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Besprechung
Moritz T.
Kapitel „Come with“
Was für ein reizender Roman-Auftakt! Jack und Elizabeth finden zueinander. Leicht, beschwingt, symmetrisch von beiden Seiten her kommend, herzerwärmend im eisigen Chicago. Der Ballast, den beide mitbringen, bleibt als dunkles Wolkengebirge weit im Hintergrund. Vielleicht sind Jacks Nebenbuhler etwas gar stupide gezeichnet, vielleicht etwas zu viele, zu stereotype Fragen im Kennenlern-Geplänkel, aber insgesamt: man freut sich auf die Fortsetzung. Schön auch der Kapiteltitel: Chumm mit!
„She first appeared to him on Christmas Eve.“
Hübscher Satzrhythmus, märchenhafter Beginn – das Licht geht an in der so nahen Wohnung im Haus gegenüber.
„Sometimes her apartment is dark, and he goes about his night — his ordinary, hermetic night — wondering where she might be.
That’s when she is watching him.“
Gerade als der Leser etwas ungeduldig wird mit dem Szenario – ein Mann beobachtet tage- und nächtelang eine Frau in der Wohnung gegenüber, kann sogar die Titel der Bücher entziffern, die sie liest, sie scheint einfach das Beobachtungs-Objekt, kehrt der Autor den Spiess um.
„(…) — when Toby declared that this was all hopelessly difficult and well beyond his capacities and he henceforth sat far away from the group, playing Minecraft, not even attempting to socially engage, which was a pretty big backfire, Elizabeth had to admit.“
Toby, Elizabeths und Jacks achtjähriger Sohn, tut sich schwer im sozialen Umgang mit anderen Kindern. Am liebsten verbarrikadiert er sich hinter dem Computer und spielt Minecraft. Elizabeth realisiert, dass er Hilfe benötigt, und, Wissenschaftlerin, die sie ist, entwickelt sie einen sieben-Punkte-Plan, wie man sich einer Gruppe nähert und erfolgreich an der Konversation teilnimmt. Ihr Sohn ist schon mit jedem einzelnen dieser Schritte überfordert, und erst recht damit, sie sinnvoll aneinanderzureihen. – Gekonnt inszeniert (bis zum Punkt, wo der Satz selbst, aus dem das Zitat stammt, als einziger in der Umgebung aus dem Ruder läuft, zu kompliziert wird): man realisiert als Leser wieder einmal, wie komplex die Herausforderung tatsächlich ist, sich in eine schon bestehende Gruppe einzugliedern, Elizabeths Programm leuchtet in der Theorie durchaus ein. Aber für ein Kind, das nicht nur socially awkward ist, sondern eher schon autistische Züge ausweist, ist es ein absurder Vorschlag; daraus resultiert eine traurige Komik.
Der Autor bewältigt mühelos den Sprung aus der ersten Verliebtheit (Kapitel 1) in die midlife crisis, mit einem Jack, der Elizabeth nicht genügend Raum lässt, einem anstrengenden kid, und knappen Budgets. Alles zielführend, sorgfältig, mit der nötigen Tiefenschärfe und mit gutem Timing vorgeführt.
„Jack felt a little queasy letting the System have access to their most private, most personal information and utterances, but as the app often reminded him: You can’t improve what you don’t measure. „
Vielleicht hat auch der Autor ein etwas mulmiges Gefühl, dass er hier seinen Held definitiv der Satire ausliefert: Jack lässt sich komplett von einem Tracking System führen, das sogar die Quantität und Qualität des ehelichen Sexes aufzeichnet, vermutlich, ohne dass seine Frau davon weiss. Zugegeben, der Roman ist von Anfang an auf Überhöhung und Zuspitzung angelegt, aber dieser Wechsel hier vom jungen, recht coolen Jack zum datengläubigen internet addict wirkt arg forciert.
„He opened the app and listened once more, and it did not take long for him to figure it out: that wasn’t the sound of snoring. That was the sound of a vibrator.“
Das ist einfach brillant gemacht: Jack wollte Elizabeth wieder einmal verführen, und bot an, sie mit dem Vibrator zu befriedigen. Wahrscheinlich um seine Selbstlosigkeit zu unterstreichen, hatte er sich sogar von seinem wearable getrennt, das Daten aufzeichnende Armband, das er sonst durchaus auch gern beim Sex anbehält, um danach die Datenanalyse anzuschauen.
