Winzige Gefährten
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Besprechung
Moritz T.
„Menschen gibt es seit höchstens dreissig Minuten.“
Die Erdgeschichte von 4.54 Milliarden Jahren, komprimiert auf ein Jahr. Im März tauchen Mikrorganismen auf, ab Oktober machen sich Mehrzeller breit, die Dinosaurier sterben am 26. Dezember aus, um 23.30h am 31. Dezember erscheint der Mensch.
„Zwei grosse Domänen des Lebendigen verschmolzen und schufen mit der grössten Symbiose aller Zeiten eine dritte. Das Archaeon bildete das Grundgerüst der Eukaryontenzelle, und aus den Bakterien wurden im Laufe der Zeit Mitochondrien.“
Archaeonen plus Bakterien=Eukaryonten, Voraussetzung für komplexes Leben. Diese Symbiose scheint sich in den Milliarden Jahren genau einmal ereignet zu haben (etwa im Juli im komprimierten Erdgeschichte-Kalender).
„Unsere Zellen enthalten zwischen 20.000 und 25.000 Gene, die Zahl der Gene in den Mikroorganismen in unserem Inneren liegt dagegen nach Schätzungen 500-mal höher.“
Damit können sich die Mikroben „auf praktisch jede erdenkliche Herausforderung einstellen“ (p. 19); es folgen Beispiele, welche Funktionen Mikroorganismen haben. Gern hätte man hier noch etwas genauer erfahren, was die Vielzahl von Genen denn bedeutet. Es klingt ein wenig, als könnten sich die Gene organisieren, um (gemeinsam) zu reagieren.
„Ob dieser Kern existiert, ist heute umstritten.“
Gibt es Mikroorganismen, die allen Menschen gemein sind, ein „Kern-Mikrobiom“? Umstrittene Frage – es gibt eher Kern-Funktionen, die Mikroorganismen bei den Menschen wahrnehmen.
„Unsere rechte Handfläche hat nur ein Sechstel ihrer Mikroorganismenarten mit der linken Hand gemeinsam.“
Das ist überraschend, zumal die Hände sich doch recht häufig berühren. Aber sie nehmen auch unterschiedliche Funktionen wahr. Leider gibt Yong zu der Feststellung keine weiteren Erläuterungen (und die Fussnote bringt einfach einen Quellenverweis).
„Das Immunsystem ist nicht nur ein Mittel. um Mikroorganismen unter Kontrolle zu halten. Es wird zumindest teilweise auch von Mikroorganismen kontrolliert.“
Yong führt eine Reihe von Belegen an, dass Mikroben in Symbiose mit anderen Lebewesen existieren, unter anderem mit Menschen, und dass ohne Mikroben kaum ein Leben denkbar wäre.
„Vielleicht beziehen auch wir, wie die Hyänen manche Informationen über andere Menschen, indem wir die Nachrichten erschnuppern, die von unseren Mikroorganismen ausgesandt werden.“
Wie steuert aber das Mikrobiom des Empfängers (oder andere Empfänger-spezifische Faktoren) der Duftmoleküle die Wahrnehmung? Wie beeinflusst das Mikrobioms des Forschers die Forschung?
„Und können unsere Mikroorganismen vielleicht von vorneherein mit darüber bestimmen, welche Lebensmittel wir gern essen? Er ist es eigentlich, der unsere Hand in Bewegung setzt, wenn wir nach einem Hamburger oder einem Schokoriegel greifen?“
Noch viel Spekulation, inwieweit die Mikroorganismen unser Verhalten und unsere Gesundheit beeinflussen.
„Anders die Mikroorganismen in unserem Darm: Sie sind ein natürlicher Teil unseres Lebens.“
Etwas heikle Abgrenzung von Parasiten, die sich auf Kosten ihrer Wirte vermehren (und deren Verhalten so steuern, dass sie sterben). Mikroorganismen „können unsere Partner sein, aber unsere Freunde sind sie nicht. Selbst in der einträchtigen Symbiose bleibt immer noch genügen Spielraum für Konflikt, Egoismus und Betrug.“ (p. 101)
Wenn für das Baby unverdaubare Zuckermoleküle der Muttermilch „in Wirklichkeit Futter für die Mikroorganismen sein sollen?“
Muttermilch als Superfood, nicht nur für das Kind, sondern auch für das in Aufbau befindliche Mikrobiom des Kindes.
Schnelles Wachstum des (Menschen-) Gehirns abhängig von Silaninsäure, produziert von B. infantis.
