Buch im Fokus #17

01.09.2024
Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine mit Krieg überzogen hat, ist sehr viel geschrieben worden über die russische Kultur und Mentalität, und wie sich die russischen von den westlichen Werten unterscheiden. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, inwieweit die Jahrzehnte der Sowjet-Herrschaft auch das heutige Russland mit-bestimmen. Karl Schlögel hat mit «Das sowjetische Jahrhundert» eine Studie publiziert, die viele Bereiche des Gesellschaftslebens mit einem erfrischend innovativen Ansatz zugänglich macht. Er zeigt sehr anschaulich, wie sich das Leben im Kommunismus gestaltet hat, und wie umfassend der Sowjet-Staat die Menschen geprägt hat. Der Leser versteht nach der Lektüre besser, warum die sowjetische Erfahrung auch im Russland des 21. Jahrhunderts so präsent ist. Vor allem aber wird vor seinen Augen ein äusserst vielschichtiges Panorama einer Epoche entfaltet. «Das sowjetische Jahrhundert» ist ein herausragendes historisches Werk.
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Das sowjetische Jahrhundert

Autor: Karl Schlögel
Untertitel: Archäologie einer untergegangenen Welt
Verlag: C.H. Beck
Genre: Sachbuch
Erscheinungsjahr: 2017
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-406-71511-2
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 912
Sprache: Deutsch
MT Moritz T.

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Besprechung

Es ist das Verdienst von Karl Schlögel, mit diesem Buch das «sowjetische Jahrhundert» in vielen Facetten zum Vorschein zu bringen, indem er «alle Sinne der Weltwahrnehmung» ins Spiel bringt. Für einmal stehen weniger die grossen, geschichtsträchtigen Ereignisse im Vordergrund, sondern das Alltagsleben, das Schlögel in zahlreichen Bereichen einer Spurensuche unterzieht. Das Verfahren zeitigt vielfältige Einblicke in den sowjetischen Kosmos, die man mit herkömmlicher Geschichtsschreibung kaum erzielen könnte. Er untersucht das Phänomen der Datschas, zeigt die Bedeutung des Telephons (und der fehlenden Telephonbücher), oder überlegt sich, warum die öffentlichen Toiletten in einem «unerträglichen» Zustand sind. Er beschreibt detailliert das Leben in den Gemeinschaftswohnungen, den Kommunalkas, in denen viele Familien eine Küche und ein Bad teilen mussten. Diese Wohnform entsprang keiner Planung der Bolschewisten, sondern akuter Wohnungsnot nach dem Krieg, dem auf die Revolution folgenden Bürgerkrieg, der Vergesellschaftung des Bodens und der damit einhergehenden Landflucht.

Zuweilen gleitet Schlögel ab in ein blosses Aufzählen, im Kapitel über die Dioramen beispielsweise, kaum vermeidbar bei einem 900-Seiten-Werk. Zumeist aber vermag Schlögel seinen Sondierungen einen Mehrwert abzugewinnen, bei den Schilderungen des typischen «sowjetischen Treppenhauses» etwa. Eingangstüre, Beleuchtung, Geruch, Farben werden verhandelt, Schlögel schwebt «eine dichte Beschreibung» vor, die alle möglichen Aspekte berücksichtigt. In dieser vernachlässigten, häufig verwahrlosten Zone kommt es zu (Nicht-) Begegnungen: «Sich zu grüssen ist nicht nur nicht üblich, sondern provoziert erstaunte, ja abweisende Blicke. Jeder demonstriert, dass er in Ruhe gelassen werden will.» Der halböffentliche Raum wird preisgegeben, es kostet zu viel Kraft sich darum zu kümmern, man zieht sich in die eigenen vier Wände zurück. «In diesem Raum, ist er erst einmal geräumt, wird alles möglich – vom harmlosen Graffito bis zu Überfällen und Mord.»
Erhellend auch das brillant geschriebene Kapitel über die allgegenwärtigen Warteschlangen, oder die genauen Beobachtungen zum Packpapier.
Das atemberaubende Themenspektrum reicht vom Porzellanelefanten zum gigantischen Staudammprojekt, von der – als einer Art Idylle geschilderten - «Lebenswelt Eisenbahn» zu den grausamen Arbeitslagern im Nordosten, vom Futurismus bis zu den Klingelschildern. Gelegentlich schleicht sich ein leicht nostalgischer Ton ein, etwa, wenn Schlögel auf Flohmärkten Medaillons und Abzeichen aufspürt, die die Sowjets für alle möglichen Leistungen und Lebenslagen prägen liessen. Aber der Autor bezieht unmissverständlich Stellung, wenn es um den staatlichen Terror geht und die Verheerungen, die das Sowjetregime in zahllosen Biographien angerichtet hat.

