Wenn es dunkel wird
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Besprechung
Moritz T.
Nahtigall
Einbildung und Realität sind in dieser Geschichte grundsätzlich zwei parallele Erzählstränge, wobei die Einbildung die Realität ergänzt, fast wie eine augmented reality. Problematisch, könnte man sagen, aber das macht die Sache interessant, sind diese Kipp-Momente, in denen Unschärfen entstehen und die Realität sich nicht für einen Moment nicht von der Einbildung trennen lässt. So lange die Geschichte weitergeht, ist das kein Problem. Erst als die Geschichte fast abrupt endet, genau in einem dieser Kipp-Momente, weiss man als Leser nicht mehr, was nun ersponnen war und was nicht – es fehlt der echte Rückblick oder eine Aussensicht, die einem hier Gewissheit bringt. Und die enthält Stamm einem vor und lässt den Leser glauben, was er/sie will.
„Und Jahre später, als sie nicht gewusst hatte, was sie ihm schenken sollte, hatte sie sich daran erinnert und die Maske, ohne viel nachzudenken, gekauft.“
Etwas dünne Einführung und Begründung des Maskenmotivs, bleibt auch etwas isoliert in der Geschichte (ja, Eichhörnchen sind keine Raubtiere).
„Nahtigal“
Ein Lehrling namens David setzt seinen unausgegorenen Plan eines Banküberfalls soweit in die Tat um, dass er eine Bankfiliale auskundschaftet und die nötigen Gerätschaften (Maske, Pistole, Notizbuch) besorgt. Die Phantasien des jugendlichen Helden finden nahtlos Anschluss an die Erzählrealität. Keine Kursivschrift oder kein Absatz zeigt den Übergang an, wenn sich David Dinge nur noch vorstellt, die sich ereignen könnten. Der Leser wird für kleine Momente weggelockt aus der Erzählrealität, ohne je die Übersicht zu verlieren. Das ist handwerklich gut gemacht und reizvoll zum Lesen. David malt sich beispielsweise harmlos-erotische Szenen mit einer Frau aus, die er auf seinem Streifzug antrifft; vielleicht heisst sie (wie die Erzählung) «Nahtigal» (Achtung: nicht ganz ein Symbol der Liebe!).
Der Erzähler schlägt Kapital aus der Kluft, die sich zwischen Davids Verhalten und seinem Überfallplan auftut. Aber er bezahlt mit einer gewissen Unglaubwürdigkeit der ganzen Geschichte: Dass sich der träumerische und unsichere Lehrling ernsthaft einer Bank in räuberischer Absicht nähert, ist wenig plausibel. Da hilft auch zum Schluss ein etwas unmotiviert eingeführter Rückblick aus dreissig Jahren nicht; immerhin akzentuiert die zeitliche Perspektive die Atmosphäre aus dem letzten Jahrhundert, die stimmig wiedergegeben ist.
(…) die Lehrlinge wurden mit allen möglichen sinnlosen Arbeiten beschäftigt. Auf dem Dachboden gab es einen unerschöpflich erscheinenden Vorrat an alten Briefumschlägen und Rechnungsformularen, auf die noch die alte Telefonnummer gedruckt war, und wenn gar nichts anderes mehr zu tun war, versammelten sich die Lehrlinge im Sitzungszimmer unter dem Dach, wo es im Sommer muffig und heiss war, und überklebten die alten Nummern mit kleinen Etiketten in Leuchtfarben, auf denen die neue Nummer stand (…)
Ich finde das herrlich. Diese unspektakuläre Beschreibung dessen, was den Lehrlingen im Sommerloch noch zu tun bleibt spricht Bände über die Art von Firma, in der dort gearbeitet wird, obwohl nirgends in der Geschichte mehr darüber gesagt wird: wahrscheinlich familiengeführtes KMU, Arbeitsethos streng, lieber sinnlose Arbeiten erledigen als Müssiggang, selbst im Sommer. Da hat David doch recht, wenn er sich stattdessen zwei Tage krank meldet… Das Ganze ist fast wie eine ironische Rechtfertigung für den geplanten Banküberfall.
