Buch im Fokus #10

27.04.2024
In «Grenzfahrt» evoziert Andrzej Stasiuk in dichter Prosa eine ostpolnische Flusslandschaft, die vom Grauen des (2. Welt-) Krieges beherrscht wird. Aufgerieben zwischen der deutschen und russischen Front die Polen, die sich unter der Besatzung zu organisieren versuchen. Stasiuk erzählt kleine, berührende, oft aber auch brutale Episoden. Im Hintergrund werden existenzielle Fragen verhandelt: Was macht der Krieg mit den Menschen? Wo findet man Orientierung, wenn die althergebrachte Ordnung zusammenbricht?   Zitat & Kommentar #7 zeigt, wie der grosse Romanschriftsteller Leo Tolstoi im Alter mit der Welt und mit sich ins Gericht geht, und darüber aber nie seinen Wissensdurst und seine Neugierde verliert.
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Grenzfahrt

Autor: Andrzej Stasiuk
Verlag: Suhrkamp
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2023
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-518-43126-9
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 355
Sprache: Deutsch
Originalsprache: Polnisch
Übersetzung: Renate Schmidgall
D Daniel

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Inhalt

Zugänglichkeit

Ausstattung

Besprechung

«Grenzfahrt» ist eine Reise an den Fluss Bug, an der Grenze zwischen Polen und Russland, auf zwei Zeitebenen:  In der Vergangenheit im Juni 1941, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Armee in Russland und in der Gegenwart, in der sich der Ich-Erzähler an seine Kindheit und die Kriegserzählungen seiner Vorväter erinnert.

In lose verketteten Szenen wird von der Verlorenheit der Einheimischen erzählt, die zum Kollateralschaden des Krieges werden. Die polnische Bevölkerung ist bereits geschlagen. Sie sind traumatisierte Verlierer und Opfer und werden es erneut.  In krassem Gegensatz dazu steht der durchorganisierte deutsche Aufmarsch und Auftritt.

"Von Hruszowa her hörten sie ein Dröhnen. Ein tiefes, schweres Grollen aus dem Westen. Es war wie ein aufziehendes Gewitter, aber es glitt direkt über die Erde und liess sie erbeben… Hier hatte noch nie jemand so etwas gehört." (p. 19)

Dann erscheinen die Kolonnen der Motorräder, Transporter, Lastwagen, Panzer – eine endlose, todbringende Metallschlange. Dies beobachtet, im hohem Gras versteckt, eine zersplitterte Truppe, vielleicht ehemalige polnische Soldaten, vielleicht aber auch eine selbsternannte Widerstandsgruppe, eher Kinder als Soldaten.

Der Krieg macht Pause, aber er dominiert mit seinem Grauen diese Zwischenwelt und bestimmt das Leben der Protagonisten, die zwischen den Fronten stecken und hilflos den Kriegsvorbereitungen zusehen müssen.

Ob es der Fährmann ist, der Flüchtlinge in der Nacht über den Fluss führt, oder das jüdische Geschwisterpaar, das auf der Flucht ist, oder die polnische Truppe,  die von einem brutalen Zugführer geleitet wird und die ihre Gräueltaten vollbringt – überall lauert der Abgrund, ist  die Orientierungslosigkeit spürbar. Anders die Gefährtin des Fährmanns. Sie scheint in sich zu ruhen, hilft wo sie kann und macht das Beste aus der prekären Situation.

Stasiuk erzählt im Nebensächlichen oft viel treffender von der grauenhaften Dimension des Krieges, als in den offensichtlichen Szenen von Gemetzel, aufgeschlitzten Körpern (Schweine und Menschen), oder Folter. Zum Beispiel in der Szene, in der einer der polnischen Partisanen sich auf dem Dorfmarkt einen dunkelgrünen, gestreiften Pyjama aus Seide aneignet. Ein Kleidungsstück von einem hingerichteten Opfer, keine Frage, aus einem der nahen Konzentrationslager. Ein Pyjama, der einmal in einem normalen Alltag auf nackter Haut getragen wurde. Ein Pyjama sinnbildlich für Viele, Tausende, Millionen, einem endlosen Berg von Pyjamas. Solche Bilder hervorzurufen, gelingt dem Autor immer wieder.