Begründung: Geselligkeit von Menschenaffenarten erfordert höhere Gehirnleistung, mehr soziale Bindungen. – „Viele Wissenschaftler glauben, dass diese Anforderung bei Primaten die Evolution der Intelligenz vorangetrieben hat.“ (p. 127). Erdmännchen, oder Wölfe leben auch in grösseren Verbänden – Abgrenzung?
„Kein einzelner Organismus ist ein Krankheitserreger, sondern die ganze Gemeinschaft ist in einen pathogenen Zustand übergegangen.“
Der Tod eines Korallenriffs wird nicht durch einen einzelnen Mikroorganismus verursacht (so wie bei den Menschen die Pest auf eine Mikrobenart zurückgeht). Es sind Stressfaktoren (wie zum Beispiel säurehaltiges Wasser, oder hohe Nährstoffkonzentration), die ein ganzes Ökosystem zum Kippen bringen. Mikroorganismen, die zuvor zum Gleichgewicht der Korallen beigetragen haben, können unter Stress plötzlich zum Tod der Korallen beitragen. – Analogie zu Erkrankungen des Menschen wie Morbus Crohn: “ Die gesamte Mikroorganismengemeinschaft begünstigt Entzündungen, und stellt den Immunostaten des Wirtes auf ‚extrem gereizt‘ ein.“ (p. 159) Vielleicht könnte man auch Magersucht unter dieser Perspektive betrachten Anorexie und die Darmflora • PSYLEX?
„(…) als würde man eine Stadt bombardieren, um eine Ratte zu töten.“
Eindrückliches Bild für den Einsatz von Antibiotika. Die Zerstörung des Mikrobioms ebnet den Weg für andere Krankheiten, Neuansiedlung von für den Wirt gefährlichen Mikroben.
„Was ist eine Dysbiose eigentlich? Woher wissen wir, ob sich ein Ökosystem in Unordnung befindet?“
Gute Frage, schwierig zu beantworten, auch weil sich die Aktivitäten und die Zusammensetzung der Mikroorganismengemeinschaft beständig ändert, manchmal von Stunde zu Stunde. Etwas vager Verweis auf den jeweiligen „Zusammenhang“, p 180/1.
Ähnlichkeit der Mikrobiome, wenn man zusammen lebt.
Gilt für Pavianrudel ebenso wie für Menschen, die im selben Haus wohnen.
«Auch Mikroorganismen bevorzugen manche Partner gegenüber anderen (…)»
Beispiel für die Verwendung einer intentionalen (statt einer funktionalen) Zuschreibung. Yong redet auch davon, dass Mikroben formen, kontrollieren oder steuern: (das Immunsystem) „wird teilweise auch von Mikroorganismen kontrolliert», p. 87.
„Gehören zu meinem Hologenom auch die Mikroorganismen in dem Sandwich, das ich gerade verzehrt habe?“
Diskussion der Begriffe Holobiont, Holobiom, Hologenom (ab p. 206)
«Aber stellen wir uns einmal eine andere Welt vor, in der Freunde und Kollegen ihre Gene nach Belieben untereinander austauschen könnten. (…) In einer solchen Welt sind Gene nicht nur Erbmasse, die vertikal von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sondern eine Ware, mit der man auch horizontal von Mensch zu Mensch handeln kann.»
Mit Mikroben erfolgt solch ein Horizontaler Gentransfer HGT andauernd. Unterminiert nicht die Evolutionstheorie: «wenn die springenden Gene in der neuen Heimat angekommen sind, unterliegen sie nach wie vor der guten alten Selektion» p. 252 – Aber erhöhte Komplexität, epigenetischer Impact? Die springenden Gene haben Einfluss auf die Ureinwohner-Gene…
«(…)was hatte ein Gen aus dem Meer (eines Meeresbakteriums) im Darm eines an Land lebenden Menschen zu suchen? Die Antwort liegt im HGT.»
Bakterium das von Nori-Seetang lebt, gelangt (mit Sushi) in den Magen, kann sich dort nicht halten, gibt aber noch rasch ein Gen weiter an ein anderes Bakterium, das diesem ermöglicht Enzyme zu produzieren, die Seetang abbauen. Die Mikroorganismen werden dann weiter vererbt, Japaner sind gut darin, Nori zu verdauen. Selbst wenn sie heute keine auf Nori-lebenden Bakterien mehr aufnehmen, da Nori heute nicht mehr roh gegessen wird.
Nur dadurch, dass sich die Japaner früher Nori samt Kontext (=darauf lebende Mikroben) einverleibten, erlangten sie die Verdauungsfähigkeit.