„Er hatte zu Hause üben wollen, seine Stimme zu verstellen, aber er war sich so blöd dabei vorgekommen, dass er es schnell wieder aufgegeben hatte.“
Lustig. – Aber… wie kann der Erzähler plausibel machen, dass der Held selbst auch nur so stark an seine Phantasie glaubt, dass er die Bank auskundschaftet?
„Die Wirtin schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er gegangen war.“
Bemerkt überhaupt irgend jemand David? Im Geschäft wird er kaum vermisst, die Mutter fragt halbherzig nach. Er hängt in der Luft, kriegt seine Füsse nicht auf den Boden – wird mit dieser kleinen Feststellung manifest.
David ging die Strasse auf und ab und wartete, aber die Frau tauchte nicht auf. (…) er stellte sich bei dem Haus unter, vor dem er sie getroffen hatte. Du bist ja ganz nass, sagte Renata (…).
Diese Stelle ist einer dieser „Kipp-Momente“, von denen es in jeder der Geschichten in diesem Buch mindestens eine gibt. Fast unmerklich, wie ich finde, kippt Realität in Vorstellung.
Im einen Moment überlegt sich David noch, wie die Frau geheissen hat, mit der er hier ein paar Tage vorher kurz gesprochen hatte, und reimt sich schnell eine Identität für sie zusammen, im nächsten Moment stellt er sich vor, wie er bei ihr auf der Couch sitzt. Wenn man nicht aufpasst und einfach über diese Stelle liest, ist man selbst nicht sicher, ob es jetzt Fiktion ist oder wirklich passiert.
„Raubt man eine Bank besser bei Regen oder bei Sonne aus?“
Hübsch. Gute Frage, die man sich erst stellt, wenn man sich näher mit einem Überfall beschäftigt.
Er löschte das Licht und versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern. (…) Er ging ins Bad, um die nassen Sachen auszuziehen.
(…)
Aber das war es nicht, woran er sich dreissig Jahre später erinnerte.
Wieder so ein Kipp-Moment – dadurch, dass David sich in „Renatas“ Gesicht hineindenkt, meint man als Leser, er wäre wirklich näher an ihr gewesen als es der Fall ist. Und plötzlich glaubt man für einen kleinen Moment, David seit tatsächlich bei Renata in der Wohnung gewesen und hätte sich die Sachen ausgezogen.
Das Verwirrendste hier ist aber, dass man sich wohl sicher ist, dass diese Begegnung nur in der Vorstellung stattfand, dann aber die Bemerkung der Erinnerung daran mit 30 Jahren Abstand kommt, die nicht nur suggeriert, die Begegnung mit Renata in deren Wohnung habe stattgefunden, sondern auch der Banküberfall (wieder so ein Kipp-Moment – oder doch nicht?). Man weiss es aber nicht, weil die Geschichte vor dem Überfall endet.
„(…) wenn man auf der Schaukel nach oben geschwungen ist und für einen Moment lang schwerelos ist und glaubt, davonfliegen zu können, bevor die Schwerkraft wieder überhandnimmt und einen zurückzieht ins Leben.“
Starker Schluss. Auch wenn der Erzähler (natürlich, ist man versucht zu sagen) offen lässt, wie es weitergeht mit dem geplanten Überfall: zurückzieht ins Leben wird heissen: in den Alltag des Lehrlings.
Das schönste Kleid
Rückblickend dachte ich, diese Geschichte hätte keinen Kipp-Moment, wie es bei anderen ist. Dann aber dachte ich: vielleicht sind Realität und Einbildung so verschwommen, dass die ganze Geschichte ein einziger Kipp-Moment ist. Darauf komme ich wegen des letzten Absatzes der Geschichte, der für Stamm ungewöhnlich „cheesy“ ist. Das ziemlich unwahrscheinliche Wiedersehen zwischen Brigitte und Felix nach ziemlich langer Zeit in der Badi mit dem Kuss beschrieben wie in einem Groschenroman – das passt irgendwie nicht, auch nicht zum Rest der Geschichte.
