Toteninsel
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Besprechung
Moritz T.
«Bindschädler, mit drei, vier, fünf Jahren zehrt man von den Bildern, Gedanken, die man mitbekommen hat, als Mitgift fürs Leben.»
Zehrt man da von den Bildern und Gedanken, oder nimmt man sie in dieser Kinderzeit nicht eher erst auf, und zehrt dann davon, für den Rest des Lebens?
Schiefes Bild gleich zum Auftakt…
Dennoch herrlicher Beginn; in der Fortsetzung hebt die Erzählung (eines drei, vier-, fünfundsechzig Jährigen) sofort ab in die (kindliche) Imagination: Indianer-Kanu auf der Aare, um sogleich noch in ganz andere Räume vorzustossen, zu den Germanen, die die Eichen verehrten. Nach diesem luftigen Auftakt wird es erdenschwer und nah: Erinnerungen an Stationen des Amrainer Lebens. Aber Chopin ist nicht weit und Picasso nicht: Meier öffnet die Erzählräume teils mit atemberaubender Geschwindigkeit….
«’Warum, Bindschädler, hat man im Alter dieses verrückte Bedürfnis – zurückzuschauen oder mit dem Gestern zu leben, oder immer wieder die Fäden in den Griff zu bekommen, die einem verbinden mit dem Verflossenen, Dahingegangenen, Unwiederbringlichen, das sich irgendwo aufgelöst haben müsste und das doch präsent, nicht wegzuschaffen ist? Das dann irgendwie mit uns in die Erde gelegt wird, wo es sich auflösen, verflüchtigen oder mit eingehen müsste ins Mineralische, Stoffliche, um dann in den Blumen, den Lilien zum Beispiel, den Astern, Schneeglöckchen, Vergissmeinnicht über uns wiederum präsent zu werden, als deren Duft (sofern sie solchen abzugeben belieben) zu verströmen…’»
Zentrale Stelle, etwas schwerfällig wird hier die Lebensphilosophie Baurs umschrieben, die es ihm erlaubt, die vielfältigen Verbindungen zu knüpfen, in die Vergangenheit, in die Pflanzenwelt.
„Im Herbst, wenn jeweils die Zwetschgen gepflückt waren und trotzdem noch genügend Blautöne vorhanden waren, begann über Amrain hin das Rastergeräusch einer Obstpresse zu klingen.“
Das Dorf als akustischer Raum.
„(…) dass ich nicht durch ein verhangenes Amrain gehe, sondern durch ein duftiges, pastellfarbenes Bild Joseph Mallord William Turners wandle, in welchem die Bäume kopfstehen, das heisst mit den Kronen in einem turnerschen Grund wurzeln.“
Die Amrainer Welt kann schon beengend sein, an einem Nebeltag. Baur flieht sie nicht, er imaginiert sie sich neu, er weitet den Blick, stellt die Amrainer Welt auf den Kopf. Wäre das nicht die vornehmliche Aufgabe des Dichters, Atemräume zu schaffen, wo sonst Enge und Redundanz droht?
«’Ich nehme jeden Herbst zwei, drei Kastanien und verteile sie auf die linke Tasche meiner besseren Röcke. So werde ich durch das Jahr hindurch an die Zeit der Rosskastanien erinnert… Bindschädler, ein solcher Phantast bin ich!’
Man lachte, nahm das das Defilee der Wassermassen ab, betrachtete die Eiche neben sich, ihre bizarre Krone.»
Defilee der Wassermassen: auch der Erzähler ist ein Phantast; denn Phantasie braucht es, das Naturgeschehen so auf sich zu beziehen, in dieser milden Ironie. Der Umgebung, der Natur zugewandt: der Spaziergang ist keine blosse Kulisse für einen Monolog. Meier bringt die Landschaft regelmässig zum Vorschein; es ist ein höchst unspektakulärer Spaziergang, unterbrochen von einem Aufenthalt im Restaurant der Oltner EPA, das «etwas Kahles, beinah Antiseptisches hat, aber auf unerklärliche Weise an die Jahrhundertwende erinnert.» (p.78)
Im Unspektakulären zuhause, zugleich durchlässig für andere Räume und andere Zeiten.
Zwei Ebenen: die Jetzt-Umgebung des Spaziergangs, Olten, und die Amrainer Welt. Beide Ebenen verwebt die Erzählung aber mit Geschichte, Malerei, Musik, Literatur.
“ (…) beinahe mit einer gewissen Schwerfälligkeit behaftet (…)“
Poetologie Baurs: er gibt gern eine „gewisse Schwerfälligkeit“ des Romans zu (unabdingbar für die Bodenhaftung?), in einem etwas schwerfälligen Satz. Typisch auch das relativierende „beinahe“, das eher noch zur Satz-Schwerfälligkeit beiträgt.
«’vergangenen Zeiten nachhängend, grossen natürlich’.»
Baur über nasebohrende Griechen, die er während einer Reise beobachtet. Typisch das nachgestellte Adjektiv, etwas schleppender Rhythmus, mit dem Effekt einer milden, aufgehobenen Ironie.
„Bindschädler, anderntags fliesst dann ein Teil des Leichenmahls genau an diesem Restaurant vorüber, und zwar in der Kanalisationsröhre (…)“
Typisch für Baurs nüchternen Blick auf das Dorf, an allen Aspekten interessiert. In Gedanken folgt er dem Lauf des Wassers, mit dem die Fäkalien fortgespült werden, es erreicht die Aare, den Rhein, das Meer: und von der Sonne aufgesogen, beginnt der Wasserkreislauf von neuem.
„‚Man müsse sie zwingen einzusehen, dass sie in einer verrückten Welt lebten. Einer Welt ohne Sicherheit, die nicht so sei, wie sie glaubten‘, sagte Baur.
Die Dämmerung hatte mittlerweile Fortschritte gemacht.
‚Bindschädler, sollte ich jemals zum Schreiben kommen, will ich es tun im Sinne Picassos.‘
Nun begann es zu schneien.“
Schlusswort der «Toteninsel», ein Picasso-Credo referierend – was will der Künstler er bei den Leuten mit der Kunst erreichen? Baur will sich dieses Credo aneignen. Keine falsche Bescheidenheit, der Anschluss an die grosse Kunst erfolgt mit einer Selbstverständlichkeit, und zugleich in einer völlig eigenständigen Interpretation, die eben Dorfleben und die dörfliche Landschaft durchlässig macht für die Welt ohne Sicherheit, für die Fragen der Kunst… Dabei dem Dorf die Treue haltend, ohne je in die Nähe des traditionellen Heimatromans zu kommen.