Toronto

Autor: Kenneth Bonert
Untertitel: Was uns durch die Nacht trägt
Verlag: Diogenes
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2021
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-257-07151-1
Auflage: 1
Einbandart: gebunden
Sprache: Deutsch
Originalsprache: Englisch
Übersetzung: Stefanie Schäfer
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Besprechung

j.flickinger

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Stelle:

Familienangelegenheiten (Kapitel)

 

Anmerkung:

Ich habe die Erzählung gelesen, das Buch weggelegt und dachte „na ja“. Ich wusste nicht recht, was daraus machen, dann jedoch hat sie begonnen, mich aufzuregen. Am Ende ist dies eine Geschichte über eine einzige, grosse Verdrängung.

Jemand ist in dem Haus gestorben. Das ist gleich zu Beginn Thema und hat die Protagonistin tief bewegt und verletzt. Wer woran gestorben ist, erfährt man aber erst recht spät. Das Thema wird über die ganze Geschichte verdrängt, verzögert.

Was hingegen ständig Thema ist, ist die Unfähigkeit der Protagonistin, mit diesem Verlust umzugehen. Was sie zu „leiten“ scheint, ist eine Ansammlung von esoterischem Durcheinander – Tarot, Wicca, Theorien über das Universum etc. Ein roter Faden dabei ist das „wie oben, so unten“, also wie im Himmel, so auf Erden oder wie im Universum so im Leben oder Menschen. Das mag passen, wenn es um die Undurchschaubarkeit oder Unplanbarkeit des Lebens der Protagonistin geht. Zumindest scheint sie es so zu meinen, weil sie sich treiben lässt, einen Untermieter aufnimmt, obwohl sie das nicht möchte oder braucht, ihn in der Wohnung wohnen lässt, in dem der Sohn verstorben ist, mit ihm eine Affäre beginnt, obwohl sie keinen Sinn darin sieht. Würde sie tatsächlich der „göttlichen Fügung“ vertrauen, wäre sie auch nicht halb so paranoid, we sie es dem Untermieter gegenüber ist – als Mieter und Liebhaber.

„Wie oben, so unten“ lässt sich auch auf das Haus mit den Bewohnern der drei Etagen übertragen. Ganz oben der Untermieter, jung und lebendig, ganz im Gegensatz zum dort verstorbenen Sohn der Protagonistin. Doch oben in der Dachwohnung spielt sich keine Handlung ab. Geht die Protagonistin hinauf, fühlt sie sich nicht wohl, wie ein Eindringling. Bittet der Untermieter sie hinauf, stösst sie ihn zurück. Bis zum Ende, als sie nach oben steigt und ein letztes Mal mit ihm schläft, was wie ein Befreiungsschlag daherkommt, der allerdings keiner ist, weil die Protagonistin zum Ende den Brief des Untermieters lieber verbrennt als sich mit ihm auseinandersetzt. Ähnlich wie die Flucht vor dem Tod des Sohns in die Esoterik anstelle dem Besuch der Therapeutin und damit dem Schmerz auf den Grund zu gehen und ihn zu bearbeiten.

„Wie oben, so unten“ – die Protagonistin, die Mutter, führt eine heimliche Affäre und gibt sich Rollenspielen mit ihrem Untermieter hin. Sie geht darin ein Stück weit auf, fühlt sich bestätigt. Als sie aber herausfindet, dass ihr jugendlicher Sohn sich gewalttätige Pornos im Internet ansieht, findet sie das gar nicht gut. Sie zieht ihre Bestätigung aus einer Affäre mit einem jüngeren Mann – ihr Sohn versucht seine körperliche Schmächtigkeit mit Proteinpulvern wett zu machen und hängt hypermachistischen, sexuellen Gewaltphantasien nach. Es scheint als wäre es nicht ein „wie oben, so unten“, sondern wie ein „unten gerade andersherum als oben“. Dieser Mutter-Sohn-Beziehung wird eine heuchlerische Krone aufgesetzt, als die Mutter den Liebhaber zum Sohn schicken will, um über den Fund der Pornos zu sprechen. Als dieser das nicht tut, lässt sie das Thema fallen. Verdrängung.

Und zum Schluss die Rückkehr zur Verdrängung als Thema: erst verarbeitet die Mutter den Tod des Sohnes nicht. Dann weigert sie, sich mit dem „Abschied“ des Liebhabers  auseinander zu setzen und verbrennt dessen Brief (ganz zu schweigen von den zwei gescheiterten Ehen in ihrem Leben, die knapp am Rande erwähnt werden). Und wie ein schlechter Scherz folgt zum Schluss anstelle einer Reflektion über einige angehäufte Traumata eine kleine Litanei esoterischer Weisheiten. Wie undurchschaubar die Zukunft sei und dass man sich quasi durch sie hindurch treiben lassen müsse.

Wer anfangs denkt, dies wäre die Geschichte über die Verarbeitung eines Verlusts, wird Zeuge von einem Irrweg, der die Protagonistin nur noch tiefer in seelische Probleme leitet – ohne, dass sie es selbst wahrnimmt.

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