Elizabeth ist nicht in der richtigen mood, nicht im headspace. Jack lässt sie allein und kehrt nicht ins Schlafzimmer zurück, es kommt ab und zu vor, dass er anderswo in der Wohnung schläft. Die von Einschlafschwierigkeit geplagte Elizabeth greift schliesslich zum Vibrator, kommt zum Orgasmus und schläft ein. Die Episode bleibt im Hinterkopf des Lesers noch etwas hängen, aber die Geschichte setzt sich in einem weiteren Mini-Kapitel fort mit einer Demütigung Jacks im beruflichen Umfeld, die sich auch körperlich niederschlägt. Jack erwartet einen mahnenden Hinweis des wearables, und erst als der ausbleibt, realisiert er, dass er das Armband seit gestern Abend gar nicht getragen hat, und dass das früher abgehorchte Schnarchen keines oder nicht seines gewesen sein kann. Jetzt kommt zur beruflichen Demütigung die private hinzu — Elizabeth hatte auf sein Angebot verzichtet, war offenbar sehr wohl in der mood.
„And then one day, they began losing friends.“
Auf den nächsten vier, fünf Seiten wird im Schnelldurchlauf gezeigt, wie Jack und Elizabeth aus der community herausgespült werden, die ihre Familie war. Rebellische, künstlerisch aktive Twens, die viel Zeit mit einander verbrachten, die hier in stark idealisierten Bildern gezeichnet wird. Die einen ziehen dann weg, viele kriegen Kinder. Jack und Elizabeth sind auf sich selbst zurückgeworfen. Sie beschliessen, selbst eine Familie zu gründen. Man könnte auch sagen: sie werden erwachsen. – Das ist flüssig und plausibel geschrieben. Aber es scheint an dieser Stelle auch ein wenig überflüssig, diese Lücke in der Paar-Biographie zu schliessen.
Kapitel „The Unraveling“
Elizabeth wird uns wieder vorgeführt als systematische, wissenschaftlich-rationale Mutter, die bei jedem Konflikt mit Toby oder auch nur bei jeder Erziehungsfrage mental immer sofort den psychologischen Forschungsstand abruft und darauf basierend ihre Entscheidungen trifft.
Das hat stark parodistischen Charakter, und man mag bedauern, dass der Autor um dieses Effektes willen die Figur etwas eindimensional zeichnet, auch wenn die Eskalation zwischen Elizabeth und Toby stringent und überzeugend geschildert wird.
Hill verhandelt hier im Hintergrund interessante Fragen: Wie können wir wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis nutzen? Die Ironie der Geschichte: Die wissenschaftsgläubige Elizabeth arbeitet im „Wellness“-Institut, das sich auf das Arbeiten mit Placebo-Effekten spezialisiert hat. Sie lernt dort immer wieder von neuem: Kontext, Präsentation, Stimmung ist essentiell für die Wirkung eines Medikaments. Dasselbe gilt natürlich auch für auf Studien basierende psychologische Rezepte, die Elizabeth aber einfach übernimmt, nur um time after time frustriert zu werden, weil sie nicht wirken. Dass sie und Toby eine spezifische Vorgeschichte mitbringen, dass sie beide unter enormen Druck setzt, dass sie Tobys Verhalten falsch liest – kurz, dass der Kontext ein ganz eigener, anderer ist als in den zitierten Studien, die scheinbar das identische Problem thematisieren, kommt ihr nicht in den Sinn.
Kapitel „The House of at least fourteen gables“
Weiter Blick zurück in die Familiengeschichte Elizabeths, mit dubiosen, aber geschäftlich erfolgreichen Vorvätern. Unterhaltsam geschrieben. Aber noch erschliesst sich nicht so ganz, welche Funktion der historische Exkurs im Romanganzen hat.
„‚In the future, all the important literature will be hypertext.'“
Benjamin führt das Landei Jack ins World Wide Web ein. Man erinnert sich an diese Prophezeiungen Ende des letzten Jahrhunderts. 25 Jahre später ist daraus noch nicht viel geworden. Aber gut, future ist ein dehnbarer Begriff. – Ins Schwarze trifft Benjamin mit seiner anderen Aussage, wofür das www gut sei: pornography.
„(…) Jack wondered if maybe it was another impulse he was honoring: not the impulse to be different, but the impulse to be the same. To go along with things. To be part of a herd.“
Jack willigt ein, an einer Art Swinger-Party teilzunehmen, um in seiner Ehe mit Elizabeth mal wieder etwas Abenteuerliches zu erleben. Zugleich entdeckt er aber die eigentliche Motivation für seine Zusage: er zieht – wie damals als Schüler – den Kopf ein, macht einfach mit, wo mitmachen gefordert wird, ohne selbst von einem Schritt überzeugt zu sein.