Wäre Brigitte wirklich nackt in den See gestiegen und ebenso nackt auf der Party erschienen, wäre das doch eher ein Affront gewesen, der dazu hätte führen können, das Felix sie meiden würde. Oder auch nicht. Noch mehr: hätte man sie nicht eher entlassen, wenn sie auf einem beruflichen Anlass so eine Show abgezogen hätte?
Am Ende bin ich verführt zu glauben, das hier ist eine imaginäre Aschenputtel-Story – die unscheinbare Ausseenseiterin Brigitte gegen die taffen Kolleginnen Nicole und Daniela im Buhlen um den tollen Felix. Brigitte hat die wenigstens Chancen, imaginiert sich aber als Gewinnerin?
Es ist ein bisschen wie beim Ende der vorhergehenden Geschichte: Man kann es glauben oder nicht…
„Das schönste Kleid“
Die junge Frauen einer Grafik-Agentur (?) schwärmen von Felix, dem schönen Chefarchäologen, für den sie einen Auftrag auszuführen haben. Die Ich-Erzählerin Brigitte sticht ihre Rivalinnen aus, nicht zuletzt weil sie nackt auf einer Party erscheint. Das hätte ihr der Leser eigentlich nicht zugetraut. Alles nur Phantasie Brigittes, inklusive kitschigem Abschluss? Dafür aber scheint die Erzählanlage wiederum zu realistisch.
„Wütend schrieb ich zurück, er hätte sich ja offenbar auch ohne mich ganz gut amüsiert (…)“
Womit genau hat der schöne Felix diesen Wutausbruch verdient? Brigitte war ja nun mal nur ganz kurz auf der Party…
„Nach deinem Auftritt auf der Party war das erledigt. Für meinen Geschmack wars du ja ein bisschen underdressed.“
Nicole hat kein Interesse mehr an Felix. Was aber hat der Nackt-Auftritt von Brigitte an der Party damit zu tun? Felix hatte ihr zugeprostet. – Musste hier einfach die underdressed-Pointe platziert werden?
Supermond
Ein Mann hat nur noch einige Tage bis zu seiner Pension zu arbeiten. Er beschreibt diese Zeit und, dass ihn die Kollegen und auch sein Umfeld schon kaum mehr wahrnehmen. Anfangs ist man geneigt zu denken „ja, wieder so einer, der nicht loslassen kann, weil er meint, er sei zu wichtig, um nicht mehr zum Erfolg der Firma beizutragen, obwohl er von gestern ist/scheint“. Als sich das Ganze aber ins Private zieht und seine Frau ihn plötzlich zu ignorieren scheint, ist man irritiert, fast mitleidig.
Am Ende ist es wieder eine Geschichte zwischen hier und dort, eine Parallelwelt. Der Protagonist ist tot, vielleicht schon beim Beginn der Erzählung, und muss selbst loslassen, um „gehen“ zu können. Er schaut von aussen auf seine ehemaligen Kollegen, seine Frau, wird immer schwächer, bis er eines nachts vom „Supermond“ (Anspielung auf das Licht, das ja häufig herangezogen wird, wenn es ums Sterben geht) fortgezogen wird.
Ich finde die Geschichte gut gemacht, weil der Aha-Moment sich fliessend einstellt. Neu ist die Perspektive natürlich nicht. Man findet das Wandeln der Geister, die noch aktiv am Leben teilnehmen viel in der lateinamerikanischen Literatur. Das Insistieren und laute Nachfragen des (toten) Protagonisten, das mit einer Reaktion der Lebenden einhergeht hat etwas Spirituelles, erinnert auch ein wenig an den Film „Ghost – Nachricht von Sam“. Eben, es ist kein neues Thema und auch keine neue Art der Herangehensweise, aber die Geschichte ist angenehm unaufgeregt und wenig emotional angelegt, was man als eine Umsetzung des „sanften Hinübergleitens“ sehen könnte.
„Supermond“
Ja, einmal mehr geht es um ein Verschwinden, und ja, einzelne Motive wie die Liste, die der Held bearbeitet, die ausgedruckt und firmenintern verschickt, aber wohl nie konsultiert wird, sind etwas abgegriffen.
