makellosigkeit, zum Nichts (p. 13)
Nichts ereignet sich, was beim Zuschauer zu einem «Aufmerksamkeitstal» führt, p. 14, er verpasst womöglich das Zuschnappen des Reihers.
«(…) Unermesslichkeit der Jagd, auch ihm ist sie aufgezwungen (…)»
Das Prinzip des Tötens, Verschlingens, dem der Reiher ausgeliefert ist, wie alles andere um ihn herum auch.
«(…) denn die Erhabenheit, deren Träger Du bist, hat keinen Sinn (…)»
Aufforderung an den – unsichtbaren – Reiher zu sterben.
«Er konnte bereits eine Madonna zeichnen, als er noch gar nicht wusste, was eine Madonna ist (…)»
Hübsch. Ein Wunderkind, Filippino Lippi, Sohn einer Nonne und eines Mönches – und Malers Filippo Lippi. Aus dem Buch Esther des Alten Testaments springen wir in der Renaissance, zu einer Darstellung eines Motivs aus «Esther».
3. Konservierung eines Buddhas
Dichte, präzise Beschreibung, wie eine jahrhundertealte Buddhastatue restauriert wird. Der Text selbst wird zu einem Gebet, zu einer Feier des Buddhas, dem die Mönche und die Restauratoren mit grösster Ehrerbietung begegnen, wenn auch nicht frei von allzu menschlichen Regungen, aber natürlich verleiht dies dem Text erst diese ergreifende Qualität. Grossartig, wie am Schluss bei der Wiedereinsetzung der Statue in der grossen, vollgepackten Halle des Klosters die Zeremonie etwas aus dem Ruder läuft, die Aufmerksamkeit zerfällt, die Anspannung ist fast zu gross, bis sich dann doch alles nochmals in einer Stille bündelt, als die Statue enthüllt wird, mit dem wiederhergestellten Blick des Buddha.
Der Buddha auf Reisen
Sorgfältig verpackt, wird der Buddha im Spezialtransporter durch den dichten Verkehr nach Kyoto gefahren. Verwandlung des Buddhas in einen profanen Transportgegenstand, aber in dieser Prosa schwingt anderes mit.
«(…) der Blick ist ‘zurückgekehrt’ (…)»
Aufwendige, komplizierte, aber offensichtlich erfolgreiche Restauration der Augenpartie der Buddha-Statue, die ca aus dem Jahr 1367 stammt.
5. Christo Morto
Die Hauptfigur bewegt sich zu Fuss durch Venedig, fühlt sich dabei verfolgt von einem mysteriösen Mann in einem rosa Hemd, der dann aber spurlos aus der Geschichte verschwindet, so dass wir uns ganz auf den Grund für den Venedig-Besuch des Helden konzentrieren können: ein Bild in der Scuola Grande di San Rocco, dessen Zuschreibung, wie hier ausführlich erzählt wird, über viele Jahrzehnte höchst umstritten war: Christo Morto von Vittore Belliniano, s. hier https://arte.cini.it/Opere/295906 oder hier: Il Cristo morto – Restituzioni
Wenn man dieses Bild lange anschaut, wird man, wie der Held, selbst unsicher, ob sich nicht vielleicht die Augen des toten Christus öffnen.
«(…) der Titel, der irgendwie so lautete:
DIE HÖLLE EXISTIERT DOCH …)»
Gang durch Venedig, der Held fühlt sich verfolgt, er setzt sich in ein Café, der vermeintliche Verfolger auch. «Ohne Grund» fällt ihm der Titel, der ungefähre, eines Artikels im Corriere della Sera ein, worin Papst Benedikt XVI vor der Hölle warnt.
«dessen Besichtigung ihm wichtiger war als sein ganzes hinfälliges, sinnloses, ödes und überflüssiges Leben.»
Heftiges Statement der Hauptfigur, eines «Osteuropäers», der sich nur nochmals nach Venedig begeben hat, um den «Christo Morto» von Vittore Bellianiano nochmals zu sehen. Innerhalb dieses «überflüssigen Lebens» scheint es also immerhin etwas von Wichtigkeit zu geben.