In den Erinnerungsreisen versucht der Ich-Erzähler (und Sohn) die Aufarbeitung und Auflösung. Doch auch hier überwiegt das Schwere. Der Krieg ist zugleich unvorstellbar und doch auch noch nach Jahrzehnten mit seinem Grauen und seiner Absurdität präsent.

«Grenzfahrt» führt die LeserInnen auf den schmalen Grat zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, Macht und Ohnmacht, Brutalität und Menschlichkeit. Die Absurdität ist manchmal kaum zu ertragen, das heisst, der Blick von diesem Grat in die Tiefe ist erschreckend. Nichts wird künstlich, alles wird nachvollziehbar in starken Bildern erzählt. Einzig die Schilderungen von Prostitution, Verführung oder Inzest grenzen teilweise an verklärte Fantasien.

Andrzej Stasiuk führt damit die LeserInnen an die eigenen Grenzen und hier wird die Luft manchmal dünn und das Atmen schwer. Die Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, kurz – die dunkle Seite gewinnt und selbst der Fährmann ist kein Erlöser, sondern bringt seine Fahrgäste nur von einem Übel ins andere.

"Er hatte Angst sich zu bewegen, um nicht die Stille zu stören, die den ganzen Raum zu erfüllen schien, den er sich vorstellen konnte… ‘Vielleicht sind alle tot, und es ist endlich Ruhe?’, dachte er…" (p. 84)

- Ein Gedanke des jungen Flüchtlings; mir kam am Ende des Buches etwas Ähnliches in den Sinn: jetzt ist die streckenweise schwer erträgliche Erzählung zu Ende und endlich Ruhe. So stark vermag die dichte und präzise Erzählkunst Stasiuk den (oder mindestens diesen) Leser aufzuwühlen.
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Zitat & Kommentar

#7 27.04.2024
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Leo N. Tolstoi : Tagebücher 1847 – 1910

MT Moritz T.

Tagebücher_Zitat p. 901

Ich bin selten einem Menschen begegnet, der mehr mit allen Lastern behaftet war als ich: mit Wollust, Eigennutz, Bosheit, Eitelkeit und vor allem Eigenliebe. Ich danke Gott dafür, dass ich dies weiss, dass ich all diese Niederträchtigkeiten in mir erkannt habe und immerhin gegen sie ankämpfe.

Kommentar

Der späte Tolstoi ist ein Musterbeispiel von Altersradikalität. Er wendet sich gegen den Staat, gegen die Kirche, gegen die Wissenschaft (der er – im Jahr 1910 notabene – unterstellt, im Propaganda-Dienst der Regierung zu stehen). Er hegt Sympathien für Anarchismus und Pazifismus. Er möchte sein Werk für alle frei zugänglich machen, und gerät darüber in einen langwierigen Streit mit seiner Ehefrau, der kurz vor seinem Tod eskaliert – nachzuverfolgen in den «Tagebüchern 1847 – 1910».

Er nimmt als 70- oder 80-jähriger am politischen Tagesgeschehen teil, empfängt eine endlose Reihe von Bittstellern und Verehrern (und reflektiert die Begegnungen selbstkritisch), er interveniert mit seinen Schriften, verfolgt seine Prosaprojekte, seine Lektüre-Palette reicht von Konfuzius bis zu Tschechow, er erhält und schreibt zahllose Briefe – und ermutigt beispielsweise Mahatma Gandhi in seinem gewaltfreien Widerstand gegen die britischen Kolonialisten.

In seinen späten Tagebüchern dominiert aber vor allem eine unnachgiebige Selbstbefragung, die manchmal in eine Selbstanklage mündet, wie in unserem Zitat. Tolstoi versucht den Geboten eines eigenwilligen christlichen Altruismus und Asketismus zu folgen; paradoxerweise steht ihm aber gerade sein starker Wille, seine Vitalität, sein Temperament im Weg. Und wenn er hier seine Untugenden über alle Massen hervorhebt: ist das nicht auch wieder eine versteckte Form der Eitelkeit?

Tolstois Tagebücher geben Zeugnis von einer hartnäckigen, bis ins hohe Alter um Erkenntnis ringenden intellektuellen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt.

 

 

 

 

 

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