Aber wie hier das Verschwinden durchdekliniert wird, ist stimmig und originell. Wie ein gelungener Song, der sich langsam steigert und zugleich allmählich verstummt. Der Ich-Erzähler, ein Sachbearbeiter in einer grossen Firma und seit vielen Jahren verheiratet, registriert etwas irritiert seine zunehmende Unsichtbarkeit für die anderen und seine abnehmende Kraft. Aber er ist nur leicht irritiert; man stellt sich vor, dass er auch in anderen Zeiten Dinge eher fatalistisch hingenommen hat, auch wenn er sich wohl ungern in seinen Routinen stören lässt.
Ist der Held verstorben, und kommt als Geist zurück, der nicht von diesen Routinen lassen kann? Es fehlen ihm Hunger und Schwerkraft; am Ende wird er in die Lüfte gehoben und entschwindet.
Auf einem ganz anderen Niveau als die ersten beiden Erzählungen.
„Ich kann nicht sagen, dass ich mich darauf freue, ausgemustert zu werden, aber es leuchtet mir ein, dass es notwendig ist und zum Besten der Firma und also letztlich auch zum Besten für mich.“
Etwas überraschende Wendung mit dem „also letztlich auch zum Besten für mich“. Hinweis auf eine Über-Identifikation mit der Firma, die dann auch ein lautloses Verschwinden präfiguriert?
„Auf dem Weg von der Bushaltestelle nach Hause muss ich lange warten, bis ich die Strasse überqueren kann. Eigentlich haben Fussgänger ja Vortritt, aber das kümmert die wenigsten Autofahrer.“
Stelle, an der man hängenbleibt. Subtile (weitere) Andeutung der Unsichtbarkeit des Heldens.
Sabrina, 2019
Die Geschichte um die junge Frau Sabrina, die Modell steht für eine Skulptur. Sie tut dies erst aus Spass, ohne ernsthaft einen Gedanken daran zu verschwenden. Als die Skulptur dann fertig ist, häufen sich die Fragen: warum hat der Künstler Hubert sie gewählt? Warum hat die Skulptur von sich eine derartige Wirkung auf sie, dass sie sie fast jeden Tag in der Galerie und später beim Kunstliebhaber Robert besucht?
Die Verschmelzung von Sabrina mit ihrer Skulptur am Ende könnte man interpretieren als das Finden zu sich selbst. Sabrina entfernt sich zuvor von ihrem Alltag, ihrem Kollegen und Bekannten, die ihr zunehmend auf die Nerven gehen. Sie beschäftigt sich mit sich selbst, indem sie sich mit der Skulptur beschäftigt.
Was leider offen bleibt, ist, was es denn ist, was sie will oder wie sie sein will. Sie möchte sich selbst sein und Robert sagt „hier gehöre sie her“, aber was ist das ausser eben nicht das, was sie vorher war und hatte?
„Sabrina, 2019“
Eine junge Frau verwandelt sich einem lebensgrossen Modell an, das ein Künstler von ihr gemacht hat, und wird am Ende zu der Skulptur (so scheint es). Soweit der anspruchsvolle Plot.
Wiederum geht es um mangelnde Verankerung, Bodenhaftung einer eher unauffälligen Figur (Pflegefachfrau, wohnt in einer WG), die sich zunehmend von ihrem Umfeld entfremdet und immer mehr Zeit in der Galerie verbringt, in der ihr Ebenbild ausgestellt wird; schliesslich besucht sie den Sammler, der die Skulptur erworben hat, und dort kommt es zum Abschluss der Transfiguration.
Die Ausführung des Plots bleibt etwas papieren; zu wenig dicht wird die Verwandlung herbeigeführt, auch wenn die Grundidee der zunehmenden Projektion der Lebensenergie in eine Skulptur durchaus ihren befremdlichen Reiz ausübt.
Sie würde eine Dienerin der Kunst sein, das war etwas Nobles und Bedeutendes.