Schlögel bewegt sich in der Nähe zu anderen Disziplinen, insbesondere auch der Literatur, er verweist häufig auf oder zitiert aus Erzählungen (sowjetischer) Schriftsteller. Die Studie löst sich von der trocken-akademischen Historiographie, und kombiniert analytische mit impressionistischen Ansätzen, wobei der Autor nicht immer ganz stilsicher verfährt («Viele der Staudämme und Kraftwerke sind moralisch und physisch zerschlissen.»). Wichtige Referenz ist das Passagenwerk Walter Benjamins, der immer wieder zitiert wird. Das Resultat ist ein innovatives, einzigartiges Buch, zu dem man immer wieder zurückkehren wird, es funktioniert dank des detaillierten Inhaltsverzeichnisses auch als Nachschlagewerk. Der Historiker lässt die Grenzen seines Faches hinter sich und erschliesst Neuland, mit grossem Engagement und Mut versucht er sich an einer «histoire totale».

Gelegentlich hätte man sich als Leser eine Einordnung der vielen Fakten gewünscht, aber eine abschliessende Synthese zur Geschichte der Sowjetunion ist gerade nicht Ziel dieses Buches, viel eher hat der Autor ein «musée imaginaire» im Sinn. Der Leser wird auf diesem Museumsrundgang reichlich belohnt.







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Zitat & Kommentar

#12 19.08.2024
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Robert Walser : Im Bureau

MT Moritz T.

Im Bureau_p.9

Mangel ist mein Geschick

Kommentar

«Mangel ist mein Geschick»: Die Zeile findet sich in einem frühen Gedicht Robert Walsers, «Im Bureau», 1897/98 verfasst (s. unten). Es ist eines der ersten Gedichte überhaupt, das sich mit der Situation des Büro-Angestellten, des «Kommis», befasst.

Das Gedicht selbst weist aus formaler Sicht Mängel auf, Versschema und Reime sind höchst inkonsequent eingesetzt. Aber der Dichter vermehrt mit diesem Defizit nur unser Interesse am Gedicht. Geschickt, wie er den Mangel einsetzt.

In seiner Arbeitsexistenz erfährt der Kommis allerdings den Mangel als Schicksal, er muss hinnehmen, dass er auf der dunklen Seite lebt. Er setzt seine Bescheidenheit dagegen, die auch sein Wissen ist: Er durchschaut, welches Spiel gespielt wird. Der Mond aber «bleibt die Wunde der Nacht».

Robert Walsers Helden sind häufig «Mängelwesen»; sie phantasieren von (Liebes-)Abenteuern oder verlieren sich in Gedankenspielen. Sie imaginieren herbei, was ihnen fehlt, aber zugleich durchzieht die Wehmut des Wissens die Zeilen, dass eine Realisierung der Träume verwehrt bleibt. Die Helden akzeptieren den Mangel und zelebrieren ihn sogar, häufig mit überspitzt humoristisch-subversiver Note. Das Spielerisch-Leichte im Vordergrund geht einher mit einer scharfen Analyse der (gesellschaftlichen) Positionen im Hintergrund. Das macht den Reiz von vielen Gedichten und Prosastücken Walsers aus. Er schlägt aus dem Mangel seiner Helden grosses poetisches Kapital.

(Mit Dank an Hubert Th.)

 

 

 

 

Im Bureau

 

Der Mond sieht zu uns hinein,

er sieht mich als armen Commis

schmachten unter dem strengen Blick

meines Prinzipals,

ich kratze verlegen am Hals.

 

Nein, dauernden Lebenssonnenschein

hab ich noch nie gekannt, noch nie

so ganz. Mangel ist mein Geschick;

errötend kratzen zu müssen am Hals

unter dem Blick des Prinzipals.

 

Der Mond ist die Wunde der Nacht,

Blutstropfen sind alle Sterne.

Ob ich dem blühenden Glück auch ferne,

ich bin dafür bescheiden gemacht,

der Mond ist die Wunde der Nacht.

 

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