Zeilen und Tage III
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Besprechung
Moritz T.
«Das Arrangement entspricht dem Zustand der Ärzteschaften überhaupt, wie auch der meisten Berufsstände im Land: Selbstreflexion wird per Outsourcing erledigt, ‘generalistische Sicht von aussen’ kauft man hinzu, das weitet den Horizont und tut nicht weh.»
Sloterdijk zu einem Vortrag eingeladen an einem grossen Nephrologen-Kongress in Berlin. Das umfangreiche Programm mit den nephrologischen Spezialthemen ist für den Laien schwindelerregend. Sloterdijk hat wohl recht, dass man an solchen Kongressen grundsätzliche Fragen nicht stellt, respektive gern weiter-delegiert und damit „erledigt“. Die Kluft zwischen generalistischer und spezialistischer Perspektive wird zunehmend grösser. – Immerhin siedelt sich in dieser Nische das Geschäftsmodell des Handelsreisenden in Sachen «Reflexion und Sinn» an.
„Auf dem Rückweg wieder durch die leeren Landschaften der Champagne und der Lorraine in ihrem endlosen Graugrün, der in den Landschaften verlorenen Zementsilos, den Windrädern, den resignierten Kühen. (…) Wollte man der Welt abhanden kommen, hierher müsste man ziehen. An Orten wie diesen fehlt die Welt sich selbst.“
Auch Europa hat seine fly-over- oder ride-through- départements. Von Paris aus zurück nach Karlsruhe mit dem TGV, vermutlich.
„Schon beim Frühstück, dem empfindlichsten Teil des Tages, okkupieren Frauen im unendlichen Gespräch den Raum mit jener postmenopausalen Wut, die so lange Sätze macht.“
Sloterdijk ist viel unterwegs, da eine Konferenz, dort ein Vortrag, hier ein Podiumsgespräch. Da lassen sich Hotel-Aufenthalte nicht vermeiden, auch wenn sich seine überwache Aufnahmebereitschaft immer wieder an Vorkommnissen stört, die zum Hotelalltag gehört. Das führt durchaus mal zu grobianischen Reaktionen, oder wie hier, zu sexistischen. Wobei es nicht ohne (freiwillige?) Komik ist, dass Sloterdijk den Grund für lange Sätze und ausschweifende Kommunikation in der „postmenopausalen Wut“ vermutet; die braucht es dazu ganz offensichtlich nicht, wie der Meister in diesem Fach, nämlich Sloterdijk selbst, unter Beweis stellt.
„Die organisierte Kriminalität in Europa trägt Namen wie Camorra, ‚Ndrangheta, Swisscom. Letztere berechnet für eine Stunde Telefonieren ins Ausland 200 Euro Roaming Gebühren.“
Swisscom in ehrenwerter Gesellschaft, nicht ganz unverdient.
„Wir sind Freunde, weil wir unsere Naivitäten gegenseitig gelten lassen.“
Aber festgehalten wollen sie sein. Joseph hatte ohne Ironie betont, die Datteln seien aus dem „Heiligen Land“.
Zuvor hatten wir schon erfahren müssen, dass P.W. die Korrespondenz mit P.S. nicht mit der gebotenen Diskretion behandelt.
Spuren einer Verliebtheit ziehen sich durchs Tagebuch, bis Bea bei ihrem Auftritt auf dem „Karlsruher Parkett“ erstmals Blicke auf sich zieht (p. 282).
Wir erfahren auch von einer schief gelaufenen Jahresend-Familienfeier.
Kleine, gezielte Einblicke ins Private.
„Die Proteinindustrie bildet einen Schlüsselsektor der globalen Belastungsverschiebungen zu Ungunsten nicht-humaner Grössen. (…) Man muss lernen, in der Entlastungssucht die dunkle Seite des Prinzips Hoffnung zu sehen. Entlastung – die Meta-Droge, die das gemeinsame von Drogen und Nicht-Drogen bezeichnet. Wer erklärt uns den Meta-Drogenhandel?“
Nun, wohl irgendwann Sloterdijk selbst, ist anzunehmen. Typischer grosser Gedankenschwung: die Fleisch-Industrie ist nicht nur ein Industriezweig, sie ist ein Agent im Projekt „Entlastung“, das natürlich nur dank Belastung der Umwelt zustande kommt.