Sabrina findet also doch etwas „Nobles“ im Modellstehen, nachdem sie sich so viele Skulpturen im Museum angesehen hat, die eine Wirkung auf sie hatten. Leider sieht der Künstler Hubert das ganz anders. Weder bestätigt er ihr, dass er sie wegen ihrer Schönheit ausgesucht hat „Er suche ganz gewöhnliche Frauen, hatte er bei ihrem Treffen gesagt und sich dann gleich dafür entschuldigt und irgendeinen Quatsch gesagt, von wegen jede Frau sei schön. Das hatte sie mehr gekränkt als getröstet“ (S. 54). Schnell merkt man dann auch, dass es Hubert um seinen Ruf, sein Oeuvre geht und nicht um das „Noble“ der Kunst: „Hör mal, sagte Hubert, ich verstehe ja, dass das für dich etwas Besonderes ist, aber für mich ist es die normalste Sache der Welt. Die Kunstgeschichte ist voll von unbekannten Modellen, Leuten, die sich etwas dazuverdient haben (…).“
Er sprach von der Einsamkeit der Skulptur, ihrer Vereinzelung. Hubert gehe es nicht um eine lebensechte Darstellung, alle seine Werke seien Ausdruck eines starken Gefühls oder Gedankens. Sabrina fragte sich, was für ein Gefühl das gewesen sein mochte, ganz bestimmt keines, das mit ihr zu tun hatte.
Wenn man sich den Verlauf und das Ende der Geschichte anschaut, lag das Gefühl Huberts gar nicht so daneben. Sabrina fühlt sich einsam und vereinzelt. Der Unterschied liegt eher darin, dass Hubert das möglicherweise als bedauerlich sieht, es aber im Grunde das ist, was Sabrina will (alle gehen ihr auf die Nerven und am zufriedensten scheint sie allein und in Ruhe gelassen).
„Auch in der WG nervten sie in letzter Zeit alle.“
Etwas isolierter Satz, von der WG wird sonst nicht viel erzählt. Aber es soll deutlich werden: Sabrina geht auf Distanz zu allem und jedem.
„Jetzt war ihre Durchschnittlichkeit verewigt, und sie würde immer dieses unscheinbare Mädchen bleiben mit seinem traurigen Blick und der ungelenken Haltung. Sie setzte sich auf eine der nassen Bänke, hob ihr T-Shirt ein wenig hoch, nahm das Bauchnabelpiercing sorgfältig heraus und warf es in den See.“
Sabrina steckt sozusagen im Horizont der Skulptur „Sabrina, 2019“ fest. Sie ist – ein offenbar häufiges Merkmal der Stamm-Figuren – ohne starke Identität oder klare Konturen, die sich nach der Erschaffung der Skulptur eher noch mehr verwischen. Sie vernachlässigt weitgehend soziale Kontakte. Paradoxe Anziehung: Zwar findet sie die Skulptur in ihrer Durchschnittlichkeit nicht attraktiv, aber immerhin wird dort etwas manifest.
Piercing: wir haben zuvor erfahren, dass das die Hand der Fatima war, die vor bösen Geistern schützen sollte. Sabrina wirft es weg, vielleicht auch, weil sie nicht mehr so recht weiss, was geschützt werden soll.
„Die Frau im grünen Mantel“
Herausragende Erzählung, gute Balance (Rückblick und Erzählgegenwart), bestechendes Timing des Gangs durch das Krankenhaus; Porträt einer faszinierenden Figur.
Der Ich-Erzähler, jetzt Patient und ehemals Arzt hier, nimmt uns mit auf einen Spaziergang durchs Krankenhaus. Er folgt einer Frau, die er vor Jahren mehrfach behandelt hatte; während er ihr durch die verschiedenen Abteilungen und die Cafeteria nachschlendert, erinnert er sich an die merkwürdigen, erotisch aufgeladenen Begegnungen (der etwas einsame junge Arzt verpasste es, klare Grenzen zu ziehen). Und wie er entdeckte, dass Mirjam nicht nur ihn beschäftigte mit erfundenen Krankheiten oder selbst zugefügten Verletzungen, sondern eine ganze Reihe von Ärzten. Zugleich hatte nie ein Arzt eine Akte über sie angelegt, etwas unwahrscheinliche Volte. Die dauerpräsente, aber anonyme Patientin.