8. Auf der Akroplis
Die offenbar ein wenig lebensmüde Hauptfigur der Erzählung, die mindestens die Sprache mit dem Autor teilt, will in Athen die Akropolis besichtigen. Nach einer Ankunft mit Lärm, Gestank, Hitze und betrügerischem Taxifahrer macht er sich, bereits ausgelaugt, in der Mittagshitze auf den Weg zum Monument, das er dann auch erreicht, aber buchstäblich nicht sehen kann im grellen Licht. Prosa-Aequivalenz einer überbelichteten Fotografie, dicht in Szene gesetzt. Das Ende ein wenig absehbar.
«dass er ein wenig von der Welt genug hatte, oder von sich selber, oder von beidem»
Der Held erzählt wildfremden Athenern in einem Café «kurz seine Geschichte», und warum er nach Athen gekommen ist.
«(…) die Sehnsucht, das Wundervolle zu wollen, hat er nicht (…) wenn er diese Sehnsucht in sich trüge, jetzt eine wundervolle Maske herzustellen, dann unbedingt und unvermeidlich nur die hässlichste Maske gelingen würde (…) sein Kopf ist leer»
Hier nimmt die endlose Satzkaskade eine Thomas Bernhardsche Färbung an. Der Maskenschnitzer muss die grössere Ambition ablegen, um sie zu erreichen. – Schöne Beschreibung des Wechselspiels von der Hand, die weiss, was sie tut, und dem Kopf, der erst beim Innehalten, beim Schauen aktiv wird, sonst «leer» ist. Auch inhaltlich nah an einer Thomas Bernhard-Erzählung, mit der (Un-) Möglichkeit einer Studie, einer Arbeit, wie sie etwa der Held in Bernhards «Kalkwerk» in Angriff nehmen will. Anders als bei Bernhard gelingt hier aber die Arbeit.
«(…) solche Fragen gehören einfach nicht hierher, in die einfache Werkstatt eines, wie er sich nennt, einfachen No-Maskenschnitzers (…) sagt Ito Ryosuke (…)»
Grosse Fragen nach der Entstehung der Magie einer Maske, Bedeutung des No-Theaters etc. kann und will der Held dieser Erzählung nicht beantworten, er konzentriert sich vollkommen auf sein Handwerk.
«und fast im selben Atemzug schmetterte ihn dieser Anblick zu Boden, denn in dem Moment, da er sie ansah, wusste er, dass diese Engel echt waren.»
Der Held, ein mitteloser Osteuropäer auf Arbeitssuche, war vor den Touristenmassen in Barcelona in ein Gebäude geflüchtet voller alter, christlicher Gemälde, versunken in Blattgold und Ikonenmalerei und dem Glanz ost-europäischer Kirchenkunst; kurz vor dem Ausgang dann eine Begegnung der besonderen Art mit einem grossformatigen Bild.
Exkurs in die Ikonenmalerei
Bis hierhin war die Geschichte aus der Perspektive der Figur erzählt worden, die durch Barcelona streunte und durch Zufall in eine Ausstellung von Ikonen geriet, zu der der Held zuvor keine grosse Affinität hatte, sieht man davon ab, dass er einst als Restaurator gearbeitet hatte. Jetzt aber wird, losgelöst vom Helden, in einem langen Diskurs die Ikonenmalerei und Dreieinigkeit und Dreifaltigkeit erörtert.
Umso drastischer dann wieder die Rückkehr in die Untiefen der Welt des Helden, in einem Obdachlosenheim an einem Sonntag, der nicht vergehen will. Welche beckettsche Trostlosigkeit!
«der Sonntag lastete auch hier mit der gleichen ungeheuren Kraft auf seinem Herzen (…)»
Trostlos, überwältigende Einsamkeit, die Zeit will nicht vergehen.
«(…) denn es gibt zwar für einen Monat ein geplantes Programm, der Sensei aber ist immer offen wie ein Buch, steht also unmittelbar mit dem Himmel in Verbindung, woraus der Eindruck entstehen kann, er sei unberechenbar, aber er folgt einfach nur dem, was ihm seine Seele in dieser unmittelbaren Beziehung befiehlt, und so wirft er ständig über den Haufen, was er zuvor im monatlichen Programmheft festgelegt hat (…)»
Mit dem «Sensei» hinter den Kulissen des No-Theaters, fremde Welt
55. Il ritorno a Perugia
Dicht beschriebene Episode aus dem Leben des seinerzeit berühmten Malers Perugino; eine Schaffens-, vielleicht auch eine Lebenskrise des Meisters wird aus der Perspektive der Gehilfen geschildert. Im Zentrum steht der mühselige Umzug der Werkstatt von Florenz nach Perugia, wo Perugino zum Malen zurückfindet, und intensiv am Altargemälde Pala Tezi arbeitet, das allerdings gemäss Wikipedia in der Farbfindung eher als untypisch gilt, es heisst auch, «the work was perhaps executed mostly by his workshop, with the master adding just some touches.» https://en.wikipedia.org/wiki/Tezi_Altarpiece
Einblick in eine Renaissance Maler-Werkstatt, zweifellos von Krasznahorkai gut recherchiert und lebhaft dargestellt. Nur am Rande wird Raffael erwähnt, der ein Schüler Peruginos war.