„Mon dieu, als ich noch alles wusste, da war ich ein ziemlich laut tönendes Erz und eine überklug klingende Schelle.“
Sloterdijk bei der Selbstlektüre, durchaus selbstkritisch. Natürlich weiss er, dass er immer noch alles weiss.
„Der empfindlichste aller Türken (…)“
Sloterdijk operiert gern mit Zahlen. Erdogan hat bereits 237 Personen wegen Beleidigung verklagt – „Sensibilitätsrekord“. – Man muss Slotderdijk zugestehen, dass er, früher als andere, einen klaren Blick auf Figuren wie Erdogan oder Putin hatte.
„Hochkulturvölker besitzen das Drama, ‚Halbkulturvölker‘ nur ‚Pantomimen mit Geheul und Gymnastik‘. Man staunt: Ein Basler Professor prophezeit die Popmusik.“
Sloterdijk liest Jakob Burckhardt.
„Was ist konservativ? An erster Stelle die Bereitschaft, Revolutionsnebenkosten zu berechnen.“
Hübsch formuliert.
„Könnte es nicht sein, dass die Emanzipation der Reklame von der Religion das Hauptereignis der jüngeren Ideengeschichte darstellt?“
Eher nein, würde man meinen.
Das hält Sloterdijk natürlich nicht davon ab, den Gedanken weiter zu verfolgen, Propaganda, Säkularisation und Entstehung der Öffentlichkeit, und unterwegs Habermas einen Tritt vors Schienbein zu verpassen.
„Wie müde Raubtiere neben dem Gerippe des Opfers hocken die Stunden schlechten Schlafes am Morgen neben mir.“
Poetisch. Ausgefeilt.
„Paare im nachsprachlichen Stadium, die ihrem Verdauungsapparat freudlose Aufgaben stellen. Man könnte glauben, man habe die Zukunft Europas in einem massstabgetreuen nachgebauten Modell vor sich.“
In Usedom allerlei Unfreundliches über die anderen, meist älteren Gäste, die auch kaum Begeisterung aufbringen für Sloterdijks Lese-Vortrag aus dem „Schelling-Projekt“.
„Assoziationsvolumen“
Und zwar ein grosses, wird hier dem heute nur noch wenig rezipierten Rosenstock-Huessy attestiert, der sich als Autor zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen bewegte. – Sloterdijk, Meister der frei flottierenden Assoziationskunst, redet auch ein wenig von sich selbst, wenn er Rosenstock-Huessy (und Spengler) hier abhebt von den langweiligen „Diskursfabrikanten“.
„Und wenn Fortschritt vor allem in der Ausweitung des Privilegs bestünde, ein unbelästigtes Leben zu führen?“
Kontext: Lärmbelästigung durch Muezzins bei Moschee-Neubauten.
Am besten auch unbelästigt durch Steuerforderungen, s. Seite 518: „Was ist die Steuererklärung anderes als die Ausdehnung der Inquisition von Glaubensfragen auf Einkommensverhältnisse?“
Die libertäre, anti-etatistische Grundhaltung des vom Staat angestellten Professors macht sich immer wieder bemerkbar.
„Trumps Auftritte gehören in die Kategorie des Vulgär-Surrealismus (…)“
Originelle und ergiebige Deutung des Phänomens Trump auf dieser Seite.
„Man hätte ruhig einmal aussprechen dürfen, was Amerika auch ist: 4000 Kilometer Dummheit zwischen zwei Ozeanen, an deren Küsten immerhin schon intelligentes Leben entdeckt wurde.“
Nach der Wahl Trumps zum Präsidenten. Natürlich wird hier auf Pointenmaximierung gezielt, und eine Ironisierung mag auch erkennbar sein. Dennoch: was ist das anderes als bornierter, elitärer Dünkel?