Die Frau ist ganz offensichtlich besessen vom Krankenhaus und von Ärzten, in dieser Umgebung scheint sie sich wohlzufühlen; sie nutzt auch die Notfallaufnahme, um zu jeder Tages- Und Nachtzeit darin einzutauchen. Eine weit entfernte Verwandte von Poes «Man of the Crowd» vielleicht. Ein Gespenst, das unablässig durch die Krankenhausflure wandert, seit Jahrzehnten.
Am Ende führt ihn die Frau wieder in den Eingangsbereich, wo der Chefarzt und ehemalige Kollege ihn jovial begrüsst, aber kein Wort verliert zur riskanten bevorstehenden Operation.
„(..) und jetzt erst fiel mir ein, an wen sie mich von Anfang an erinnert hatte, eine Patientin, die mich vor vielen Jahren als Assistenzarzt beschäftigt hatte.“
Andere würde vor „eine Patientin“ einen Doppelpunkt setzen. Dieser Erzähler arbeitet lieber mit einem Komma, er verschleift die Sätze gern.
„(…) dann drehte sie sich abrupt um und ging an mir vorbei zurück ins Gebäude, scheinbar ohne mich wahrzunehmen oder mich zu erkennen.“
Natürlich ist es auch viele Jahre her, seit sie den Ich-Erzähler getroffen hat. Vor allem aber ist er nicht mehr als Arzt hier, sondern als Patient, er hat die „Seiten gewechselt“ – und ist damit wohl nicht mehr auf dem Radar Mirjams.
„Ohne dass ich es recht bemerkt hatte, hatte die Frau mich zurück in die Eingangshalle geführt.“
Der Gang durch das Krankenhaus hat etwas traumwandlerisches; es ist auch ein Aufschub, eine Verschnaufpause, ein Eintauchen in die Vergangenheit, bevor die Gegenwart den Patienten, dem eine riskante Operation bevorsteht, einholt.
„Cold Reading“
Eine Frau ist auf Mittelmeer-Kreuzfahrt und nervt sich über die Mitpassagiere und interessiert sich nicht für die Kulturdenkmäler, die auf den Landausflügen besichtigt werden. Was tut sie hier? Ihr Ex-Partner hatte ihr und sich diese Fahrt geschenkt, nach der Trennung ist sie sie allein angetreten.
In Barcelona entfernt sie sich von der Gruppe und wird bei starkem Regen in eine Wohnung gelockt, von einer deutsch sprechenden Stimme. Ein Wahrsager serviert Tee und erzählt ihr allerlei Binsenwahrheiten, die er aus ihrer Hand liest. Ein Scharlatan? Spielt keine Rolle, die Frau fühlt sich wohl. Warum aber soll sich der Leser dafür interessieren? Das bleibt leider im dunklen.
„Der erste Schnee“
Eine Familie unterwegs in die Skiferien. Gequengel der Kinder, in der Raststätte muss dann Georg noch einen Kunden anrufen. Seiner Frau Franziska reisst die Geduld und sie lässt ihn allein zurück. Er verlässt zu Fuss die Raststätte, und schlägt sich bei einsetzendem Schnee durch Wald und Wiese und erlebt ein lang vermisstes Gefühl der Freiheit, bis er zu einem alleinstehenden Schulhaus kommt, wo die zuvor einigermassen realistische Szenerie in eine traumartige Sequenz kippt. Erzählerisches Risiko, aber die Geschichte mit einem leicht sentimentalen Ende funktioniert ganz gut.
„(…) es war, als bildete sie eine Insel, auf der andere Gesetze galten und die nichts mit der Landschaft zu tun hatte, die sie umgab.“
Autobahn-Raststätte, schön beschrieben.
„Dass ich mich ein Leben lang in Kolonnen bewegt hatte (…)“
Bei seinem kurzen, unfreiwilligen Ausbruch aus dem Alltag sind ihm die Kolonnen (Autos, Skifahrer) plötzlich zuwider. Am Ende der Geschichte reiht er sich aber gern wieder ein.