«dass diese sogenannte Heimkehr auch vom bitteren Geschmack des Scheiterns begleitet war»
Wir schreiben das Jahr 1501, lässt sich schliessen, und offenbar hat der «Maestro», bis vor kurzem noch «grösster Maler Italiens» (p. 256), seine Gehilfen in Florenz auf die Rückkehr nach Umbrien, nach Perugia, vorbereitet, nach 15 Jahren.
Es ist «ein Rückzug aus der Kunst», p. 259, der Maestro tut alles, um nicht mehr den Pinsel in die Hand zu nehmen. Vermutlich ist der Maestro Perugino, Lehrer von Raffael.
Reise Florenz-Perugia
Entbehrungsreiche Reise der Gehilfen und des Kutschers mit halbfertigen Gemälden und allerei Material aus der Werkstatt von Florenz nach Perugia. Die Reise wird, kaum begonnen, von einem grossen Besäufnis unterbrochen, danach aber leiden die Gefährten unter widrigen Bedingungen, sie werden auf der Kutsche hin und hergeworfen, die Strasse über weite Strecken in miserablem Zustand. In einer Nacht sinnt einer der Gehilfen über das Farbtalent und -geheimnis des Meisters nach, sehr schöne Passage, mitten im unwirtlichen Reisealltag.
«nur Raffaelo kannte keiner wirklich»
Ein neuer Gehilfe Peruginos, der jenen im Ruhm einst weit überstrahlen wird.
«dass man hier nicht Besucher ist, sondern Opfer, Opfer der Alhambra, doch gleichzeitig auch Auserwählter ihres Glanzes»
Eine ästhetische Überwältigung.
«nur weniger (…) ist der Gedanke gekommen, dass diese Verzierungen gar keine Verzierungen sind, sondern die Unendlichkeiten einer Sprache»
Einer Sprache einer universellen Ästhetik, die dann der Autor konkretisiert, mit der Theorie der Quasikristalle https://de.wikipedia.org/wiki/Quasikristall , die «unser nicht an das Unendliche gewöhnte Blick gewöhnte Auge» zwingen, «in das Unendliche zu blicken» (p. 318), wenn wir die Verzierungen in der Alhambra betrachten.
«dass wir nämlich statt der zerfallenden Welt des bösen Chaos etwas Höheres wählen sollen, das alles zusammenhält, eine gigantische Einheit»
Vordergründig Architektur, in Wahrheit pure Metaphysik
«aber sie hatte keinen Sinn mehr, die Welt war in den letzten zweitausend Jahren eine andere geworden»
Der Museumswärter sieht die Venus von Milo als verlassene, ihr Reich ist zerfallen, ihre Gemeinschaft verschwunden, sie ist ein Überbleibsel ohne Sinn, man kann sie nicht mehr verstehen. Gerade deshalb diese Obsession.
377. Private Leidenschaft
Vortrag eines zausligen Privatgelehrten, eigentlich Architekt von Beruf, über das Göttliche in der Barockmusik, und den Verfall der Musik seither. Suada im Stil Thomas Bernhard, vorgetragen vor 8 unbedarften und zusehends verschreckten Zuhörern. Eine weitere Obsession, von Komik grundiert.
987. Der Neubau des Ise-Schreins
Der Ise-Schrein wird alle 20 Jahre neu aufgebaut, nach einem strengen, rituellen Verfahren, bei dem die seit 1300 Jahren überlieferte Holz-Handwerkskunst im Zentrum steht. Ein Europäer und sein japanischer Freund wohnen der Einweihungszeremonie bei, und treffen später den verantwortlichen Handwerksmeister, den Toryo, zum Gespräch. – Einblicke in den Shintoismus, vor allem aber auch eine Studie über europäisch-japanische Missverständnisse.