Die (nicht so genannte) Orgie
Sehr nervös begeben sich Elizabeth und Jack an die Swinger-Party. Kate schnappt sich Jack, um mit ihm Drinks zu holen. Kyle gesellt sich zu Elizabeth, und entlockt mit bei dem eher schweigsamen Muskelprotz unerwartetem, geradezu therapeutischem Geschick Elizabeth einige Wahrheiten zu ihrer Ehe und Sexleben. Paralleles ereignet sich im Gespräch Kates mit Jack. Als die vier endlich wieder vereinigt sind an einem Tisch, verabschieden sich K&K abrupt, ganz offensichtlich ein Code-Wort nutzend, das zur Anwendung kommt, wenn man schleunigst aus einer Swinger-Party-Situation ausbrechen möchte, weil man es beispielsweise mit einem toxischen Drama-Paar zu tun hat. Kate hatte Elizabeth vorgängig instruiert, dass sie und Jack sich auf ein solches Escape-Wort einigen. – Demütigend.
„Thus the tattoo was a calculated insult thrown into the future.“
Hübscher Satz. Der junge, wilde, dekonstruktivistische Jack beschliesst, sich ein „big, outrageous tattoo“ stechen zu lassen.
Ehestreit
Die seit langem latent spürbare Spannung zwischen Elizabeth und Jack eskaliert in einem wüsten Streit, den Hill wiederum handwerklich sehr gekonnt inszeniert, mit Off-Kommentaren des Erzählers in Klammern: „(It’s like their two decades of intimacy have equipped them perfectly for this moment, furnishing them exactly the advanced weaponry needed to inflict maximum devastation (…).)“ p. 430. – Man könnte auch sagen: der Autor hat über die vergangenen Seiten Fakten und Meinungen zu dieser Ehe bereitgestellt, die er nun systematisch und maximal ausbeutet, um einen exemplarischen Ehe-Krach vorzuführen. Vor allem der eher zurückhaltende Jack überschreitet hier Grenzen in einer Weise, die man ihm nicht unbedingt zugetraut hätte.
Ganz am Ende dann eine Cliffhanger-Pointe, die alles ins noch Dramatischere wendet, auch ein eingeschliffenes Muster, dessen sich Hill systematisch bedient.
„Because at this moment, at the end of 2012, Lawrence Baker produces only five dollars and sixty-five cents per year for Facebook, which is not excellent at all.“
Ausführliche Darlegung, wie Jacks Vater sich von Facebook manipulieren lässt, wie er Reaktionen oder ausbleibende Reaktionen auf der Plattform falsch auslegt, sein Verhalten immer wieder anpasst in der Annahme, sich in einer stabilen Umwelt zu bewegen und als Subjekt die Gestaltungshoheit zu haben, während im Hintergrund die Rahmenbedingungen laufend geändert werden. Die Algorithmen liefern ihm die Feeds, auf die er am stärksten reagiert. Er verstrickt sich immer tiefer in die Welt der Verschwörungstheorien. – Jack versucht ihm zu zeigen, dass er Manipulationen aufsitzt. Die Vater-Sohn-Auseinandersetzung auf Facebook hilft vor allem… Facebook, der Wert der beiden wird um das x-fache gesteigert. Pointe: auch Jack entdeckt, dass er manchen Meinungen unhinterfragt aufsitzt. Natürlich auch hier wieder mit satirischen Zuspitzungen, aber plausibel gestaltet.
„(…) and maybe that was Jack in a nutshell: he let nothing breathe.“
Das Roman-Ende naht, und die Stunde der Selbsterkenntnis, hier bei Jack, ein Kapitel später bei Elizabeth. Endlich, nach dem gloriosen Romanauftakt, bewegen sich die beiden wieder in parallelen Bahnen aufeinander zu, nachdem sie zuvor in recht unterschiedlichen Zonen unterwegs waren.
„And so I thought, if I only ate one turnover instead of wanting to eat two turnovers, it would make you happy.“
Das ganze Elend der Interpretation psychologischer Tests in einem Satz.
Wiederum brillant gebaut vom Autor: Vor Jahren kam es zu einem Drama zwischen Mama Elizabeth und Sohn Toby. Elizabeth unterzog Toby dem „Marshmallow“-Test, über viele Jahre eine viel zitierte, wirkungsreiche US-Langzeit-Studie, deren Grundlagen und Durchführung erst spät in Verruf kam. Wenn ein kleines Kind der sofortigen Gratifikation widerstehen und ein Marshmallow nicht isst, weil es später zwei essen darf, so ist das ein Zeichen dafür, dass das Kind zu einem erfolgreichen, verantwortungsvollen Erwachsenen heranreifen wird. Toby isst bei jedem der zunehmend verzweifelten Versuche, die Elizabeth mit ihm anstellt, immer die eine Süssigkeit und wartet nicht ab, um später zwei essen zu können. Elizabeth sieht schon einen verelendeten, asozialen erwachsenen Toby am Horizont.
Jetzt stellt sich heraus, warum Toby jeweils sofort zugegriffen hat: da Elizabeth unhappy ist, wenn Toby Süssigkeiten isst, dachte der schlaue Toby, er schneide bei der strengen Mama besser ab, wenn er auf die zweite Süssigkeit verzichte.