„Dietrichs Knie“
Adrian schaltet sich zwischen eine email-Korrespondenz seiner Partnerin Sabine und eines Verehrers, schreibt bei Bedarf die emails um und leitet sie weiter. Er will herausfinden, wie weit Sabine gehen wird. Er hat vor kurzem seinen Job in der Werbeagentur verloren, in der auch Sabine arbeitet, als Mitglied der Geschäftsleitung. Er sieht seine Befürchtung, dass Sabine ihn verlassen wird, in einer ihrer emails an den Verehrer bestätigt. – Routiniert in Szene gesetzt, mit einer im Rückblick nicht ganz überraschenden hübschen Pointe zum Abschluss.
„Wenn es dunkel wird“
Eine Polizistin kehrt nach der Trennung von ihrem Freund in das Bergdorf zurück, in dem sie aufgewachsen ist. Sie wandert zu einer Alphütte, in der sie als Kind die Sommer verbracht hat, und wo sich ein Drama ereignet hatte: ihr Bruder verschwand und blieb verschollen. Jetzt geht sie einem Gerücht nach: angeblich wohnt in der Hütte unerlaubterweise eine Frau mit zwei Kindern. Sie findet in der Hütte Spuren, die auf Kinder hindeuten. Sie wartet vergeblich, auf dem Heimweg durch den Nebel schliesst sich ihr aber eine mysteriöse, zunächst wortkarge Frau an, die die Polizistin in der Zelle auf dem Dorfposten unterbringt. Die beiden Frauen schlafen miteinander. Es gibt einen nebulösen Zusammenhang mit dem Drama ihrer Kindheit. – Etwas grob gestrickte Geschichte.
„(… ) setzte sich mir gegenüber wie ein Spiegelbild.“
Wer ist die mysteriöse Frau? Was heisst ein „Spiegelbild“ der Polizistin?
„Diese Nacht war noch tiefer als die letzte, sie gehörte nur uns. Die Frau verriet mir ihren Namen, jetzt erst erkannte ich sie.“
An der Kitschgrenze. – Die Ich-Erzählerin teilt uns den Namen nicht mit, der Leser stochert im Nebel…
„Mein Blut für dich“
Die Firmen-Schönheit Bianca kümmert sich um den kränklichen, unattraktiven Buchhalter Bruno, der sein Leben verpasst hat. Etwas überdimensioniert der Einstieg mit dem forcierten Blutspendenaufruf des Firmenchefs. Die Erzählanlage – Ich-Erzählerin (Mitarbeiterin) fragt die Firmen-Schönheit in der Zigarettenpause eines Weihnachtsessen aus – scheint nicht ganz stimmig durchgeführt. Am Ende der Binnenerzählung, als es zu einer Berührung zwischen der grossen Bianca und dem kleinen Bruno kommt (man denkt unwillkürlich an Schneewittchen und einen Zwerg…) wird notiert, dass sich etwas in Bianca verändert habe. Soll die aus dem Rahmen fallende, isolierte, unkommentierte Feststellung bloss die Spekulation befeuern, dass es tatsächlich zu einer Affäre zwischen den beiden ungleichen Partnern (und wenig passenden Farben, weiss und braun, strahlend und unscheinbar) gekommen ist?
„Als sie die Fragen las, errötete sie.“
Bianca beim Blutspenden; im Formular, dass sie ausfüllen muss, geht es um (wechselnde) Sexualpartner. Die Sätze klingen, als würde wir das Geschehen direkt verfolgen. Dabei erzählt Bianca die Ereignisse aus vielen Jahren Abstand. Vielleicht aber muss man sich das wie im Film vorstellen, wenn jemand zu erzählen beginnt, und wird der Zuschauer zurückversetzt.
„Da merkte sie, dass sich etwas veränderte in ihr.“
Bianca hat Mitleid mit dem Buchhalter Bruno und drückt ihn an sich. Was aber verändert sich in ihr? Würde die Ich-Erzählerin nicht bei Bianca nachfragen, die ihr das ja offensichtlich berichtet? Und wenn ja, warum würde sie uns die Antwort vorenthalten?