Übungen im Fremdsein
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Besprechung
Moritz T.
„Ognosie“
Keine übermässig subtile oder elegante Analyse, und auch keine grundlegende neue Erkenntnis: die Zeit der grossen Erzählungen ist vorbei. Aber Tokarczuk stimmt hier keinen Lobgesang auf die Postmoderne an. Sie vermisst den Ehrgeiz, einen Blick auf die Zusammenhänge, das Ganze zu werfen und beklagt ein Denken in Blasen, die nichts voneinander wissen wollen. Die Verknüpfung der Wissensgebiete, die Vertiefung in abgelegene Bezirke, das Wahrnehmen von unwahrscheinlichen Brücken kann zu einem «ultrasynthetischen Erkenntnisprozess», oder zur «Ognosie» führen (offenbar ein Tokarczukscher Neologismus, der im Essay geschickt getarnt als Enzyklopädie-Eintrag daherkommt). Am besten wohl in Form von … Literatur.
Latenter Widerspruch? Förderung des Exzentrischen, des Dezentralen, Kritik des Menschen als absolutes Subjekt, das die Welt um sich ordnet; gleichzeitig der Wille zu einer umfassenden Erkenntnis. Aber diese Art der Erkenntnis müsste wohl stets im Fluss bleiben und sich aus vielen Quellen speisen und fortwährend verändern.
„Ich denke, die Sünde, für die wir aus dem Paradies vertrieben wurden, war nicht Sex, sie war auch nicht Ungehorsam, ja nicht einmal die Entdeckung göttlicher Geheimnisse – unsere Sünde war eben jene Selbstwahrnehmung als monolithische vom Rest der Welt abgetrennte Einzelwesen.“
Tokarczuk drückt hier aus, wie frappant und einschneidend für uns (westliche) Menschen die Entdeckung ist, dass wir nicht losgelöste Subjekte sind, die autonom agieren. Diese Selbstwahrnehmung ist ein Trugbild, das sich uns aufgedrängt hat, und dass wir kaum mehr los werden – allen wissenschaftlichen Entdeckungen zum Trotz, des Mikrobioms in der Biologie, oder der relationale Quantenmechanik in der Physik.
„Der Vorgang, in dessen Zuge sich die menschliche Gesellschaft in einzelne Blasen unterteilt, ist der Prozess einer unvorstellbaren, totalen Proletarisierung.“
Unvorstellbar, total: etwas grobschlächtige Argumentation. Aber ein lohnenswerter Gedanke: die Arbeitsteilung betrifft nicht nur den Handwerker, sondern auch den Geistesarbeiter, und uns alle: kaum jemand versucht sich mehr an einer globalen Sinnfrage, verknüpft entlegene Wissensgebiete. Stattdessen Abkoppelung, Einrichten in der Blase, regionale Sinnproduktion.
„Übungen im Fremdsein“
Reisen ist out; man erlebt ohnehin nichts Authentisches mehr, man zerstört, was man aufsucht, oder man interessiert sich (wie Jules Verne oder Indiana Jones) für das Fremde nur insofern als es als Kulisse für die Selbstinszenierung dient. Gegen diese Argumentation lässt sich wenig einwenden, ausser dass es schon sehr oft gesagt worden ist. Tokarczuk fügt dem Lied vom Reiseüberdruss kaum neue Strophen hinzu; auch das positive Gegenbild der reisenden Hippies im letzten Jahrhundert wirkt etwas klischeehaft.
„Warum kann ich in das Land Frau Marrouschs, das Land Herrn al-Halabis fahren und dort so lange bleiben, wie ich möchte (…), Frau Marrousch aber und Herr al-Halabi dürfen dies in meinem Land nicht?“
Die Frage kann man gewiss so stellen, aber es ist dann etwas billig, die daraus folgenden Szenarien nicht in den Blick zu nehmen.
„Ich verspüre nicht mehr das Bedürfnis, fremde Städte zu besuchen, seit man in jeder Strasse der Welt die gleichen in China produzierten Souvenirs findet.“
Schon klar, aber so aufregend neu ist es auch wieder nicht, dass Souvenirs halt überall made in China sind, als das man sie in diesem kurzen Essay gleich zweifach anführen muss. (vgl p. 39)
„Die Masken der Tiere“
Eindringlicher Text über das Leiden der Tiere, das wir hinnehmen, und rechtfertigen. Die Zusammenstellung von Zitaten zur Rechtlosigkeit der Tiere von Aristoteles über die Bibel bis hin zu Kant ist bedrückend. Es geht auch anders, wie Tokarcuk mit der ausführlichen Zusammenfassung von Coetzees Buch „The Lives of Animals“ zeigt, das sich fragt, wie wir den täglichen Massenmord hinnehmen können.
„Sollte man Bücher nicht immer so lesen – in guter Gesellschaft?“
Über „The Lives of Animals“ von Coetzee; der Verlag hatte den Vorträgen der fiktiven Schriftstellerin Elizabeth Costello Reaktionen von Wissenschaftlern beigefügt, die zeigen, „in wie viele Richtungen die Lektüre gehen kann“.
„Dank der Vermittlung durch den Übersetzer ist ein französischer Autor aus dem 16. Jahrhundert wundersamerweise leichter verständlich für mich als für meine Freundin, die sein Werk im Original lesen kann!“
Die Rede ist von Montaigne, der sich in ein gegenwärtiges Polnisch übersetzt leichter liest als im archaischen französischen Original.
