Buch im Fokus #19

29.09.2024
Stilistische Brillanz, aktuelle Themen mit Tiefgang, mitreissend geschrieben: was will man mehr von einem Roman? Der Autor Nathan Hill schildert in «Wellness» den Weg des Paares Elizabeth und Jack von den Glücksmomenten des Kennenlernens zu einer umfassenden midlife crisis Jahrzehnte später. Lesen Sie in «Buch im Fokus» mehr zu diesem vielschichtigen Roman, einem Kandidaten für «The Next Great American Novel».
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Wellness

Autor: Nathan Hill
Verlag: Picador
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2024
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 9781035008360
Einbandart: Softcover
Seitenzahl: 624
Sprache: Englisch
MT Moritz T.

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Inhalt

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Besprechung

«Wellness» ist ein überaus ambitionierter Roman: Er lotet die Abgründe einer Ehe aus, und blickt weit zurück in die Familiengeschichte seiner Figuren. Über viele Seiten schildert er technologisch und psychologisch plausibel, wie Facebook einen User manipuliert. Er zeichnet ein Portrait des zwischen Hipness und Bigotterie schwankenden Chicagoer Vorstadtlebens im frühen 21. Jahrhundert. Er informiert uns – auf wissenschaftlichem Niveau – über psychologische Studien rund um die Placebo-Effekte, die einem nur für sich genommen viel Stoff zum Nachdenken geben. Und das ist längst nicht alles.
Im Mittelpunkt von «Wellness» steht die Geschichte des Paars Elizabeth und Jack, vom märchenhaften, verliebten Beginn als Studenten zum zähen, drögen Familienalltag Jahrzehnte später. Die beiden haben einen Sohn Toby, um den sich Elizabeth exzessiv und mit wissenschaftlichen Methoden kümmert, der aber trotz aller state of the art – Massnahmen nicht nach ihren Vorstellungen gedeihen will; sein Interesse scheint fast ausschliesslich dem Videospiel «Minecraft» zu gelten. Sie versteht viel von Psychologie: sie leitet die Institution «Wellness», die sich der Erforschung und später der Ausnutzung von Placebo-Effekten widmet. Jack hat sich in einer akademischen Nische eingerichtet. Er hatte aus eher kunstfernen Umständen heraus seinen ganz eigenen Photographiestil entwickelt, den er mit der gerade angesagten postmodernen Theorie unangreifbar gemacht hatte. Jetzt aber gerät er – unter einem neuen, an McKinsey orientierten Chief Financial Officer der Universität – massiv unter Druck. Er weist nämlich von allen Dozenten den schwächsten Impact in den social medias aus.

Wie es sich für eine ausgewachsene midlife crisis gehört, bröckelt das Fundament an allen Ecken und Enden. Elizabeth entzieht sich Jack zusehends, sie langweilen die vorhersehbaren Manöver, mit denen er um ihre Aufmerksamkeit und Zuneigung buhlt. Sexuelle Bedürfnisse leben sie bevorzugt getrennt aus, er hat eine Neigung zur Pornographie, sie hat einen Vibrator. Der lange schwelende Konflikt explodiert in einem hervorragend inszenierten, wüsten Krach in ihrem zukünftigen «forever home», einer Eigentumswohnung, deren Fertigstellung aber zunehmend in Frage steht. Beide müssen sich auch den verdrängten Dämonen ihrer Herkunftsfamilien stellen. Es ist eindrücklich, mit welcher Energie der Autor diese Dimension zum Leben seiner Protagonisten hinzufügt und nahtlos mit der Gegenwartsebene verschweisst.
«Wellness» leuchtet viele relevante Aspekte des zeitgenössischen Lebens einer Mittelklassen-Familie aus. Die einzelnen Episoden sind handwerklich brillant gebaut, die Pointen sind souverän und mit exzellentem Timing gesetzt. Die Exkurse, zu so diversen Themen wie der Prärie des Mittleren Westens oder der Verbreitung von Verschwörungstheorien, wirken gut recherchiert und gekonnt aufbereitet. Man lernt viel in diesem Roman.

