Autor:
Gerhard Meier
Untertitel: Amrainer Tetralogie
Verlag: Zytglogge
Genre: Belletristik
Erscheinungsjahr: 2008
Weitere bibliographische Angaben
ISBN: 978-3-7296-0773-6
Einbandart: gebunden
Seitenzahl: 600
Sprache: Deutsch
MT
Moritz T.
Bewertungen
Besprechung
In vier schmalen Roman-Bänden, die zwischen 1979 und 1990 publiziert wurden, erkunden die Protagonisten Baur und Bindschädler den Kosmos eines Schweizer Dorfes.
Im ersten Band spazieren die beiden Freunde durch Olten, das Industrieareal und die Stadt. Im Zentrum des Gesprächs aber schon da das Dorf Amrain. Baurs Biographie deckt sich in vielerlei Hinsicht mit derjenigen des Autors Gerhard Meier, und Amrain steht für das oberaargauische Niederbipp, wo Meier aufgewachsen ist und sein Leben verbracht hat.
In Band zwei und drei finden sich die beiden Figuren in Amrain selbst zum Gespräch. Band vier handelt im Wesentlichen vom Besuch Bindschädlers bei Baurs Witwe Katharina, mit der zusammen er sich an Baur erinnert.
Von Baur, seiner Familie, seinem Dorf erfahren wir sehr viel, von Bindschädler wissen wir am Ende recht wenig. Baur berichtet Bindschädler von seinem Wunsch zu schreiben, von seinen Zweifeln, ob er dazu in der Lage oder legitimiert sei. Offenbar hat Bindschädler die Gedanken Baurs zu Papier gebracht, und holt so gewissermassen nach, was Baur versäumt hatte. Mit diesem Kunstgriff kann der Autor Baurs Welt aus einer Innenperspektive (die Wiedergabe langer Monologe Baurs) und einer Aussenperspektive (die gelegentlichen Beobachtungen und Ergänzungen Bindschädlers und von Baurs Frau Katharina) zeigen.
Der Autor betreibt moderaten Aufwand, um die Begegnungen der Freunde einzubetten in Tagesabläufe: Die Zeit vergeht, man isst, ruht sich aus, trinkt Kaffee, spaziert. Zurückgenommen werden die äusseren Umstände im dritten Band «Die Ballade vom Schneien», der von der Nacht berichtet, in der Baur stirbt. Hier kommt diese Erzählung ganz zu sich, konzentrierte, dicht gewobene Prosa.
Die zumeist unspektakulären Lebensläufe der Verwandten Baurs oder der Amrainer Dorfleute werden ausführlich verhandelt. Scheitern, Unglück, Wahnsinn, Krankheiten, Tod werden ohne emotionale Wallungen konstatiert: Sie sind Teil des Lebens. Die Toten haben ein Gewicht wie die Lebenden, ihre Stimmen, ihre Wohnungseinrichtungen, ihre Eigenheiten sind präsent.
Gern denkt Baur, von Alltagsbeobachtungen ausgehend, auch über spirituelle Fragen nach. Leben und Lehren von Christus sind Baurs wichtig, und wir können uns gut vorstellen, dass der sonntägliche Kirchenbesuch ein Fixpunkt im Leben des Ehepaars ist. Aber Baurs persönliche Religiosität ist nicht immer ganz im Einklang mit der kirchlich-orthodoxen Lehre. Wenn Wiederauferstehung oder ewiges Leben in den Blick kommen, dann eher im Sinn vom Kreislauf des Lebens und Metamorphose. «Gott» (oder auch schlicht «es», das «Salz des Lebens») wird in einer merkwürdigen Definitionsreihe durchdekliniert, Baur legt sich schliesslich darauf fest, dass Gott das Licht ist. Die Anwandlung von Geborgenheit beim Hören «des grossen Klanges» aus dem Sternbild der Jagdhunde lässt ebenso auf eine höchst eigenwillige Metaphysik schliessen.
Nie sind Kaspar und Katharina Baur nach Russland gereist, aber Russland ist ein wichtiger Bezugspunkt, ein «Sehnsuchtsland» in allen vier Bänden. Baur, Bindschädler und Katharina Baur sind fasziniert von der Weite der Landschaft, der Mentalität, russischer Geschichte oder von Tolstois «Krieg und Frieden».
Die Bezüge zur Literatur nehmen viel Raum ein, in «Ballade vom Schneien» wird seitenlang aus Büchern von Claude Simon, Proust, Robert Walser und der Bibel vorgelesen. Sie sind essentiell für Baur, genauso wie die Musik oder die Malerei, Chopin beispielsweise, oder Ravel, an zentralen Stellen wird Schostakowitschs 4. Sinfonie abgespielt; immer wieder ist von den Gemälden Caspar David Friedrichs die Rede.
Baurs mild-ironisch gefärbter Blick auf viele disparate Erscheinungen, vom vorbeisegelnden Schmetterling bis zu Napoleon, schafft einen Tiefenraum, der das Dorf zu einem Schauplatz des Welt-Geschehens macht, ja, gemäss Baur ist die Brauerei in Amrain «das Zentrum der Welt». Die Prosa verleugnet dabei keineswegs die provinzielle Herkunft, sie ist zuweilen schwerfällig, etwas sperrig, entwickelt aber einen eigenen Charme.