„Das Genom eines Tieres, so glaubte man, sei ein unantastbares Heiligtum, das von der genetischen Promiskuität der Mikroorganismen isoliert ist.“
Falsch geglaubt… Wäre auch zu schön gewesen, die unüberschaubare Komplexität der Lebens wenigstens in dieser Hinsicht einzugrenzen. «Die Fadenwurmgene zum Eindringen in Pflanzen sind eindeutig bakteriellen Ursprungs.» p. 258
„So sieht Medizin aus, wenn man begriffen hat, dass Mikroorganismen nicht die Feinde der Tiere sind, sondern das Fundament, auf dem unser Organismenreich aufbaut.“
Die Kriegs- sollen Gärtnermetaphern Platz machen in dieser neuen Medizin: Es geht nicht mehr (nur) um das Ausrotten von Keimen, es geht um Hegen, Pflegen, Pflanzen, Jäten.
„Hinzufügen, was fehlt. Wegnehmen, was unerwünscht ist. Solche einfachen Gleichungen sind noch heute die Triebkraft für grosse Teile des medizinischen Denkens. Die Mathematik des Mikrobioms dagegen ist komplizierter, denn zu ihm gehören grosse, wandelbare Netzwerke aus verknüpften, miteinander interagierenden Teilen. Ein Mikrobiom zu kontrollieren, heisst also eine ganze Welt zu formen – und das ist so schwierig, wie es klingt.“
Und wie kommen wir mit dieser Komplexität wissenschaftlich-methodisch zurecht? Wie tragen wir zudem dem Faktor Labor/Wissenschaftler Rechnung, der mit seiner eigenen Mikrobenwelt und spezifischen Wahrnehmung immer zur Gleichung hinzukommt?
„Mitte der 1980er Jahre schleuste er Pansenbakterien aus toleranten Ziegen in anfällige australische Nutztiere ein und stellte fest, dass die Empfänger sich nun ohne Reue an Leucaena gütlich tun konnten. Mit den ausländischen Mikroorganismen im Magen konnten Tiere, die zuvor von Leucaena todkrank geworden wären, die nahrhaften Sträuche in so grossen Mengen verzehren, dass sie in Rekordgeschwindigkeit an Gewicht zunahmen.“
Eher seltenes Beispiel einer erfolgreichen Mikroorganismen-Verpflanzung: Die Rinder verfügten zuvor nicht über die Fähigkeit, Giftstoffe im proteinreichen, aus Mittelamerika nach Australien importierten Strauch abzubauen; die transferierten Magenbakterien der Ziegen aus Mittelamerika machten es möglich.
„Stuhltransplantationen werden schon seit mindestens 1700 Jahren immer mal wieder vorgenommen.“
Nachgewiesen in China im 4. Jahrhundert. Mit der Entdeckung des Mikrobioms Aufschwung für diese zunächst befremdliche medizinische Methode, mit teilweise durchschlagendem Erfolg. Seit 2012 ist Stuhl in den USA als Medikament zugelassen (FDA-Entscheid). Aber hohe Komplexität, mit erwünschten Mikroorganismen werden auch unerwünschte transplantiert. Ideal wären „genau definierte Mischungen“, p. 305 (sofern wir denn wissen, was die genau definierten Mischungen genau für Interaktionen mit dem bestehenden Mikrobiom eingehen).
„Wir hatten in letzter Zeit Angsgefühle, also verschreibt (die Ärztin) ein Bakterium, das nachgewiesenermassen auf das Nervensystem wirkt und Ängste unterdrückt.“
Blick in eine mögliche Medizin der Zukunft.
„Sie remixen Gene und erzeugen so eine neue Generation von Probiotika.“
Synthetische Biologen, die gezielt Mikroorganismen herstellen.
„Jeder Mensch macht in jeder Stunde rund 37 Millionen Bakterien zu Aerosolen.“
Beeindruckende Zahl. Wir tragen ständig eine Mikrobenwolke mit uns herum, die im Austausch mit der Umgebung ist. Könnte man diese Wolke visualieren, die unterschiedlichen Stämme mit verschiedenen Farben versehen, zeigen, wie sich die Wolken mischen, zum Beispiel in einem Sitzungszimmer? Phantastische Vorstellung.
„Für einen Ökologen ist das vollkommen plausibel: Frische Luft bringt ungefährliche Mikroorganismen aus der Umwelt mit, die den Raum besetzen und Krankheitserreger fernhalten.“
Versuch, Krankenhäuser „klinisch“ rein zu halten, resultiert in der Besetzung der Räume durch Krankheitserreger, die die Patienten mitbringen. Besser wäre eine Besiedlung durch unschädliche Mikroben.