„Somit ist Lesen das Privileg eines in seinem natürlichen Gleichgewicht befindlichen Verstandes.“
Zuvor erfahren wir, dass Psychotiker die Lesefähigkeit fast vollständig verlieren. Aber… „natürliches Gleichgewicht“ doch etwas weit gefasst für alle, die lesen.
„Denn von seiner Theorie hatte mich Freud mich ganz und gar nicht überzeugt – es war seine Methode, die mich überzeugte.“
Die „exzentrischen Assoziationen“, „etwas Flüchtigem und Unbedeutendem einen tiefen Sinn zuzuschreiben“. Tokarczuk ist in ihrem stürmischen Lektüreleben bei Freud angelangt.
„Über den Daimon und andere schriftstellerische Motivationen“
Rede an jüngere Schriftstellerkollegen, Teilnehmer eines Creative Writing-Kurses, mit Elementen von Kulturkritik (Marketing wichtiger als Inhalt, Kommerzialisierung etc.). Tokarczuk referiert zustimmend vier Motive Orwells fürs Schreiben: ästhetischer Enthusiasmus, Sinn für Geschichte, politisches Engagement, reinen Egoismus. Sie beklagt das Überhandnehmen dieses vierten Motivs. – Spannender die Reflexionen darüber, wie aus einer bestimmten Umgebung Figuren und Geschichten in der Imagination entstehen und mitunter vom Roman- in das wirkliche Leben hinübergreifen.
Zurück bleibt der Eindruck von grossem Ernst, Enthusiasmus, Engagement beim Versuch, den angehenden Schriftstellern einen 360 Grad-Blick auf diesen Beruf zu vermitteln.
„Zwar gestattet diese Perspektive, ‚alles‘ zu erzählen, doch entglitten ihr auf seltsame Weise die kleinen Dinge, die so überaus wichtig sind. Die Welt, das sind die Beziehungen zwischen den Dingen – sie verleihen ihr den Sinn und stellen zugleich ihre verdächtige Einfachheit in Frage.“
Warum in den „Jakobsbüchern“ der panoptische, der allwissende Erzähler nicht genügt. – Man möchte Anklänge an die relationale Quantenmechanik entdecken.
„Eine der betrüblichsten Folgen des Todes.“
Nämlich dass man nicht mehr lesen kann. – Jenta sieht in den Jakobsbüchern der Autorin mit „eigenwilliger Frisur“, wie sie „Jenta“ in den Laptop tippt; Jenta kann das aber nicht lesen.
Eine Figur beobachtet ihre Erfinderin.
„Zur Psychologie der literarischen Erschaffung der Welt. Wie die Jakobsbücher entstanden“
Die zweite der vier Lodzer Vorlesungen, die in diesem Band abgedruckt sind, beschäftigt sich mit den „Jakobsbüchern“. Vielleicht ein etwas akademischer Titel? Gut, die Autorin trägt schliesslich an einer Universität vor.
Unerhörte Intensität, mit der sich Olga Tokarczuk auf die Geschichte der Frankisten eingelassen hat, so dass ihr in einer Art Trance Figuren und Details für ihren Roman geradezu zufliegen, an unerwarteten Orten. Sie legt ihre Poetik der Einzelheit, der Fremdheit, der Polyperspektivität dar. Faszinierend und überzeugend.
„Um uns bemerkbar zu machen, müssen wir eine fundamentale Transgression vollziehen.“
Die Frankisten übertreten die Gebote, weil die Erlösung unmittelbar bevorsteht. Oder übertreten sie die Gebote, weil sie Gott zwingen wollen, sich zu zeigen?
„In so manchem Roman fehlen mir die Eindrücke des Geruchs, des Geschmacks, die Textur von Stoffen, die Oberfläche von Möbeln oder Werkzeugen, Farben und haptische Eindrücke.“
Die Welt besteht aus Einzelheiten, so die Überzeugung der Autorin; das reflektiert sich in den Jakobsbüchern eindrücklich.
„Die Exzentrität scheint mir geradezu die Quintessenz schöpferischer Tätigkeit zu sein (…).“
Die Dinge nicht aus einer mainstream-Position wahrnehmen; fremd bleiben.
„Denn dieser Trancezustand ist Seligkeit.“
Die Welt bietet Hilfe bei der Entstehung des Romans. Die Autorin findet sie an den unwahrscheinlichsten Orten, auf einer Party, bei einem Ausflug: eine Figur, eine Argumentation, eine Geschichte. Das muss ein wunderbarer Zustand sein, wenn einem die Dinge zufliegen; das Ich zieht sich zurück, es geschieht etwas, es entsteht etwas. Nochmals das Zimzum-Motiv. Die Autorin sehnt sich nach dem Romanende bald wieder zurück nach der Trance.
„Das Land Metaxy“
Plädoyer gegen die „Buchstäblichkeit“, „eine hypertrophierte Funktion des Rationalen“, die ganzheitlichen und polyvalenten Sichtweisen verhindert und am Ursprung von Blickverengung und Verschwörungstheorien steht. Weiterer Aspekt der Poetik der Autorin, aber auch aktuelle politische Stellungnahme.