Baurs Empfindungsfähigkeit geht einher mit einer gewissen Lebensfremdheit, die ihm auch seine Frau attestiert. Damit ist er gewiss auch ein Aussenseiter im geschäftigen Dorf, aber einer, der dort dennoch verwurzelt ist und mit dem uns Gerhard Meier eine neue, reichhaltige Perspektive auf das Dorf-Leben schenkt.
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Im ersten Band spazieren die beiden Freunde durch Olten, das Industrieareal und die Stadt. Im Zentrum des Gesprächs aber schon da das Dorf Amrain. Baurs Biographie deckt sich in vielerlei Hinsicht mit derjenigen des Autors Gerhard Meier, und Amrain steht für das oberaargauische Niederbipp, wo Meier aufgewachsen ist und sein Leben verbracht hat.
In Band zwei und drei finden sich die beiden Figuren in Amrain selbst zum Gespräch. Band vier handelt im Wesentlichen vom Besuch Bindschädlers bei Baurs Witwe Katharina, mit der zusammen er sich an Baur erinnert.
Von Baur, seiner Familie, seinem Dorf erfahren wir sehr viel, von Bindschädler wissen wir am Ende recht wenig. Baur berichtet Bindschädler von seinem Wunsch zu schreiben, von seinen Zweifeln, ob er dazu in der Lage oder legitimiert sei. Offenbar hat Bindschädler die Gedanken Baurs zu Papier gebracht, und holt so gewissermassen nach, was Baur versäumt hatte. Mit diesem Kunstgriff kann der Autor Baurs Welt aus einer Innenperspektive (die Wiedergabe langer Monologe Baurs) und einer Aussenperspektive (die gelegentlichen Beobachtungen und Ergänzungen Bindschädlers und von Baurs Frau Katharina) zeigen.
Der Autor betreibt moderaten Aufwand, um die Begegnungen der Freunde einzubetten in Tagesabläufe: Die Zeit vergeht, man isst, ruht sich aus, trinkt Kaffee, spaziert. Zurückgenommen werden die äusseren Umstände im dritten Band «Die Ballade vom Schneien», der von der Nacht berichtet, in der Baur stirbt. Hier kommt diese Erzählung ganz zu sich, konzentrierte, dicht gewobene Prosa.
Die zumeist unspektakulären Lebensläufe der Verwandten Baurs oder der Amrainer Dorfleute werden ausführlich verhandelt. Scheitern, Unglück, Wahnsinn, Krankheiten, Tod werden ohne emotionale Wallungen konstatiert: Sie sind Teil des Lebens. Die Toten haben ein Gewicht wie die Lebenden, ihre Stimmen, ihre Wohnungseinrichtungen, ihre Eigenheiten sind präsent.
Gern denkt Baur, von Alltagsbeobachtungen ausgehend, auch über spirituelle Fragen nach. Leben und Lehren von Christus sind Baurs wichtig, und wir können uns gut vorstellen, dass der sonntägliche Kirchenbesuch ein Fixpunkt im Leben des Ehepaars ist. Aber Baurs persönliche Religiosität ist nicht immer ganz im Einklang mit der kirchlich-orthodoxen Lehre. Wenn Wiederauferstehung oder ewiges Leben in den Blick kommen, dann eher im Sinn vom Kreislauf des Lebens und Metamorphose. «Gott» (oder auch schlicht «es», das «Salz des Lebens») wird in einer merkwürdigen Definitionsreihe durchdekliniert, Baur legt sich schliesslich darauf fest, dass Gott das Licht ist. Die Anwandlung von Geborgenheit beim Hören «des grossen Klanges» aus dem Sternbild der Jagdhunde lässt ebenso auf eine höchst eigenwillige Metaphysik schliessen.
Nie sind Kaspar und Katharina Baur nach Russland gereist, aber Russland ist ein wichtiger Bezugspunkt, ein «Sehnsuchtsland» in allen vier Bänden. Baur, Bindschädler und Katharina Baur sind fasziniert von der Weite der Landschaft, der Mentalität, russischer Geschichte oder von Tolstois «Krieg und Frieden».
Die Bezüge zur Literatur nehmen viel Raum ein, in «Ballade vom Schneien» wird seitenlang aus Büchern von Claude Simon, Proust, Robert Walser und der Bibel vorgelesen. Sie sind essentiell für Baur, genauso wie die Musik oder die Malerei, Chopin beispielsweise, oder Ravel, an zentralen Stellen wird Schostakowitschs 4. Sinfonie abgespielt; immer wieder ist von den Gemälden Caspar David Friedrichs die Rede.
Baurs mild-ironisch gefärbter Blick auf viele disparate Erscheinungen, vom vorbeisegelnden Schmetterling bis zu Napoleon, schafft einen Tiefenraum, der das Dorf zu einem Schauplatz des Welt-Geschehens macht, ja, gemäss Baur ist die Brauerei in Amrain «das Zentrum der Welt». Die Prosa verleugnet dabei keineswegs die provinzielle Herkunft, sie ist zuweilen schwerfällig, etwas sperrig, entwickelt aber einen eigenen Charme.
Baurs Empfindungsfähigkeit geht einher mit einer gewissen Lebensfremdheit, die ihm auch seine Frau attestiert. Damit ist er gewiss auch ein Aussenseiter im geschäftigen Dorf, aber einer, der dort dennoch verwurzelt ist und mit dem uns Gerhard Meier eine neue, reichhaltige Perspektive auf das Dorf-Leben schenkt.
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