Zuweilen geht allerdings die Demonstration des Wissens quasi zulasten der Figuren. Nathan Hill nutzt Elizabeth und Jack, um an ihnen exemplarisch gesellschaftliche Trends durchzuexerzieren. Jack ist seinem wearable, das allerlei Körpersignale aufzeichnet, hörig. Elizabeth, die Wissenschaftlerin, folgt stets den neuesten Erkenntnissen, ist Spezialistin für Manipulation und Selbsttäuschung, aber scheitert grandios dabei, ihr Wissen für den eigenen Alltag zu nutzen. Die Figuren mutieren hier eher zu Karikaturen, während der Autor ihnen sonst durchaus Eigenleben und Tiefenschärfe verleiht.

Aber das mindert nur wenig die Attraktivität dieses unbedingt lesenswerten Roman, der ganz zum Schluss, nach vielen dunklen Kapiteln, zu einem vorsichtig optimistischen Ausblick für die Ehe von Elizabeth und Jack findet.

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Zitat & Kommentar

#13 15.09.2024
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Peter Sloterdijk : Zeilen und Tage

MT Moritz T.

Zeilen und Tage_p. 57 (26. Juni 2008, Waldhaus, Sils Maria)

Bei einem Waldspaziergang (immer noch mit Knieproblemen) kommt der respektlose Gedanke, die Nadelbäume, die Fichten vor allem, seien eigentlich strohdumme Gewächse, ja seien in Wahrheit übergeschnappte Gräser, die sich zu hybriden Wiesen zusammenrotten. Diese werden von leichtgläubigen Wanderern für Wälder gehalten.

Kommentar

Peter Sloterdijk in Sils Maria

Nicht alle, die in Silser Höhenluft durch die Lärchenwälder streifen, werden von weltbewegend-erhabenen Gedanken heimgesucht. Dem kaum verkappten Nietzscheaner Peter Sloterdijk würde man das zwar zutrauen, doch es plagen ihn Knie- und andere Probleme. Die Fahrt nach Sils hat sehr lange gedauert; der Rezeptionist ist aber eher stolz auf die Abgelegenheit des Hotels Waldhaus, als dass er Mitgefühl mit dem gebeutelten Reisenden hat, der dann zu allem Überfluss auch noch ungefragt an einen Gemeinschaftstisch platziert wird, an dem die Redebeiträge offenbar nicht das gewohnte Niveau des besonderen Gastes erreichen: Sloterdijk fühlt sich wie an einem «Jahresempfang der lederverarbeitenden Industrie». Zwar bessert sich die Laune zunächst nach dem Rückzug in ein sehr schönes Turmzimmer; aber das 5-Sterne-Hotel hinkt dem «Komfort nach zeitgemässen Massstäben» hinten nach. Sloterdijk vermutet, dass die handzahmen Gäste nicht ganz unschuldig sind am nicht neuen Missstand, allen voran Stammgast Adorno, der seine ansonsten sehr ausgeprägte Kritikfähigkeit offenbar in der «Frankfurter Senke» zurückgelassen hat, wenn er Jahr für Jahr in die Oberengadiner Höhe pilgerte.

Unglückliche Koinzidenz, dass der FC Basel seine Spieler zur selben Zeit im Waldhaus unterbringt — das Hotel ist vollkommen ausgebucht. Der Philosoph kann den «semi-depressiven Proleten» wenig abgewinnen. Sloterdijk, ja seinerseits prominent, scheint jedenfalls weit davon entfernt zu sein, mit den Fussballern Autogramm-Karten tauschen zu wollen. Er versteigt sich gar zu einer wenig freundlichen, und wie hier festgehalten werden muss, unmassgeblichen Meinung über die Qualität des «Basler Fussballs».

Wenig wundert es also, dass er, einmal dem Waldhaus entronnen, sich auch in der schönen Umgebung eher leicht paranoiden Gedanken hingibt. Es spricht sehr für die Spannkraft der Sloterdijkschen Phantasie , in deren Genuss der Tagebuch-Leser immer wieder kommt, dass er in den Lärchenbäumen verkappte, strohdumme und übergeschnappte Gräser erkennt, die sich als Fichten verkleidet haben.

 

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